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Weich, tragbar und dabei ganz schön helle

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Weich, tragbar und dabei ganz schön helle

Smarte Textilien | Kaum auf dem Markt, prognostizieren Experten Wearables wie Smartwatches und Fitness-Armbändern schon wieder das Ende. Die Zukunft – auch in der Medizintechnik – liegt in smarten Textilien, in die Sensorik und Stromversorgung integriert sind.

Sabine KollJournalistin in Böblingen

Getrieben durch die ständige Miniaturisierung von Sensoren, Stromversorgung, Mikrocontrollern und Kommunikationstechnologie ist sich das US-Marktforschungsunternehmen Gartner sicher: Smartwatches, also mit Sensoren und Aktuatoren ausgestattete Armbanduhren, sind schon bald wieder veraltet. Der neueste Schrei ist smarte Kleidung. Gerade einmal 60 000 intelligente Textilien wurden 2014 weltweit verkauft, doch laut Gartner soll die Zahl in diesem Jahr auf 1,1 Millionen und 2017 auf 5,3 Millionen in die Höhe schnellen. Smarte Textilien werden damit Teil des Internets der Dinge.
Der überwiegende Teil der smarten Textilien, bei denen die Technologie auf den ersten Blick unsichtbar erscheint, wird dabei sicherlich auf die Fitness-Industrie entfallen. Doch auch in der Medizintechnik werden seit einigen Jahren entsprechende Anwendungsfälle entwickelt. Ein Beispiel dafür ist der Hightech-Therapiehandschuh Tipstim Glove, den der Dorstener Medizintechnikhersteller Bosana Medizintechnik GmbH 2014 für die Rehabilitation von Schlaganfallpatienten auf den Markt gebracht hat: Durch sensible Stimulation der Fingerspitzen werden direkt in den zugeordneten Gehirnarealen, die für die Hand zuständig sind, plastische Prozesse ausgelöst. Dabei kommt ein neu entwickeltes, elektrisch leitendes und für den medizinischen Einsatz geprüftes Textilgewebe zum Einsatz.
Der Prototyp war bereits 2008 in dem vom Bundeswirtschaftsministerium geförderten Projekt „Textile aktuatorische Elektroden auf der Basis von leitfähigen Garnen zur gezielten Stimulation einzelner Muskeln beziehungsweise Muskelgruppen“ im Textilforschungsinstitut Thüringen-Vogtland (TITV) in Greiz entwickelt worden. Partner des TITV waren das Institut für Neuroinformatik der Ruhr-Universität Bochum, die Neurologische Klinik des Berufsgenossenschaftlichen Universitätsklinikums Bergmannsheil in Bochum und die Haynl-Elektronik GmbH aus Schönebeck.
Kooperationen verschiedener Disziplinen sind notwendig
„Smarte Textilien verlangen konstruktive Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen“, sagt Sabine Gimpel, Leiterin Forschungsmarketing am TITV Greiz. Die Forschung könne hier nicht mehr allein und im stillen Kämmerlein stattfinden. Daher sei ein regelmäßiger Austausch auf breiter Ebene wichtig. „Elektronische Textilien sind noch eine sehr junge Disziplin. Da gibt es ein Menge Handlungsbedarf.“
So nennt sie die Automatisierung der Fertigung sowie die Zuverlässigkeit und Standardisierung der elektronischen Systeme im Textil als die größten Herausforderungen. „Gleichzeitig sind dies aber zwingend notwendige Voraussetzungen für die Nutzung von Smart Textiles.“ Beispiele wie der Therapiehandschuh von Bosana zeigen ihrer Meinung nach: „Textile Elektrodenanwendungen und -sensoren sind kein Zukunftsthema mehr, sondern setzen sich aktuell durch.“
Im Vogtland liegt nicht zufällig eine deutsche Keimzelle smarter Textilien: In Plauen, 25 Kilometer südlich von Greiz, wurde 1881 die maschinengestickte Tüllspitze erfunden, heute bekannt als Plauener Spitze. Seitdem sieht sich die sächsische Stadt als Zentrum der deutschen Spitzen- und Stickereiindustrie. Die Textilbranche in Europa verspürt schon lange Gegenwind, vor allem aus dem fernen Osten. Deshalb sieht sie in technischen Textilien eine Möglichkeit, zu neuer Stärke zu kommen. Sachsen hat aus diesem Grund vor ein paar Jahren den Wachstumskern „Highstick“ ins Leben gerufen, in dem verschiedene Stickereiunternehmen aus Plauen mit Textilforschungsinstituten, Ingenieurbüros, Universitäten und kleinen und mittelständischen Unternehmen im Technologiebereich zusammenarbeiten.
