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Simulation beachtet Gewebezüchtung

Tissue Engineering: Mechanisches Verhalten elektrostatisch gesponnener Vliese
Simulation beachtet Gewebezüchtung

Biokompatible und bioresorbierbare Vliese versprechen neue Möglichkeiten der Therapie erkrankter oder geschädigter Gewebe: Eine Software des Fraunhofer IWM stellt die mechanischen Eigenschaften der als Gerüst verwendeten Materialien nach und betrachtet das (fluid-)mechanische Umfeld der Zellen im Tissue Engineering.

Anstatt das geschädigte Gewebe durch ein Implantat aus einem synthetischen Ersatzwerkstoff zu ersetzen, wird beim Tissue Engineering Gewebe in vitro mit körpereigenen Zellen gezüchtet und dann dem Patienten implantiert. Für die Gewebezüchtung wird in der Regel ein poröses Gerüst benötigt, ein so genanntes Scaffold, das mit Zellen des gewünschten Gewebetyps besiedelt wird. Für das Wachstum des Gewebes sind neben der Biokompatibilität des Scaffold-Materials auch dessen Struktur, die Versorgung der Zellen mit Nährstoffen, die Abfuhr von Stoffwechselprodukten und geeignete mechanische Stimuli wesentlich. Letztere sollten für eine erfolgreiche Gewebezüchtung den mechanischen Belastungen des Gewebes in vivo entsprechen.

