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Nur noch nachhaltige Medizinprodukte sind beim NHS gefragt

Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen
Nur nachhaltige Medizinprodukte: Der Weg des NHS

Nur nachhaltige Medizinprodukte: Der Weg des NHS
Marianne Gries ist als Environmental Sustainability Director bei Johnson & Johnson für die Region EMEA zuständig (Bild: Johnson & Johnson)
Das britische Gesundheitssystem soll bis 2045 das weltweit erste sein, das CO2-neutral arbeitet. Entsprechende Vorgaben macht der National Health Service (NHS) den Herstellern von Medizinprodukten – und gilt damit als Vorreiter. Johnson & Johnson ist als Pilotpartner dabei. Marianne Gries, die im Unternehmen für Environmental Sustainability in der EMEA-Region zuständig ist, berichtet, was auf die Branche zukommt. Nicht nur wegen des NHS.

Dr. Birgit Oppermann
birgit.oppermann@konradin.de

Frau Gries, wie wichtig ist das Thema Nachhaltigkeit bisher bei der Beschaffung von Medizinprodukten?

Es wird zunehmend wichtiger. Bisher sind es eher einzelne Krankenhäuser vor allem in Skandinavien, die sehr konkrete Aspekte der Nachhaltigkeit abfragen. Aber der absolute Hotspot einer Entwicklung hin zur Nachhaltigkeit ist zweifellos der britische National Health Service NHS. Dieser hat angekündigt, ab 2030 nur noch Medizinprodukte zu kaufen, wenn deren Hersteller umfangreiche Aktivitäten in Sachen Klimaschutz nachweisen können.

NHS GEsundheit in Großbritannien Symboldbild mit Flagge
Der britische NHS macht ernst mit der Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen (Bild: Ink drop /stock.adobe.com)

Auf welche Aspekte legen die Einkäufer besonderen Wert?

Wir hatten kürzlich eine Anfrage zu einer Ausschreibung in Finnland. Da wurde unter anderem abgefragt, ob sich in den Verpackungen PVC befindet, ob wir bestimmte umweltschädliche, hormonähnliche oder gefährliche Substanzen verwenden, wie es mit der Abwasserbehandlung in unseren Produktionsstätten aussieht. Die Fragen gehen also schon ins Detail. Generell kann man aber sagen, dass es sowohl in Skandinavien als auch beim NHS um die übergeordneten Themen Dekarbonisierung und Dematerialisierung geht und darum, ob ein Hersteller schon Verantwortung übernimmt – in ökologischer Hinsicht, aber auch in sozialer und gesundheitlicher Sicht.

In kleinen Schritten zu nachhaltigen Produkten

Wie weit oben auf der Prioritätenliste stehen solche Anforderungen bei den Ausschreibungen?

Bisher ist Nachhaltigkeit meist ein Aspekt von vielen, der positive bewertet wird und zu einer Gesamtbewertung beiträgt. Wer in solchen Fällen bei der Patientensicherheit und dem klinischen Ergebnis seines Produktes wie auch beim Preis gut dasteht, bleibt im Rennen, auch wenn man bei den Fragen zur Nachhaltigkeit nicht so gut abschneidet. Was der NHS aber für Großbritannien plant, ist Nachhaltigkeit als Ausschlusskriterium. Denn das Ziel ist ja, das britische Gesundheitswesen zum ersten CO2-neutralen Gesundheitswesen der Welt zu machen. Diese Absicht wurde im Jahr 2020 erklärt. Und ab 2030 werden nur noch Produkte von Herstellern eingesetzt, die das Net-Zero-Commitment mindestens erfüllen oder sogar darüber hinausgehen.

Wie kam es zu diesen ehrgeizigen Zielen des NHS?

Der ökologische Fußabdruck des britischen Gesundheitswesens wurde untersucht. Dabei zeigte sich, dass die Zulieferer von Medizinprodukten und Medikamenten einen großen Anteil an den Emissionen haben – und man also auch hier ansetzen muss, um etwas zu ändern. Großbritannien strebt ganz klar eine Vorreiterrolle an, der Beschaffungsbereich des NHS will die Standards schaffen und Ziele festlegen. Und was sich da tut, wird in Amerika, in Skandinavien und auch im Rest von Europa genau beobachtet. Im Prinzip ist das auch richtig: Kohlendioxid kennt keine Ländergrenzen, die Lieferketten sind auch im medizinischen Bereich global – wenn sich etwas verbessern soll, geht das am besten nach einheitlichen Regeln, mit den gleichen Reporting-Vorgaben und Anforderungen.

