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Kombiprodukte auf dem Regulierer-Radarschirm

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Kombiprodukte auf dem Regulierer-Radarschirm

Zulassung | Kombinationsprodukten, bestehend aus einem Medizinprodukt und einem Arzneimittel, wird ein großes Wachstum prognostiziert. Doch deren Zulassung ist komplex – mit großen Unterschieden zwischen Europa und den USA.

Sabine KollJournalistin in Böblingen

Hier in Europa kennen wir den Begriff des Kombinationsprodukts gar nicht“, stellt Dr. Bassil Akra klar, Director des Clinical Centre of Excellence bei TÜV Süd Product Service, einer Benannten Stelle für die Zulassung von Medizinprodukten. Der Begriff stamme aus den USA beziehungsweise von der Food and Drug Administration (FDA). Sie nennt dies Drug Device Combination. „In Europa hingegen sprechen wir von einem Medizinprodukt mit Arzneimittelanteil – wenn die Hauptwirkung des Produkts nicht auf pharmakologischem, immunologischen oder metabolischem Wege erzielt wird. Die Hauptwirkung muss in dem Fall auf dem physikalischen Effekt des Produkts liegen, wenn es sich weiterhin um ein Medizinprodukt handeln soll.“
Mit dieser Definition wird deutlich, worin die Krux für Hersteller in Europa liegt: Letztlich überprüft der Regulierer, ob die primäre Wirkung eines Kombinationsprodukts auf der Medizinprodukt- oder der Pharma-Seite liegt. Denn davon hängt der Zulassungsprozess ab – der dann entweder über eine Benannte Stelle mit einer für Arzneimittel zuständigen Behörde läuft oder nur über eine Arzneimittelbehörde. In Deutschland ist das zum Beispiel das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). „In Europa sind Arzneimittel- und Medizinproduktegesetz zwei getrennte Welten, die sich aber bei Kombinationsprodukten überlappen. Das macht die Sache kompliziert“, bestätigt Peer Schmidt, Senior Manager CMC QA, Global Quality Assurance beim international tätigen, forschenden Biopharma-Unternehmen Abbvie, das bereits verschiedene Kombinationsprodukte auf den Markt gebracht hat. „Unser Fokus liegt dabei immer auf dem Arzneimittel. Das Medizinprodukt ist für uns ein Vehikel, etwa um eine Arznei besser, bequemer, zuverlässiger und möglichst ohne Schmerzen für den Patienten verabreichen zu können“, so Schmidt.
Er nennt zwei Beispiele aus dem eigenen Unternehmen: Damit Patienten sich einen therapeutischen Antikörper – etwa bei Rheuma oder Morbus Crohn – selbst injizieren können, hat Abbvie einen Autoinjektor, auch Pen genannt, auf den Markt gebracht. Und für die Versorgung von Parkinson-Patienten stellt Abbvie ein Gel zur Verfügung, das seine optimale Wirkkraft entfaltet, indem es über eine Pumpe und eine operativ eingesetzte Sonde direkt in den Dünndarm gelangt. Dabei wird das Gel in einer Plastikkassette geliefert, die an die Pumpe angeschlossen wird. Diese ist wiederum mit der Sonde verbunden und sorgt dafür, dass dem Patienten am Tag kontinuierlich eine geringe Dosis des Gels verabreicht wird, sodass die Konzentration der Arzneimittel im Blut nahezu gleich bleibt.
Entwicklung und Herstellung von Medizinprodukten wie Pen sowie Pumpe/Sonde erfolgen zum Teil inhouse, zum Teil bei Partnern. „Es laufen aber immer alle Fäden bei uns im Haus zusammen“, betont Schmidt. Dies sei wichtig, da die Zusammenführung von Medizinprodukt und Arzneimittel alles andere als trivial sei. Der Entwicklungsprozess bei Abbvie starte zunächst immer mit der Entwicklung des Arzneimittels. Doch beginne man die Entwicklung des Medizinprodukts mit nur geringem zeitlichen Versatz schon kurz danach. Beim erwähnten Pen habe man dadurch die Biokompatibilität zwischen dem therapeutischen Antikörper und dem Werkstoff des Bauteils, in welches das Arzneimittel gefüllt wird, schon frühzeitig sicherstellen können. Auch war der Hersteller in der Lage, den Druck zu betrachten, mit dem das Arzneimittel durch die Nadel kommt. „Dabei gilt es abzuwägen zwischen einer vom Patienten gewünschten kurzen Injektionszeit und dem für die empfindlichen Moleküle optimalen Druck“, erklärt Schmidt.
