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Digitaler Zwilling: Künftig geht der Avatar zum Arzt

Digitalisierung
Künftig geht der Avatar zum Arzt

Ein virtueller Doppelgänger könnte künftig die personalisierte Prognose eines Therapieverlaufs erstellen. Forscher an der EMPA entwickeln bereits heute einen digitalen Zwilling, der maßgeschneiderte Therapien ermöglichen soll. Ziel ist es, diesen Avatar anzeigen zu lassen, wie ein Schmerzpatient oder ein Diabetiker individuell behandelt werden muss.

Dr. Andrea Six
EMPA, Zürich

Der Mensch ist erstaunlich individuell. Bei den Essgewohnheiten oder dem Filmgeschmack scheiden sich die Geister. Beim Kranksein aber, könnte man meinen, sind wir alle gleich. Es gibt die eine Tablette gegen Kopfschmerz für jeden oder die Spritze mit Insulin für alle Diabetiker. Dass die Rechnung so nicht aufgeht, weiß die moderne Medizin seit längerem und hat den Begriff der personalisierten Medizin geprägt. Je nach Alter, Lebensstil oder genetischem Interieur reagiert der Mensch ganz unterschiedlich auf bestimmte Therapien. Und da es sich beim Menschen um ein lebendes System handelt, das seine Gewohnheiten ändert, in die Ferien fährt oder plötzlich einen Schnupfen kriegt, müssen medizinische Behandlungen enorm flexibel sein.

Hier kommt die Idee eines virtuellen Doppelgängers ins Spiel, der in Echtzeit mit den physiologischen Daten des realen Menschen gefüttert wird. Dieser medizinische Avatar soll künftig die Medizin revolutionieren. Empa-Forschende entwickeln aktuell einen digitalen Zwilling, der eine optimale Behandlung von Schmerzpatienten und Diabetikern ermöglichen soll. „Mit einem In-silico-Doppelgänger können wir präziser auf den individuellen Patienten eingehen“, sagt Thijs Defraeye von der Empa-Abteilung Biomimetic Membranes and Textiles in St. Gallen.

Avatar kontrolliert Medikamenten-Dosierung und Therapie-Erfolg

Gefördert wird das kürzlich gestartete Vorhaben von der Novartis-Forschungsstiftung und dem Competence Centre for Materials Science and Technology CCMX in Lausanne. Ziel ist es, Medikamente wie Schmerzmittel und Insulin über intelligente Fasern und Membranen über die Haut in den Körper zu bringen, während Sensoren gleichzeitig die Vitalparameter des Patienten messen. Anhand der Daten trifft der digitale Zwilling Vorhersagen zur individuellen Dosierung und kontrolliert den Therapieerfolg. Nach dem gleichen Prinzip könnte der Doppelgänger in einem nächsten Schritt für die Kontrolle des Heilungsverlaufs von anspruchsvollen Wunden eingesetzt werden. Empa-Forscher haben hierzu bereits einen smarten Verband mit integriertem Sensor entwickelt.

Defraeye und sein Team streben an, für die Entwicklung der digitalen Zwillinge gleich zwei innovative Forschungsfelder verschmelzen zu lassen: die nicht-invasive Medikamentengabe über die Haut mit transdermalen Medikamentenpflastern und die Steuerung und Vorhersage des Therapieverlaufs mittels Echtzeit-Modellierung. „Dies ist insofern besonders elegant, da die Haut als unser größtes Organ eine geeignete und große Fläche bietet, um Substanzen bis zu einer gewissen Molekülgröße schmerzfrei in den Körper zu schleusen“, so Defraeye. Die Dosierung ist bei herkömmlichen therapeutischen Pflastern jedoch kaum steuerbar, da beispielsweise Anteile des Wirkstoffs selbst dann noch aus den Hautschichten in den Körper gelangen, wenn das Pflaster längst entfernt ist.

Aktuelle Systeme, die eine Rückmeldung, etwa durch Messungen des Medikaments im Blut, einsetzen, können lediglich im Nachhinein beurteilen, ob möglicherweise zu hoch oder zu tief dosiert wurde. Vorhersagen über den Medikamentenbedarf kann das konventionelle Pflaster jedoch keine liefern.