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Was bedeuten die NHS-Vorgaben konkret für Hersteller von Medizinprodukten?

Wir müssen das Thema Nachhaltigkeit ins Kerngeschäft integrieren. Der NHS lässt uns damit aber auch nicht ganz allein, er sagt ja nicht: Kommt in zehn Jahren wieder, wenn ihr alles erfüllt habt. Vielmehr gibt es eine Roadmap mit Meilensteinen, die in bestimmten Zeitabschnitten erreicht werden sollen. Derzeit entsteht zum Beispiel eine Datenbank, auf die alle Einkäufer des NHS ab April 2023 Zugriff haben werden. Darin sind alle Hersteller erfasst mit Informationen dazu, wie „grün“ sich diese schon aufgestellt haben. Die nächste Stufe wird ein „Carbon Reduction Plan“ sein, der die Fortschritte hinsichtlich des CO2-Fußabdrucks abfragt und auch auf der lokalen Website des Unternehmens veröffentlicht werden muss. Und für 2028 sind Daten zum CO2-Fußabdruck auf Produktebene gefordert. Das ist eine echte Herausforderung – vor allem bei einem großen Portfolio.

Was ändert sich angesichts solcher Vorgaben bei Johnson&Johnson?

Bei Johnson & Johnson sind wir schon lange davon überzeugt, dass ein gesunder Planet die Grundlage für gesunde Menschen ist. Entsprechend setzen wir unsere Nachhaltigkeitsziele und richten danach unser Handeln aus. Bis 2030 wollen wir unsere eigenen Betriebe CO2 neutral machen. Wir investieren in Ökostromanlagen und wollen unsere Betriebe weltweit bis 2025 mit Strom betreiben, der zu 100% aus erneuerbaren Energien stammt. Wir optimieren auch Logistikprozesse. Aber in der Medizintechnik würde ich generell sagen, dass noch viel zu tun ist.

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Welche Ansatzpunkte sehen sie speziell in der Medizintechnik?

Wir betrachten zunächst unsere Bestandsprodukte und schauen, was sich verbessern lässt. Das kann Fragen der Logistik betreffen: Muss man etwas mit dem Flugzeug transportieren oder ginge das auch auf der Schiene? Wir nehmen das Thema Nachhaltigkeit in Schulungen auf, die wie in unserem Fort- und Weiterbildungszentrum in Norderstedt für Gesundheitsfachkräfte und auch für unsere Mitarbeitenden anbieten. Wir nutzen Ökostrom, haben Photovoltaikanlagen und Windräder und werden im Jahr 2023 in Europa das Ziel erreichen, nur noch Strom aus erneuerbaren Energien zu verwenden. Allein das macht bei Produkten, die wir an solchen Standorten selbst herstellen, schon eine Menge aus für den CO2-Fußabdruck.

Und die Medizinprodukte selbst?

Änderungen an einem Medizinprodukt, die eine neue Zertifizierung gemäß MDR erfordern würden, sind nicht so einfach umzusetzen. Daher haben wir uns zunächst mit nachhaltigeren Lösungen für das Bestandsportfolio befasst. Dabei geht es um Recyclingmöglichkeiten der Produkte sowie die Optimierung von Verpackungen der Produkte. Parallel kümmern wir uns auch um die Produktneuentwicklungen, um dort das Thema Nachhaltigkeit stärker von Anfang an in den Anforderungskatalog zu integrieren.

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Lässt sich das allein bewältigen?

Nein, das ist eine komplexe Herausforderung entlang der gesamten Wertschöpfungskette und erfordert eine gute Kollaboration und Kommunikation von allen Beteiligten. Deswegen arbeiten wir eng mit unseren Zulieferern zusammen. Umgekehrt werden wir von unseren Kunden, wie beispielsweise vom NHS, eingebunden. Es muss sich überall etwas ändern. Im vorwettbewerblichen Bereich können Healthcare-Unternehmen aber das gemeinsame Nachhaltigkeitssignal der Branche noch sichtbarer machen.

Stichwort Greenwashing. Wie weisen Sie beispielsweise gegenüber dem NHS nach, dass Johnson & Johnson Verantwortung übernimmt? Und was erwarten Sie von Ihren Zulieferern?