Auf der Suche nach geeigneten Gerüststrukturen für die Gewebeherstellung stehen elektrostatisch gesponnene Vliesstoffe aus biokompatiblen oder bioresorbierbaren Fasern im Fokus aktueller Forschung. Die grundlegenden Anforderungen an elektrostatisch gesponnene Scaffolds sind ihre Biokompatibilität und die Eignung der Struktur des Vlieses für die Zellproliferation. Sind diese Anforderungen erfüllt, stellen sich Fragen nach den mechanischen Eigenschaften der Vliesstoffe: Sind diese mechanisch robust genug, dass sie den Belastungen im Bioreaktor, während einer Transplantation oder im Körper widerstehen können? Wie werden mechanische Reize von dem Fasernetzwerk auf die Zellen übertragen? Wie reagiert das Netzwerk, wenn es von einem Medium durchströmt wird?
Neben geeigneten Experimenten sind Simulationen ein brauchbares Instrument, um diese Fragen zu untersuchen. Vorgänge in Vliesen können mit einem durch Experimente validierten Modell visualisiert werden. Durch die Variation der Modellparameter lässt sich der Einfluss unterschiedlicher Scaffoldstrukturen oder Umgebungsparameter auf dem Rechner abschätzten, so dass aufwändige zellbiologische Experimente gezielter geplant werden können.
Die mechanischen Eigenschaften eines Vlieses ergeben sich aus den Eigenschaften der Einzelfaser – etwa des E-Moduls und der Zugfestigkeit der Faser – und den Eigenschaften des Vlieses, wie den Wechselwirkungen zwischen Fasern und deren Orientierungsverteilung. Diese Eigenschaften gehen als Modellparameter in das Vliesmodell ein und müssen vorab experimentell bestimmt werden. Die makroskopischen Eigenschaften eines Vlieses lassen sich meist mit noch relativ geringem Aufwand bestimmen: Die Orientierungsverteilung von Fasern kann etwa durch Bildanalyse von elektronenmikroskopischen Aufnahmen der Vliese ermittelt werden. Das Messen des E-Moduls und der Zugfestigkeit einer einzelnen Faser ist dagegen eine Herausforderung: Elektrostatisch gesponnene Fasern können Durchmesser von unter 100 nm erreichen. Sie sind mit dem bloßen Auge nicht mehr sichtbar und dementsprechend schwierig zu handhaben. Eine Prüfung der mechanischen Eigenschaften mit einer konventionellen Prüfmaschine ist daher problematisch. Mit Hilfe der Kollegen des Fraunhofer IWM in Halle wurden zur Prüfung von Einzelfasern sogenannte Mikro-Elektro-Mechanische-Systeme entwickelt: Auf einem Siliziumchip mit Kantenlänge 10 mm wurden dazu bis zu 60 miniaturisierte Prüfmaschinen freigeätzt, mit der sehr filigrane Strukturen getestet werden können.
Zur Modellierung der mechanischen Eigenschaften der Vliese wurden einzelne Fasern durch ein Feder-Perlen-Modell beschrieben, das in ähnlicher Form im Molecular Modelling von Polymerketten eingesetzt wird. Ein Vorteil dieses Feder-Perlen-Modells ist, dass Strukturänderungen eines Vlieses während der mechanischen Belastungen durch das Abgleiten der Fasern einfach beschrieben werden können. Der E-Modul der Faser wird durch die Federkonstante beschrieben, der Durchmesser der Fasern und die Wechselwirkung zwischen Fasern werden durch Wechselwirkungspotenziale zwischen den Perlen dargestellt. Ein numerischer Vliesgenerator legt Einzelfasern so übereinander, dass sich ein Vlies mit der gewünschten Orientierungsverteilung ergibt. Die Modellparameter, wie die Federkonstante der Federn, die Wechselwirkungspotenziale und die Orientierungsverteilung der Fasern im Vlies, werden aus experimentellen Ergebnissen abgeleitet. Mit dem parametrisierten Modell kann dann ein Zugversuch simuliert werden. Hierzu wird mit dem Vliesgenerator ein rechteckiges Vlies mit definierter Orientierungsverteilung erzeugt, dessen zwei Enden eingespannt werden, das heißt die relative Position der Perlen in diesen Bereichen wird festgehalten. Wird der Abstand der eingespannten Bereiche erhöht, kann die Kraft ermittelt werden, die sich für diese Dehnung einstellt. Rechnerisch lässt sich so eine Kraft-Dehnungs-Kurve ermitteln.
Bevor das Modell allerdings einsatzbereit ist, muss geprüft werden, ob es für die gewünschten Anwendungen experimentelle Ergebnisse auch korrekt abbildet. Für die Beschreibung der Vliese im elastischen Bereich der Fasern wurden Zugversuche an Vliesen mit unterschiedlichen Orientierungsverteilungen der Fasern simuliert und mit mechanischen Experimenten verglichen. Zieht man an einem Vlies in der Vorzugsrichtung der Fasern, wirkt es umso steifer, je höher der Orientierungsgrad der Fasern im Vlies ist: In einem hochorientierten Vlies beteiligen sich mehr Fasern an dem Zugversuch, die Kraft verteilt sich somit auf mehr Fasern und das Vlies hat entlang dieser Orientierung eine höhere Steifigkeit. Experimentell lässt sich ein charakteristischer Verlauf der Steifigkeit als Funktion der Breite der Orientierungsverteilung des Vlieses mes-sen, und dieser Verlauf konnte durch das Modell gut wiedergegeben werden.
Die Simulation der Mechanik von Vliesen wird dann zu einem sinnvollen Instrument, wenn das mechanische Verhalten der Vliese für deren Anwendung wichtig ist. Sollen röhrenförmige elektrostatisch gesponnene Vliese beispielsweise als Material für künstliche Blutgefäße eingesetzt werden, ist die korrekte Verformungsantwort der Gefäßwand auf den pulsierenden Blutdruck wesentlich für ein funktionierendes Implantat oder Transplantat. Wird bei der Gewebezüchtung ein Vlies im Bioreaktor mit einem Medium durchströmt, kann die Wechselwirkung zwischen Flüssigkeit und Vlies beschrieben werden, die durch den Strömungswiderstand der Fasern entsteht. Mit dem bestehenden Modell ließe sich der Einfluss von strömenden Medien auf die Vliesstruktur durch eine Kraft beschreiben, die durch die Strömung auf alle Perlen wirkt. Prinzipiell ist es auch denkbar, die lokalen mechanischen Wechselwirkungen zwischen Zellen und Fasern zu beschreiben, wenn das Vlies einer äußeren Belastung ausgesetzt wird. Derartige Simulationen könnten künftig dazu beitragen, mechanische Reize und Struktur der Vliese für das Zellwachstum zu optimieren. Die Herausforderungen dieser Untersuchungen werden aber weniger in der Simulation der Mechanik des Vlieses, sondern in einer korrekten Beschreibung der Mechanik der Zelle, der Wechselwirkung zwischen Zelle und Faser und der Wirkung mechanischer Reize auf das Zellverhalten liegen.
Dr. Raimund Jaeger Fraunhofer-Institut für Werkstoffmechanik, Biomedizinische Materialien & Implantate, Freiburg
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