Doch warum wird ausgerechnet das jahrhundertealte Produktionsverfahren Sticken zu einem Wegbereiter für smarte Textilien? „Grundsätzlich gibt es ein riesiges Potenzial für gestickte Sensoren. Sie können überall dort zum Einsatz kommen, wo Textilien im Spiel sind, deren Funktionsdichte erhöht werden soll“, sagt Andreas Reinhardt, Geschäftsführer der Modespitze Plauen GmbH.
Im Prinzip ist das Sticken eine Textiltechnik, bei der auf ein Trägermaterial wie etwa Stoff durch das einfache Durchziehen ein Faden aufgebracht wird. „Dies ist simpel, aber wirkungsvoll und vor allem vielfältig – denn Sticken ist die einzige Textiltechnik, mit der man einen Faden oder ein anderes flexibles Funktionsmaterial wirklich in jede Richtung aufbringen kann – eben nicht nur in eine Richtung wie zum Beispiel beim Weben“, erklärt Reinhardt.
Beim Sticken finden Sensoren an beliebigen Stellen Platz
Zusätzlich lasse sich das auch beliebig oft wiederholen: eine Stelle kann mehrfach nacheinander bestickt werden, was beim Weben undenkbar wäre. „Hier liegt auch der riesige Vorteil: Es ist möglich, Stick- oder Ablegepunkte an jede beliebige Stelle des Materials zu setzen. Damit kann das Material bestmöglich ausgenutzt werden. Aber auch die Umsetzung individueller Anforderungen und Layouts stellt keinerlei Problem dar.“
So lassen sich laut Reinhardt zum Beispiel Kupferlitzen versticken, aber auch Konstantan, ein Draht mit einem hohen Widerstand, der die Verformung eines Bauteils messen kann. Der Draht wird durch das Sticken appliziert und damit eine „unwahrscheinliche Funktionsdichte“ erzielt. Reinhardt: „Applizieren auf Textil in dieser Form kann nur Sticken, das ist ein absolutes Alleinstellungsmerkmal.“
„Die Produktionstechnologie ist im Gegensatz zum Weben oder Wirken viel flexibler“, bestätigt auch Jan Zimmermann, Projektmanager Technical Textile beim Textilunternehmen Forster Rohner. So könne man beispielsweise Stickmaschinen innerhalb kurzer Zeit umrüsten, um neue Produkte zu verarbeiten. Zudem sei man bei der Materialauswahl viel flexibler, so der Experte. Auch können leitfähige Flächen, Kontaktpads oder ganze Schaltkreise im Millimeterbereich sauber aufgebracht werden.
Ähnlich wie Modespitze Plauen hat auch das ostschweizer Textilunternehmen Forster Rohner seine Wurzeln in der Stickerei von Mode-Erzeugnissen, genauer gesagt in den St. Galler Spitzen. Und ähnlich wie die Sachsen macht sich auch Forster Rohner seit einigen Jahren einen Namen als Anbieter smarter Textilien: 2009 wurde eine eigene Abteilung für Innovation im Bereich technischer Textilien ins Leben gerufen, die Zimmermann leitet. Er ist kein Textilexperte, sondern hat an der ETH Interdisziplinäre Naturwissenschaften studiert. Hinter diesem Schachzug steckt der Wunsch des Unternehmens, Stickerei-Know-how mit komplett neuen Ideen zu verknüpfen, um den Zugang zu neuen Märkten zu eröffnen.
Zu den ersten Ergebnissen von Zimmermanns Arbeit gehört mit E-Broidery eine Technologie, die LEDs nahtlos in ein Stickdesign einbettet – ohne dass die grundlegenden Eigenschaften von Stoffen wie Drapierbarkeit, Haptik und Waschbeständigkeit beeinflusst werden. Die ersten marktreifen Produkte, die mit der Technologie realisiert wurden, stammen allerdings nicht aus der Medizintechnik, sondern aus der Mode- und Einrichungswelt: eine Corsage sowie mit LEDs versetzte Gardinen. Doch Zimmermann denkt längst weiter: „E-Broidery ist eine Schlüsseltechnologie, um mikroelektronische Bauteile mit Textilien zu verbinden.“ Er sieht Potenzial für die Technik bei integrierten Berührungs- oder anderen Sensoren. Im medizinischen Bereich hält er ihren Einsatz für EKG-Messungen oder in der Lichttherapie denkbar.
„Aktives Licht in Textil zu integrieren, ist eine neue Dimension im Stoffdesign, bedeutet aber auch eine Einschränkung durch technische Rahmenbedingungen, wie eine tragbare Stromquelle“, erklärt Zimmermann. Die Lösung bestand für ihn darin, die Stromleitungen in die Stickerei zu integrieren und durch eine kleine, abnehmbare Batterie zu versorgen.