Veränderte Einschätzungen
Abbvie stellt fest, dass sich die Einschätzungen der Behörden – sowohl in Europa als auch in den USA – hinsichtlich der Beurteilung solcher Kombinationsprodukte in den vergangenen Jahren verändert haben: „Vor zehn Jahren wurde ein solcher Pen zur Selbstinjektion einfach als Teil der Sekundärverpackung gesehen. Heute hingegen sagt man: Wenn der Pen nicht funktioniert, ist der therapeutische Antikörper für den Patienten nicht verfügbar“, erklärt Schmidt. Die Funktionalität des Medizinproduktes gewinnt damit an Stellenwert. Er sieht – vor allem große – Pharmahersteller bei der Entwicklung und Zulassung von Kombinationsprodukten im Vorteil: „Wir sind in der Lage, Ressourcen für die Entwicklung und Herstellung von Medizinprodukten aufzubauen. Für Medizinproduktehersteller ist es nicht so einfach, Arzneimittel herzustellen.“
„Für Hersteller von Medizinprodukten kann es in der Regel immer nur darum gehen, mit entsprechenden Lösungen die Verabreichung bereits auf dem Markt befindlicher Arzneimittel zu vereinfachen“, betont denn auch Akra. Er nennt ein weiteres Beispiel für ein typisches Kombinationsprodukt: Ein Stent ist zunächst ganz klar ein Medizinprodukt, da das Implantat die Aufgabe hat, die Adern des Patienten offen zu halten. Wird er aber mit einem Medikament beschichtet, um dieses gezielt an den richtigen Platz im Körper zu bringen, handelt es sich bei diesem so genannten Drug Eluting Stent (DES) nicht mehr um ein einfaches Medizinprodukt, dessen Zulassung in Europa nur über eine Benannte Stelle läuft. In diesem Fall greift das Konformitätsbewertungsverfahren, wie oben beschrieben, unter Einbeziehung der benannten Behörden oder der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA). „Der beschichtete Stent muss von der Benannten Stelle, die Beschichtung von der zuständigen Arzneimittel-Behörde beurteilt werden“, macht der TÜV-Süd-Experte deutlich.
In den USA hingegen läuft der gesamte Zulassungsprozess über die FDA, welche die Gralshüterin für Medizinprodukte und Arzneimittel gleichzeitig ist. Sie hat bereits 2002 das so genannte Office of Combination Products eingerichtet, das über die Zulassung von Kombinationsprodukten entscheidet. Und selbstverständlich hat die US-Behörde Regularien und Guidelines erlassen, die den Herstellern die Entwicklung vereinfachen sollen. „Der große Vorteil des US-Systems ist für uns, dass wir für Kombinationsprodukte ein einheitliches Qualitätssicherungssystem nutzen können, während wir in Europa zweigleisig fahren müssen“, sagt Abbvie-Manager Schmidt. Er wünscht sich deshalb auch in Europa Strukturen auf Seiten der Regulierungsbehörden, welche die Zulassung von Kombinationsprodukten erleichtern – und damit auch den Markt in Zukunft befeuern könnten.
Doch auch in den USA läuft nicht alles rund bei Kombinationsprodukten, wie der jüngste Preisskandal um den so genannten Epipen zeigt, mit dem sich Patienten bei einer schweren allergischen Reaktion selbst ein Medikament injizieren können. Hersteller Mylan hat den Preis – völlig legal – kurzerhand von 100 auf 600 US-Dollar angehoben und damit für große Empörung auch in der Bevölkerung gesorgt. Möglich war der neue Preis letztlich nur, weil der Hersteller ein Monopol bei diesem Medikament hat. Die FDA hatte anderen Herstellern zunächst erlaubt, eine generische Version herzustellen, diese Genehmigung aber später zurückgezogen.
Immer wieder beklagen Hersteller zudem, dass sich Entscheidungen des Office of Combination Products verzögern – weil innerhalb der Behörde unklar ist, welches Center die Führung bei der Beurteilung eines Kombinationsprodukts übernimmt. Medizintechnikhersteller sind vor allem nicht glücklich darüber, dass Stents und transdermale Pflaster (also solche, die Arzneistoffe freisetzen) in den meisten Fällen als Arzneimittel klassifiziert werden. Gleichzeitig scheitern Biopharma-Unternehmen daran, hinreichende Studien zum Faktor Mensch zu erstellen und Risiken zu evaluieren, die mit dem beabsichtigten Einsatz des Medizinprodukts verbunden sind.
Schnellere Zulassung in Europa
„Die FDA fordert in den meisten Fällen zusätzliche klinische Daten in Form von randomisierten kontrollierten Studien“, bestätigt TÜV-Süd-Direktor Akra. „Deshalb dauert es unterm Strich in den USA länger als in Europa, ein Kombinationsprodukt aus Medizinprodukt mit Arzneimittelanteil auf den Markt zu bringen.“
Allerdings kritisiert Akra auch die in Europa vorgegebenen Zeitschienen für die vorgeschriebenen Konsultationsverfahren zur Abstimmung zwischen Benannten Stellen auf Medizinprodukteseite und designierten Behörden auf Arzneimittelseite: „Das ist ein sehr langwieriger Prozess, der den Markt behindert. Vor allem kleinere Hersteller stehen unter Zeit- und finanziellem Druck und werden von diesem Prozedere abgeschreckt“, so Akra.
