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Technik, die unter die Haut geht

Visualisierung: Hochgeschwindigkeit-Doppler-Lösung revolutioniert die Verbrennungsdiagnose
Technik, die unter die Haut geht

Technische Grundlage für eine neue Verbrennungsdiagnose ist das Prinzip der berührungslosen Durchblutungs-Visualisierung unter Nutzung des Doppler-Effekts. Die beiden Schweizer Unternehmen Aïmago und Grossenbacher setzen dieses Prinzip in ein zugelassenes Medizingerät um.

„Es gibt kaum etwas Schmerzhafteres als eine großflächige Hautverbrennung“, sagt Wassim Raffoul, Chefarzt am Universitätsspital Lausanne CHUV, „und eine frühe klinische Beurteilung von Brandwunden ist oft schwierig.“ Der Patient muss deshalb regelmäßig mit der schmerzhaften Wunde warten, bis eine klare Diagnose zum Grad der Verbrennung vorliegt und die richtige Therapie eingeleitet werden kann. Die Beurteilung kann mit einer Messung der Gewebedurchblutung verbessert werden.

Was durchblutet ist, lebt; was auf Dauer vom Blutkreislauf abgetrennt ist, stirbt. Bis zur Jahrtausendwende blieb einem Arzt nichts anderes übrig, als zu warten, bis sich eine Wunde stabilisierte, um die Hautdurchblutung anschließend per Abtasten zu bestimmen. Dann tauchten die berührungslosen optischen Scanner auf. Die Geräte machten sich den sogenannten Doppler-Effekt zunutze. Er besagt, dass eine Quelle für den Beobachter die Frequenz ändert, je nachdem, ob sie näher kommt oder sich entfernt.
Dieser Effekt kann auch in Geräten zur berührungslosen Visualisierung der Durchblutung genutzt werden: Ein Lichtimpuls dringt in die Haut ein, das zurückstrahlende Licht wird gemessen, und wenn sich ein Doppler-Effekt einstellt, weiß der Mediziner, dass sich rote Blutkörperchen bewegen, dass das Gefäßkapillar durchblutet ist.
Bei einem optischen Durchblutungsscanner dringt ein Laserstrahl bis zu 2 mm in die Haut ein und wird von den roten Blutkörperchen gestreut. Das zurückstrahlende Licht wird detektiert, und durch den Doppler-Effekt lässt sich bestimmen, ob und wie sich die Blutkörperchen bewegen.
Im Klinikalltag konnten sich diese Geräte der ersten Generation allerdings nicht durchsetzen. Der Grund: Allein der Scanvorgang dauert mehrere Minuten. In dieser Zeit atmet der Patient, sein Herz schlägt, und diese Bewegungen verfälschen die Messergebnisse.
„Um ein brauchbares Gerät für den Klinikalltag zu haben, braucht es viel schnellere Bildgebung“, erklärt Wassim Raffoul. Das Laboratoire d‘Optique Biomedicale (LOB) von Prof. Theo Lasser an der EPFL Lausanne machte deshalb die ersten Versuche mit einer Vollbildkamera, die in der Lage ist, von einem bestimmten Hautareal die Durchblutung gleichzeitig, das heißt, ohne Scanning zu messen. Das Ziel war ehrgeizig formuliert, aber die Verbindung von optoelektronischem Grundlagenwissen und medizinischer Anwendung ist eine Spezialität von Lassers Labor. 2005 wurde das erste Patent hinterlegt. Im Jahr 2008 wurde in Lausanne das Startup-Unternehmen Aïmago SA gegründet, welches die Technologie mit Unterstützung der KTI (Kommission für Technologie und Innovation) und in Zusammenarbeit mit dem LOB weiter optimierte.
Heute werden mit Hochleistungs-Elektronik 20 000 Bilder/s aufgenommen und ausgewertet, die Durchblutung wird 12 Mal pro Sekunde bei 250 000 Bildpunkten gerechnet und in Echtzeit dargestellt. Es resultierte ein erstes Produkt: Das „EasyLDI“ – LDI steht für Laser Doppler Imaging − war geboren. Im Jahr 2011 wurde das Projekt mit dem KTI Medtech Award ausgezeichnet.
