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Maschine an Peripherie: Bitte Granulat trocknen

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Maschine an Peripherie: Bitte Granulat trocknen

Kunststoffverarbeitung | Industrie 4.0 ist in der Kunststoffverarbeitung angekommen. Vor allem Spritzgießmaschinen werden in der smarten Fabrik zur Produktionszentrale. In der Medizintechnik erhöht die Vernetzung die Effizienz und Qualität in der Fertigung, aber auch die Möglichkeit der Rückverfolgbarkeit von Produkten.

Sabine KollJournalistin in Böblingen

Kleiner werdende Fertigungsaufträge, höhere Variantenvielfalt, steigender Automatisierungsgrad sowie Termin- und Kostendruck in der Produktion erfordern den verstärkten Einsatz von IT-Technik und deren Verknüpfung mit der Produktionstechnik“, sagt Heinz Gaub, Geschäftsführer Technik beim Spritzgießmaschinenbauer Arburg. Dies gelte für Kunden aller Branchen. Industrie 4.0 sieht Gaub daher als Chance für Kunststoffverarbeiter, die Produktivität und Flexibilität in der Serienfertigung zu steigen und sich so einen Wettbewerbsvorteil aufzubauen. Er ist überzeugt: „Über kurz oder lang wird wohl keiner ganz um das Thema herum kommen, der langfristig erfolgreich produzieren und im Wettbewerb bestehen will.“
Je nach Branche sieht Paul Kapeller, Produktmanager Inject 4.0 bei Engel, indes Unterschiede in der Priorisierung von Zielen, die mit Industrie 4.0 verbunden werden: „Produktivität, Verfügbarkeit, Qualität und Flexibilität sind nicht für jedes Unternehmen gleich wichtig. Bei Sichtteilen im Automobil und bei Consumer-Electronics-Produkten zum Beispiel sinken die Losgrößen aufgrund der zunehmenden Individualisierung. Hier spielt also die Flexibilität eine wichtige Rolle.“
Die Vernetzung des Maschinenparks und der Standorte verschaffe diesen beiden Branchen die notwendige Transparenz, um die Kapazitäten optimal auszulasten. Auch der Wunsch, die Maschinen von extern, zum Beispiel über mobile Geräte, zu steuern, sei hier bei den Betrieben besonders groß. „Die Medizintechnik hingegen arbeitet sehr stark vernetzt, um eine lückenlose Rückverfolgbarkeit sicherzustellen“, so Kapeller.
Digitale Produktion ermöglicht Traceability bis zum Granulat
Rückverfolgbarkeit (Traceability) für Kunststoffverarbeiter bedeutet: Während der Produktion lassen sich einzelne Teile eindeutig identifizierbar machen – zum Beispiel durch das Aufdrucken eines Data Matrix Codes. Darüber lässt sich später jederzeit feststellen, wann und wo und unter welchen Produktionsbedingungen das Produkt hergestellt, verarbeitet, gelagert und transportiert wurde. Unter Einbeziehung der vorgelagerten Materiallogistik wird außerdem der Weg der eingesetzten Werkstoffe lückenlos dokumentiert und dem Produkt zugeordnet.
Die Industrie-4.0-Treiber in der Kunststoffbranche sind die Spritzgießmaschinenhersteller. Woher kommt diese Leitrolle? „Bei den Spritzgießmaschinen gibt es die Vernetzung zu Leitrechnersystemen bereits seit vielen Jahren, und somit besteht eine gute Ausgangsbasis für Industrie 4.0“, begründet Klaus Geimer, stellvertretender Geschäftsführer bei Boy. „Die Spritzgießtechnik ist ein Kernstück in vielen Produktionsprozessen und kann damit hervorragend als Daten-Integrator, Sammler und -Verwerter herangezogen werden“, sagt Dr. Hans Ulrich Golz, Geschäftsführer von Krauss Maffei und President des Segments Spritzgießtechnik der Krauss Maffei Gruppe.