Wenn wir Aussagen machen, belegen wir diese mit belastbaren Zahlen, zum Beispiel über unseren Nachhaltigkeitsbericht Health for Humanity Report oder unser CDP-Reporting. Wir arbeiten im engen Austausch mit unseren Zulieferern, haben auch in diesem Bereich einige Projekt aufgesetzt. Wir schulen unsere Mitarbeitenden und sensibilisieren sie, denn der Vorwurf des Greenwashing schadet der Sache und dem Unternehmen. Auch muss sich jeder Einkäufer, der Nachhaltigkeit in seine Ausschreibung mit einbezieht, im ersten Schritt auf die Antworten der Anbieter verlassen.

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Wie ordnen Sie Ihre Zulieferer beim Thema Nachhaltigkeit ein?

Wir haben verschiedene Prozesse, aber wir selbst können unsere rund 50.000 Zulieferer, deren Informationen wir verwenden, nicht alle einzeln und selbst auditieren. Aber es gibt Bewertungsagenturen, die Unternehmen betrachten und ihnen einen Score oder ein Rating zuordnen. Beispiele dafür sind die Ecovadis Scorecard oder das Carbon Disclosure Project (CDP). Solche Bewertungen zeigen anderen, wo das jeweilige Unternehmen in Sachen Nachhaltigkeit gerade steht. Beispielsweise zieht der NHS die CDP-Bewertungen von Lieferanten in seine Bewertungen mit ein.

Wie schnell lassen sich Anforderungen zur Nachhaltigkeit bei Medizinprodukten umsetzen – geht das bis 2030?

Ich glaube, es wäre besser, sich die Frage in anderer Weise zu stellen. Wir können es uns gar nicht mehr leisten, darüber nachzudenken, was vielleicht geht. Das wird klar, sobald man sich anschaut, was Wissenschaft und Weltklimarat vorgeben, um die derzeitige Klimaentwicklung aufzuhalten. Es geht nicht schnell genug und alle sind aufgefordert, zu schauen, wo im jeweiligen Bereich die größten Hebel sind und wie diese genutzt werden können. Wir müssen alles überdenken, weg von der linearen hin zu einer zirkulären Nutzung kommen. Dabei stehen auch bestehende Geschäftsmodelle auf dem Prüfstand.

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Was zählt bei der Entwicklung nachhaltiger Medizinprodukte in den kommenden Jahren?

Es wächst eine neue Generation von Medizinern und Fachpflegern heran, die Nachhaltigkeit im privaten Umfeld leben und das auch in der Klinik erwarten. Mitarbeitende wie auch Manager und Managerinnen werden in Zukunft schon in der Ausbildung auf das Thema vorbereitet – das ist wichtig, auch wenn wir nicht warten können, bis diese soweit sind, Entscheidungen zu treffen. Wir brauchen jetzt schnell einen Wandel auf Systemebene, getragen von Politik, Industrieverbänden und wissenschaftlichen Gesellschaften. Um das zu erreichen, müssen wir miteinander reden. Wer macht was? Was funktioniert, was nicht? Wo sind Grenzen erreicht, jenseits derer zum Beispiel die Patientensicherheit beeinträchtigt würde? Darüber müssen wir diskutieren und dabei vor allem ehrlich sein, damit wir vorankommen.


Wie der NHS insgesamt grüner werden will

Über seine Aktivitäten in Sachen Nachhaltigkeit berichtet der National Health Service (NHS) unter dem Stichwort Greener NHS auch im Internet. Auf der To-Do-Liste stehen nicht nur Änderungen bei der Beschaffung von Medizinprodukten. Auch Abläufe werden hinterfragt. Ein Beispiel ist die Frage, ob Patienten in der Notaufnahme wirklich vorsorglich eine Kanüle bekommen sollen. Denn eine Studie ergab, dass die meisten dieser Zugänge im Lauf der Behandlung nicht gebraucht wurden, Patienten über Schmerzen in Zusammenhang damit klagten und die Medizinprodukte im Grunde verschwendet wurden. Betrachtet werden beispielsweise auch die Verwendung klimaschädlicher Anästhesiegase und der Einsatz von Solarenergie.

Insgesamt ist geplant, die CO2-Emissionen, die der NHS selbst kontrollieren kann, bis 2040 auf Null herunterzufahren. Für die Reduktion aller anderen CO2-Emissionen ist 2045 als Ziel festgesetzt.
www.england.nhs.uk/greenernhs/

Die einzelnen Anforderungen an die Zulieferer und die Roadmap mit den Meilensteinen sind ebenfalls unter Greener NHS verfügbar:
https://www.england.nhs.uk/greenernhs/get-involved/suppliers/

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