Schon die ersten klinischen Resultate belegten, dass die Innovation sowohl in der plastischen Chirurgie als auch in der Wundheilung, bei Diabetes, in der Rheumatologie sowie in der Neurochirurgie objektivere Diagnosen und damit wirksamere Behandlungen möglich macht. So konnte nach einer Hautlappen-Transplantation bisher nur klinisch beurteilt werden, ob die Durchblutung genügend ist, was regelmäßig zu Komplikationen führt. Schlechte Durchblutung führt zum Absterben von Hautteilen oder Infektionen, welche in einem zweiten Operationsgang nochmals ersetzt werden müssen. Mit dem Gerät von Aïmago kann der Chirurg direkt nach der Transplantation noch im OP erkennen, welche Hautteile durchblutet werden und bei nicht durchbluteten Stellen korrigierend eingreifen.
Nachdem Unternehmensgründung und Finanzierung geklärt waren, machte man sich auf die Suche nach einem Produktionspartner, der Prototypen und erste Serienmodelle liefern sollte. Ein Kriterium war hier unter anderem die Zertifizierung nach ISO 13485, um den Ansprüchen an Qualität, Dokumentation und Rückverfolgbarkeit für Medizinprodukte zu entsprechen. Wichtig für die Wahl waren Erfahrungen in der Erstellung von Prototypen und Begleitung bei der Industrialisierung, speziell für die Medizintechnik. Hier stieß man schnell auf die Grossenbacher Systeme AG. Das Unternehmen aus St. Gallen beschäftigt rund 150 Mitarbeiter und ist spezialisiert auf die Produktion anspruchsvoller Qualitätselektronik. Es liefert das Herzstück der Hochleistungs-Elektronik, einen hochperformanten FPGA „Virtex 6“ mit mehr als 1200 Kontaktpunkten bei einer Größe von 35 x 35 mm und einem Stückpreis von fast 2000 US-$.
Durch das selbst entwickelte Datenverwaltungs- und Prüfsystem wird die Rückverfolgbarkeit aller Teile inklusive mechanischer Komponenten sichergestellt und unter anderem der Prüfprozess dokumentiert. „Unser System führt den Prüfling durch den definierten Prozess und es schließt aus, dass Prüfschritte übersprungen oder modifiziert werden können“, bestätigt Nicola Aiezza, Leiter Techcenter der Grossenbacher Systeme. Des weiteren werden sämtliche Prüfprotokolle archiviert. Das System erstreckt sich aber nicht nur über den Prüfprozess, sondern über den kompletten Produktionsablauf und beginnt bereits beim Rüsten des Materials für einen Medizinalauftrag. Jedes Gerät und jede Teilkomponente bekommt eine eindeutige Identifikationsnummer. Diese werden über den ganzen Produktionsprozess den Chargen- und Artikelnummern der verwendeten elektronischen Komponenten zugewiesen, genau wie die Kennung der verwendeten Maschinen und involvierten Mitarbeiter, inklusive Datum und Zeitstempel.
Heute besitzen bereits mehrere Universitätskrankenhäuser eine Durchblutungskamera von Aïmago. Klinische Studien wurden durchgeführt und zeigen, dass beispielsweise bei Verbrennungen das Heilungspotenzial bereits kurz nach dem Unfall beurteilt werden kann – sogar noch früher als bei den bisherigen Geräten mit Scanning-Ansatz. „Früher dauerte es Tage, bis man bei einem Verbrennungspatienten erkannte, wo die Haut noch durchblutet ist“, sagt Michael Friedrich, CEO von Aïmago, „mit unserer Technologie geht das in Minuten.“
  • Irene Grill Grossenbacher Systeme, St. Gallen
  • Marc André Aïmago, Lausanne
Weitere Informationen Zum Anbieter von Qualitätselektronik: http://eems.gesys.ch Zum Hersteller der Durchblutungskamera: www.aimago.com

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