Kapeller bestätigt diese Einschätzung: „Die Spritzgießmaschine ist meist die zentrale Komponente einer Fertigungszelle – und oft wird die gesamte Fertigungszelle über die Steuerung der Spritzgießmaschine kontrolliert. In der Spritzgießmaschine wird also der komplette Prozess abgebildet.“
Einen Königsweg in die Industrie 4.0 gibt es nicht
Einig sind sich die Maschinenbauer darin, dass es keinen Königweg in die Industrie 4.0 gibt. „Dazu sind die Auslegung und das Verständnis zum Thema Industrie 4.0 zu unterschiedlich“, sagt Andreas Schramm, CTO bei Sumitomo (SHI) Demag. Michael Wittmann, Geschäftsführer Wittmann Kunststoffgeräte, pflichtet ihm bei: „Es bedarf der individuellen Analyse der jeweiligen Gegebenheiten und Anforderungen im Betrieb sowie des kritischen Hinterfragens, von welcher Technologie die Produktion tatsächlich profitieren könnte.“
Aus diesem Grund bieten die meisten Spritzgießmaschinenbauer verschiedene Lösungen für die Umsetzung von Industrie 4.0 an – analog zur Kategorisierung des Fachverbands Kunststoff- und Gummimaschinen im VDMA unterteilt in Smart Machines, Smart Production und Smart Services. Um diese drei Bereiche geht es im Grunde immer – auch wenn die Marketingstrategen der Maschinenbauer dies phantasievoll Electrified 4.0 (Sumitomo (SHI) Demag), Inject 4.0 (Engel), Plastics 4.0 (Krauss Maffei) oder Wittmann 4.0 nennen.
Smart Machine heißt: Die Spritzgießmaschine wird durch die zunehmende Digitalisierung ein Entscheidungsträger und erfordert weniger Interaktion vom Bediener, um die Effizienz und Anlagenverfügbarkeit bei reduziertem Personalaufwand zu steigern. Arburg-Geschäftsführer Gaub spricht hier vom Prinzip der „selbstkonfigurierenden“ Produktionszelle. Wittmann nennt diese „Plug & Produce-Arbeitszellen“, die intelligent sind und sich selbst konfigurieren können.
Im Fall der Wittmann Group besteht eine solche Produktionszelle aus einer Spritzgießmaschine, der Automatisierung und diversen Peripheriegeräten aus der eigenen Produktpalette. Das Herzstück ist dabei die Spritzgießmaschine mit der Unilog B6/B8 Steuerung, die zentral sowohl alle Einstellungen der angeschlossenen Geräte und Automatisierung speichert, als auch die Bedienoberfläche der einzelnen Geräte vollständig wiedergibt. Daneben steht eine offene Schnittstelle zu übergeordneten MES/ERP-Systemen zur Verfügung.
Dieses Konzept der Integration von Automation und Peripherie in die Steuerung der Spritzgießmaschine verfolgen alle Hersteller – mal mehr, mal weniger ausgeprägt, abhängig davon, welche Produkte sie selbst fertigen. Wittmann stellt selbst Materialtrockner, Temperier- und Dosiertechnik sowie Linearroboter her und ist daher in der Lage, alle diese Geräte in die Steuerung der Spritzgießmaschinen zu integrieren. Bei Krauss Maffei hingegen funktioniert die Vernetzung der Spritzgießmaschinen mit den eigenen Linearrobotern problemlos; beim Thema Materialversorgung aber ist man auf Partner angewiesen. Hier arbeitet das Unternehmen etwa mit Motan-Colortronic zusammen.
Der Trocknungsprozess gleicht sich automatisch an
Die Vorteile solcher Vernetzung: Beim Produktionsstart gleicht sich zum Beispiel der Trocknungsprozess automatisiert auf den geplanten Startzeitpunkt der Maschine an. In umgekehrter Weise kann bei Produktionsende ein gezieltes Leerlaufen des Trockentrichters eingeplant werden. Die benötigte Leerlaufzeit wird entsprechend der geplanten Restproduktionsmenge ermittelt und umgesetzt. So wird nicht nur unnötige Energie für Trocknung und Förderung gespart, sondern auch die Rückführung von Material minimiert und Materialverlust vermieden. „Die Steuerung ist sozusagen das Expertensystem mit verschiedenen Assistenzsystemen, Interaktion bei der Bedienung und Programmierung sowie bedienergerechtem, kompetenzbasiertem Mensch-Maschine-Interface“, so Gaub.
Smarte Maschinen können aber noch mehr: Sie verfügen über elektronische Funktionen, um die Qualität des Bauteils durch Feedback-Schleifen während des laufenden Prozesses zu optimieren. So erkennt Adaptive Process Control (APC) von Krauss Maffei Prozessschwankungen, die durch wechselnde Umweltbedingungen oder schwankende Viskosität ausgelöst werden können, und ergreift selbständig Gegenmaßnahmen. Dafür erfasst APC das Verhalten der Rückstromsperre sowie das Fließverhalten und die Viskosität der Schmelze beim Einspritzen. Wie ein Tempomat im Auto passt APC dann den Umschaltpunkt und das Nachdruckprofil an die vorliegende Schmelzeviskosität sowie den aktuellen Fließwiderstand im Werkzeug an.