„Hardware“ und „Software“ müssen kombiniert werden
„Es ist eine große Herausforderung, die richtigen Materialien zu finden, die die entsprechenden technischen Anforderungen erfüllen, um letztlich die starre mechanische Welt der LEDs und Sensoren mit der weichen textilen Welt zu kombinieren“, sagt Zimmermann. Für E-Broidery musste Forster Rohner das Rad aber nicht neu erfinden: Bei der Auswahl der geeigneten Stickgarne griff das Unternehmen auf ein am Markt erhältliches Garn zurück. Die Großstickmaschinen wurden vor Ort entsprechend modifiziert.
Swiss Textiles, der Textilverband der Schweiz, sieht großes Potenzial für Textilien mit sensorischen oder elektrisch leitfähigen Funktionen in der Medizin. Er unterscheidet dabei zwischen der textilintegrierten und der textilbasierten Sensorik. Bei der textilintegrierten Sensorik werden wie im Beispiel E-Broidery elektronische Bauteile aufgestickt oder anderweitig mit dem Textil verbunden. Große Chancen
 für innovative Entwicklungen hat für den Verband die textilbasierte Sensorik. Dabei werden optisch und elektronisch leitfähige Fasern und Beschichtungen als Basis für intelligente Gewebe verwendet.
Der Vorteil von textilen Sensoren besteht nach Darstellung des Verbands in der guten Hautverträglichkeit von textilen Materialien, die elektronische Sensoren nicht bieten können. Allein das Aufbringen konventioneller Messelektroden auf die Haut dauere Stunden und brauche professionelles Personal. In Zukunft werde es möglich sein, durch das Anziehen eines entsprechend ausgerüsteten Kleidungsstücks Gesundheitsdaten über die Kleidung permanent zu erfassen und direkt an den Arzt zu senden. Eine permanente Überwachung werde damit möglich und zahlbar.
Forster Rohner Textile Innovations arbeitet ebenfalls an solchen Sensortextilien, wie sie etwa zur Messung von Hirnströmen (EEK) und Herzfrequenz (EGK) eingesetzt werden. Die weichen, elastischen Sensorkonstruktionen sind ein Schlüsselaspekt für körpernahe, tragbare Lösungen, die präzisere Messergebnisse versprechen.
Gestickte Sensoren erlauben die Überwachung von Wunden
Auch bei der Wundüberwachung leisten gestickte smarte Textilien gute Dienste. Im ZIM-Kooperationsprojekt „Wundüberwachungssystem mit textiler Sensorik“ erforscht das Institut für Textiltechnik der RWTH Aachen textilintegrierte Sensoren für Wundauflagen, die Temperatur und Feuchte messen, um Entzündungsvorgänge frühzeitig zu erkennen. Dabei werden innovative Kombinationsansätze aus textilbasierten Sensoren und medizintauglichen Auswertungsalgorithmen entwickelt. Sie sind die Basis für eine kontinuierliche und den Bedürfnissen von Patienten und medizinischem Fachpersonal entsprechende Wundüberwachung.
Durch die kontinuierliche Überwachung des Wundzustands kann anhand einer funktionalisierten und personalisierten Wundauflage ein zu häufiger Verbandwechsel vermieden werden. Die Integration von textiler Sensorik in Wundauflagen hat nach Darstellung der Forscher den großen Vorteil, dass diese auch mit integrierter Sensorik unverändert weich und geschmeidig bleiben, da keine größeren „Fremdkörper“ – wie Sensoren klassischer Bauart – zusätzlich integriert werden müssen. Zudem erlaube die hohe Integrationstiefe eine sehr wundnahe Erfassung physikalischer Parameter wie Temperatur, Feuchte und Schwellung.
Ein wesentlicher Punkt der Entwicklung war die Anordnung der Sensorfühler auf der Wundauflage, da sie erheblichen Einfluss auf das Ergebnis der Sensorwerte hat. Hierbei waren sowohl Material- als auch technologische Grenzen zu beachten. So konnten zum Beispiel mit der Verlegetechnologie die Drahtfasern nicht näher als 1,5 mm nebeneinander abgelegt werden, da durch den Zick-Zack-Stich zur Fixierung neben den Drahtfasern jeweils noch genügend Platz für die Nadel bleiben muss. Bei der Doppeltsteppstichstickerei konnte dieser Abstand auf 0,5 mm verringert werden, da hier eine Nadelbreite in der Mitte der leitfähigen Fäden ausreichend ist. Dies zeigt: Die Sticktechnologie steht in Abhängigkeit der Sensorgeometrie und umgekehrt. ■
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