Wenn TÜV Süd als Benannte Stelle eine designierte Behörde kontaktiere, habe diese nach gesetzlichen Vorgaben 210 Tage Zeit zu antworten. „Diese Zeitspanne verlängert sich in der Praxis allerdings beliebig, da bei Rückfragen die Uhr angehalten wird. Dabei bleibt für die Hersteller aber intransparent, wann diese Uhr angehalten und wieder gestartet wird. Auch gibt es keinerlei Kontrolle über die Einhaltung der 210-Tage-Frist“, kritisiert Akra. „Wir kommunizieren deshalb an unsere Kunden, dass für derartige Konsultationen gut ein Jahr ins Land gehen kann. Bei späteren Änderungen oder Anpassungen von Kombinationsprodukten wird dies sogar zur Never-Ending-Story, da es dafür bislang gar keine Frist gab.“
Die neue EU-Medizinprodukteverordnung sieht nun vor, dass eine Behörde bei Änderungen oder Anpassungen innerhalb von 60 Tagen auf Konsultationen reagieren muss. „Aber darüber kann ich nur lächeln angesichts der nicht funktionierenden 210-Tage-Regelung bei neuen Produkten. Wie wollen die Behörden denn die 60 Tage einhalten – und wie will man dies kontrollieren?“
Je nach Land verzeichnet Akra sehr große Unterschiede hinsichtlich der Schnelligkeit der Reaktion der designierten Behörden: In den Niederlanden dauert es im Schnitt 70 Tage, bis eine erste Antwort der Behörde kommt; in England dagegen 90 bis 120 Tage. Auch die Kosten für die Zulassung des Arzneimittelanteils variieren stark innerhalb der Europäischen Union: Während in den Niederlanden von 1200 bis zu 12 000 Euro aufgerufen werden, liegt die Preisspanne in England und Schweden zwischen 14 000 und rund 60 000 Euro.
„Insgesamt stellen Kombinationsprodukte die Behörden vor große Herausforderungen, da die notwendigen Ressourcen oft fehlen“, sagt Akra. Aktuell registriert er eine starke Nachfrage von Medizinprodukteherstellern nach Zulassung von Produkten mit Silberbeschichtung mit antimikrobieller Wirkung. Darunter fallen zum Beispiel orthopädische Produkte wie etwa mit Silber beschichte Platten. Kolloidales Silber ist ein Stoff, der bei gesonderter Anwendung als Arzneimittel im Sinne des Artikels 1 der Richtlinie 2001/83/EG gilt. Somit fallen entsprechende Kombinationsprodukte auch unter das Arzneimittelgesetz und müssen analog zu den in der Richtlinie 2001/83/EG Anhang I genannten Verfahren überprüft werden.
Eine neue Klasse medizinischer Apps
Eine noch relativ neue Klasse von Kombinationsprodukten entsteht durch medizinische Apps: „Wenn der Arzt oder der Patient mit der Software die Therapie von Arzneimitteln steuert, dann ist auch dies ein Kombinationsprodukt“, sagt Abbvie-Manager Schmidt. „Insofern werden wir in den kommenden Jahren sicher eine Menge neuer Kombinationsprodukte sehen.“
TÜV Süd rechnet in Zukunft zudem mit Kombinationsprodukten aus dem Bereich Arzneimittel für neuartige Therapien (ATMP). Darunter fallen Produkte für Tissue Engineering sowie Zell- und Gentherapie. Dabei gilt: Enthält ein Produkt lebende Zellen oder Gewebe, so wird diesem Produktbestandteil grundsätzlich die Hauptwirkung zugesprochen. Somit gelten die Endprodukte als solche nach der ATMP-Verordnung in jedem Fall als ein Arzneimittel. Dennoch wird es viele Produkte geben, die eine Medizinproduktkomponente enthalten: TÜV-Süd-Experte Akra nennt als Beispiel Polymervliese. Diese sind bereits für die verschiedensten Anwendungen als Medizinprodukte zertifiziert. Wenn man Zellen vor der Anwendung auf diese Trägermatrix gibt, so handelt es sich um ein Arzneimittel nach Vorgabe der ATMP-Verordnung, es enthält jedoch ein Medizinprodukt. Das bedeutet für die Hersteller, dass im Konformitätsbewertungsverfahren auch eine Benannte Stelle einbezogen werden muss. ■
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