Ein Beispiel für Integrated Production ist der von Krauss Maffei neu entwickelte Dataxplorer: ein offenes System, das umfassende Prozessdaten in der Spritzgießproduktion sowie bei vor- und nachgeschalteten Prozessen erfasst, analysiert und dokumentiert.
Engel verfügt über drei intelligente Assistenzsysteme, um Schwankungen in den Umgebungsbedingungen oder im Rohmaterial auszugleichen. IQ Weight Control analysiert Schuss für Schuss während des Einspritzens den Druckverlauf über der Schneckenposition und passt sowohl den Umschaltpunkt als auch das Einspritzprofil an die aktuellen Bedingungen an. IQ Clamp Control ermittelt für jeden Schuss einzeln die Werkzeugatmung und passt die Schließkraft automatisch an. Und E-Flomo hält die Temperierverhältnisse im Werkzeug konstant. Engel-Manager Kapeller: „Qualität und Sicherheit haben oberste Priorität beim Thema Industrie 4.0 für die Hersteller von Medizintechnik, was den Einsatz intelligenter Assistenzsysteme vorantreibt. In keiner anderen Branche sind beispielsweise mehr E-Flomo im Einsatz.“
Bei Smart Production stehen flexible Produktionssysteme im Mittelpunkt, die die effiziente Herstellung auch kleiner Losgrößen bis hin zur individuellen Fertigung ermöglichen. „Wir sehen ein großes Potenzial in der Individualisierung von Serienteilen“, sagt Gaub. Mit dem Freeformer hat Arburg als einziger Spritzgießmaschinenbauer seit 2014 eine Maschine für die additive Herstellung im Programm.
Die Individualisierung von spritzgegossenen Produkten mit dem Freeformer wird laut Gaub nicht mehr lange auf sich warten lassen. „Die Personalisierung medizinischer Implantate, die im ersten Schritt auf Spritzgießmaschinen entstehen, wird heute bereits mit additiver Fertigung erzielt.“ Auch die Verlagerung der Produktion von Implantaten von der Fabrik direkt in die Klinik sei schon bald Realität.
Vorausschauende Wartung für höhere Verfügbarkeit
Bei Smart Services geht es heute vorwiegend um die vorausschauende Wartung von Maschinen und Anlagen durch den Maschinenbauer, um deren Verfügbarkeit zu erhöhen. Die Krauss Maffei Gruppe beispielsweise stellt auf der K 2016 ein neues Service-Tool auf Basis der Leitrechner-Schnittstelle Euromap 77 und OPC-UA vor. Sie stellt dem Kunden sämtliche relevante Maschinendaten zentral zur Verfügung und ermöglicht so die einfache Abwicklung aller Service-Prozesse.
Doch trotz aller Möglichkeiten darf Industrie 4.0 für Michael Wittmann auf keinen Fall zum Selbstzweck werden: „Das Ziel eines jeden Betriebs ist es, in Zukunft effizienter zu produzieren. Industrie 4.0 darf die Arbeit auf gar keinen Fall noch komplizierter machen. Unsere gesamte Branche leidet schließlich unter dem Fachkräftemangel, speziell im IT-Bereich. Es würde deshalb wenig Sinn machen, die Anforderungen an das Personal noch weiter in den IT-Bereich zu verschieben, wenn nicht im Gegenzug ein wesentlicher und messbarer Effizienzgewinn realisierbar ist.“ Damit legt Wittmann den Finger in die Wunde.
Nicht alle Kunststoffverarbeiter werden den Weg gehen
„Die schönen neuen Möglichkeiten kosten natürlich auch – zum Teil sehr viel – Geld“, nennt Boy-Manager Geimer einen weiteren wunden Punkt. Er geht davon aus, dass deshalb nicht alle Kunststoffverarbeiter auf den smarten Zug aufspringen werden. Er ist überzeugt: „Auch in Zukunft wird es deshalb sicher kleine, leistungsfähige Unternehmen geben, die sehr wohl ohne umfassende Vernetzung und komplexe Hard- und Software leistungsfähig sind.“ ■
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