Den digitalen Zwilling mit Daten füttern

Ein digitaler Zwilling, der mit Daten von nicht-invasiven, auf der Haut angebrachten Sensorsystemen gefüttert wird, erlaubt hingegen die exakte und personalisierte Dosierung der Wirkstoffe. Die mathematischen Modellierungen des digitalen Doppelgängers berücksichtigen auch die Hauteigenschaften des Patienten. Denn je nachdem, an welcher Körperstelle das Pflaster angebracht wird, oder ob das Medikament bei einem sonnengegerbten Sportler, einer älteren Dame mit papierner Alabasterhaut oder einem zarten Frühchen appliziert wird, verläuft die Wirkstoffaufnahme unterschiedlich.

So lässt sich die exakte Dosis des Medikaments mit einer maßgeschneiderten und zeitabhängigen Ausstoßrate aus dem Pflaster steuern, denn das intelligente System blickt nicht rückwärts, sondern in die Zukunft. „Als zusätzlichen positiven Effekt versprechen wir uns, die Dosierung – etwa von Schmerzmitteln – so weit senken zu können, dass die Patienten gerade optimal versorgt sind“, so der Forscher.

In anderen Forschungsbereichen sind virtuelle Repräsentanten spätestens seit der Appollo-13-Mission der NASA ein Thema. Damals nutzte man „Doppelgänger“ in Simulationen, um die Besatzung des beschädigten Raumschiffs sicher zur Erde zu bringen. Heute existieren digitale Zwillinge etwa für Flugzeugdesign, Fahrzeugbau oder im Gebäudeunterhalt.

Erfahrungen aus der Lebensmitteltechnologie nutzen

„In der Medizin träumt man von kompletten In-silico-Doppelgängern, die vorhersagen, wie ein Mensch altert oder wie sich ein künstliches Gelenk im Körper abnutzt“, sagt Defraeye. Doch die Realität ist noch nicht so weit. Daher sei das System aus intelligenten Pflastern und Echtzeit-Simulationen ein Schritt in einen noch wenig erforschten Bereich mit enormem Potenzial, so der Empa-Forscher. Gleichzeitig komme man mit dem personalisierten „Digital Twin“ für die transdermale Medikamentenabgabe dem menschlichen Avatar ein Stück näher.

Für die Entwicklung des digitalen Zwillings im Gesundheitsbereich kann Defraeye auf erfolgreiche Forschungsergebnisse aufbauen: Im Bereich der Lebensmitteltechnologie entwickelte er bereits digitale Zwillinge verschiedener Früchte innerhalb eines noch laufenden, vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) geförderten Projekts. Um die Kühlkette vom Produzenten bis zum Händler in Echtzeit kontrollieren und künftig auch steuern zu können, stellte der Forscher biophysikalische Zwillinge von Äpfeln, Mangos und anderen Früchten her, die sich in ihren thermischen Eigenschaften exakt wie das natürliche Vorbild verhalten und als Sensor wirken. Der passende „Fruchtspion“ begleitet das echte Obst auf seiner Reise bis zum Supermarkt und meldet Sensordaten an den digitalen Zwilling, der die Kühlung, etwa im Lastwagen, anpasst.

An sensorbestückten Puppen die Hauttemperatur abschätzen

Für den Avatar der transdermalen Therapie werden die Empa-Forscher ein komplexes multiphysikalisches Hautmodell programmieren, das mit den Daten der Hautsensoren gefüttert wird. Als Helfer für die Entwicklung der Sensoren kommen biophysikalische Zwillinge des Menschen, so genannte Manikins, zum Einsatz. Basierend auf den Informationen der sensorbestückten Puppen können physiologische Kennwerte und Reaktionen eines realen Menschen abgeschätzt werden, etwa die Veränderung der Hauttemperatur oder der Schwitzrate.

Die Manikins und ein verknüpftes Computermodell sind an der Empa bereits heute ein etabliertes System zur Simulation menschlicher physiologischer Reaktionen. Das System wird nun zum Aufbau der deutlich komplexeren digitalen menschlichen Doppelgänger genutzt, die durch eine Vielzahl von Variablen bestimmt werden. „Denn der virtuelle Zwilling muss nicht nur auf Veränderungen reagieren, sondern auch die Dosierung von Medikamenten zuverlässig, sicher und individuell vorhersagen können“, sagt Defraeye.

www.empa.ch


Weitere Informationen

Die Empa-Abteilung „Biomimetic Membranes and Textiles“ entwickelt Materialien und Systeme für den Schutz und die Leistungsfähigkeit des menschlichen Körpers. Zu den Kernkompetenzen gehören die Wechselwirkungen zwischen Materialien und der menschlichen Haut.

www.empa.ch 

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