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Labyrinth aufs Herz

Bioresorbierbare Implantate: Stabil bis zum vollständigen Verschwinden
Labyrinth aufs Herz

Biologisches Material ist nicht stabil genug, um abgestorbene Zellen an jeder Stelle des Herzens zu ersetzen. „Versuchen wir es mit Metall“, sagten sich Herzchirurgen aus Hannover. Resorbierbare Teile aus Magnesium entwickeln sie heute zusammen mit Werkstoffexperten der Uni.

Am Prüfstand pumpt sich eine Membran mit aufgenähtem Metallgeflecht im Sekundentakt auf und ab, auf und ab, Stunde um Stunde. Was hier im Unterwassertechnikum des Instituts für Werkstoffkunde der Leibniz Universität Hannover getestet wird, soll eines Tages Menschen zugutekommen, deren Herzwand nach einem Herzinfarkt nicht mehr ordentlich pumpen kann.

Das Metallgeflecht auf dem Prüfstand ist aus einer Magnesium-Legierung aufgebaut und zählt zu den bioresorbierbaren Implantaten. Diese lösen sich im Körper auf, sobald sie ihre Aufgabe erfüllt haben. Und genau diese Eigenschaft machte die Geflechte für eine Gruppe von Herzchirurgen aus Hannover interessant.
Sie hatten eine Methode entwickelt, eine defekte Herzwand nach einem Infarkt zu reparieren: Abgestorbene Herzmuskelzellen, die die Pumpleistung des Herzens herabsetzten, haben die Chirurgen entfernt und stattdessen eine biologische Matrix aus Dünndarm- oder Magenwand aufgenäht. Das funktionierte überraschend gut. In das biologische „Patchmaterial“ wanderten nach kurzer Zeit Herzmuskelzellen hinein, so dass die Aussicht bestand, dass das neue Herzwandstück die Pumpfunktion wieder unterstützt.
Das große Aber: Unser Herz ist nicht symmetrisch. Links herrscht ein sehr viel größerer Druck als rechts – so viel größer, dass die Dünndarm- oder Magenwand, würde man sie links aufnähen, ausleiern oder sogar reißen könnte, wenn sich der Herzmuskel anspannt.
„Was kann man machen?“, fragte sich das Team um Klinikleiter Professor Axel Haverich. Gesucht wurde etwas, „das man über dem Patchmaterial befestigen kann, und das nach einer Weile nicht mehr da ist“. So formuliert es Tobias Schilling, promovierter Herzchirurg und Geschäftsführer der Herz-, Thorax-, Transplantations- und Gefäßchirurgie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), etwas salopp.
Am Institut für Werkstoffkunde (IW) fanden die Mediziner die richtigen Ansprechpartner, und ihre Fragestellung wurde als eigenes Projekt in einen laufenden Sonderforschungsbereich integriert. In den Projekten dieses Sonderforschungsbereichs 599 geht es um bioresorbierbare und permanente Implantate aus metallischen und keramischen Werkstoffen. Das IW ist an diesem SFB mit den Institutsbereichen „Unterwassertechnikum“ und „Biomedizintechnik und Leichtbau“ beteiligt.
Am IW wurden zunächst unterschiedliche Magnesiumlegierungen entwickelt. Von der Legierung hängt schließlich ab, in welchem Tempo sich das Geflecht später, direkt auf dem Herzen, wieder auflöst. Zu Blech verarbeitet werden die Legierungen mit der Strangpresse. Auf das Walzen wurde verzichtet, da es Verunreinigungen ins Blech hätte bringen können.
Aus den dünnen Blechen Geflechte werden zu lassen, ist die Aufgabe von Christian Biskup. Der 32-jährige Ingenieur arbeitet seit elf Jahren in Projekten aus dem Medizintechnikbereich und ist im SFB zusammen mit Schilling für die Weiterentwicklung der Metallgeflechte verantwortlich.
Für die Ersatzteile für das menschliche Herz wurden radiale Formen gebraucht, die zum Teil aussehen wie ein kleines Labyrinth, und die sich leicht in sich hin und her bewegen lassen. Sie müssen auf dem pulsierenden Herzen stabil und doch elastisch sein.
Fräsen lassen sich so feine Strukturen nur schlecht, weil sich das Material schnell verbiegt. Daher kommt der Wasserstrahl zum Einsatz, der mit einer Schnittfugenbreite von 0,6 mm die feinen Strukturen generiert.
Mit der Wahl der Fertigungstechnik waren aber längst nicht alle Fragen geklärt. Welche Form eignet sich am besten? Welche Legierung erfüllt ihre Aufgabe am besten? Und dann muss das Geflecht ja auch noch auf die unterschiedlich gekrümmten Herzwandbereiche passen.
Welche der möglichen Lösungen am geeignetsten ist, wird nach allen Regeln der Ingenieurskunst getestet. Dazu hat Biskup einen Prüfstand entwickelt, der die grundlegende Belastung am Herzen nachempfinden soll. Das Geflecht ist dort auf einer Membran aufgenäht, deren Durchmesser variiert werden kann. Diese Membran „schlägt“ wie ein Herz und wird von gepufferter Kochsalzlösung umspült.
„Wir können hier wie im Zeitraffer sehen, wie sich das Geflecht im Laufe der Zeit zersetzt“, erklärt Biskup. Der Favorit ist zurzeit ein Geflecht aus der Legierung LA63 – das heißt, Magnesium mit einem Anteil von 6 % Lithium und 3 % Aluminium – das mit einer Beschichtung aus Magnesiumfluorid umgeben ist. Sie verzögert die Korrosion anfangs.
„Eine große Sorge war“, gibt Biskup zu, „was passiert, wenn sich das Geflecht auflöst.“ Teile hätten sich ablösen und das umliegende Gewebe verletzen können. Diese Bedenken konnten die Mediziner aber in Tierversuchen weitgehend zerstreuen. Dort zeigte sich, dass sich in kürzester Zeit Bindegewebe um das implantierte Geflecht bildet und es so quasi einkapselt.
„Die technische und biologische Machbarkeit dieser Idee ist heute also bereits erwiesen“, fasst Schilling zusammen. In der nächsten Förderperiode sollen ausstehende Fragen geklärt und die klinische Studie vorbereitet werden, die ab 2014 starten soll. Wenn alles gut geht, könnten Patienten ab 2018 mit dieser Versorgung rechnen.
Dr. Birgit Oppermann birgit.oppermann@konradin.de
Weitere Informationen www.iw.uni-hannover.de www.mhh-hno.de/sfb599/ www.pzh-hannover.de Mehr aus dem SFB 599 (Keramik fürs Knie) lesen Sie in dieser Ausgabe ab Seite 60.

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