Startseite » Technik » Fertigung »

Es wäre gut, wenn sich mehr Ingenieure in den OP trauen

Fertigung
Es wäre gut, wenn sich mehr Ingenieure in den OP trauen

Es wäre gut, wenn sich mehr Ingenieure in den OP trauen
Prof. Jan Stallkamp leitet die Projektgruppe für Automatisierung in der Medizin und Biotechnologie (PAMB) in Mannheim Bild: PAMB
Automatisierung im Interventionsraum | Seit fünf Jahren arbeiten Ingenieure an der Mannheimer PAMB an Automatisierungslösungen, die Ärzte für Diagnostik und Therapie einsetzen können. Warum dafür Fachwissen aus dem Maschinenbau höchst erwünscht ist, erläutert Projektgruppenleiter Prof. Jan Stallkamp.

Herr Professor Stallkamp, Sie und Ihre Mitarbeiter forschen an der Schnittstelle von Medizin, Biotechnologie und Ingenieurwissenschaften. Wie kommt die Automatisierung hier voran?
Sie kommt voran, weil das Verständnis dafür wächst, welche Anforderungen es im klinischen Bereich gibt. Mit den Medizinern hier in Mannheim waren wir von Anfang an in engem Kontakt und wurden mit offenen Armen empfangen – anfangs sicher auch belächelt wegen unseres maschinenbaulichen Hintergrunds. Aber wir haben hier zwischen 60 und 70 Professoren als mögliche Ansprechpartner, und bisher haben wir in jedem Fachgebiet, mit dem wir in Kontakt getreten sind, Bereiche ausmachen können, in denen unser Automatisierungswissen nützlich sein kann.
Was sind Ihre Hauptarbeitsgebiete?
Grob gesagt geht es um zwei Kernbereiche. Der eine ist die Automatisierung im Laborbereich, sei es in der Forschung oder in Unternehmen. Der zweite sind Anwendungen im Interventionsumfeld.
Welche Art von Projekten bearbeiten Sie zum Beispiel im klinischen Umfeld?
Ein sehr großes Projekt – Mannheim Molecular Intervention Environment oder kurz M²Olie – betrifft die Untersuchung und Behandlung von Tumoren. In diesem Projekt arbeiten wir mit industriellen und klinischen Partnern und einigen Forschungseinrichtungen zusammen, es wird vom Bundesforschungsministerium gefördert und ist auf viele Jahre angelegt. Die Vision ist eine Lösung, mit der sich ein Tumor mit Hilfe von Robotern gezielt untersuchen und schließlich auch therapieren lässt.
Wie muss man sich das im Einzelnen vorstellen?
Um eine Gewebeprobe zu nehmen, wird heute schon Bildgebung eingesetzt. Bis der Arzt mit der Biopsienadel aber genau die relevante Stelle im Gewebe erreicht, vergeht viel Zeit. Wir sind inzwischen soweit, dass wir einen Roboter die Nadel positionieren lassen können, der sie in fünf Minuten zum Zielort im Gewebe führt. Dazu tauschen ein roboterisiertes Bildgebungssystem, Artis Zeego von Siemens, und ein Kuka-Roboter Daten aus. Für die Zukunft ist vorgesehen, auch Analyse und Therapie in das System einzubinden und ebenfalls zu automatisieren.
Was sind die größten Herausforderungen für die Automatisierung im klinischen Umfeld?
Im klinischen Umfeld sind die entscheidenden Punkte, dass Effizienz und Qualität gesteigert werden – wenn also Eingriffe schneller und besser ausgeführt werden können, ist das von Vorteil und steigert auch die Geräteauslastung. Um das zu erreichen, können wir Erfahrungen und Technologien aus der industriellen Umgebung nutzen, ohne jedoch die Konzepte direkt zu übertragen.
Warum sind Änderungen gegenüber den industriellen Konzepten erforderlich?
Der Mensch, in diesem Fall der Patient, braucht zwischendurch auch mal eine Pause, und das muss dem Effizienzgedanken natürlich Grenzen setzen. Abgesehen davon sind die meisten Krankenhäuser in Zeiten geplant worden, als in streng getrennten Abteilungen gedacht wurde. Operationssäle, Pathologie und klinische Chemie liegen nicht selten an entgegengesetzten Enden des Gebäudes. Auch das beeinflusst die Überlegungen zu Effizienz und Automatisierung und ist nicht kurzfristig zu ändern. Wichtig ist darüber hinaus, die Prozesse zu betrachten, von der Klinikleitung bis in den Operationssaal, und sie aufeinander abzustimmen.
Wie wirken sich die Ideen, die als Industrie 4.0 diskutiert werden, auf die Arbeit in Ihrem Segment aus?
Mancher spricht schon von der Klinik 4.0, und die wird sicherlich von einer stärkeren Vernetzung und Digitalisierung geprägt sein. Denn nur wenn wir die Ströme an Informationen bündeln, die im Krankenhaus fließen, können wir die gewünschte Effizienz erreichen. Das schließt die Verbindung verschiedenster Medizingeräte ein, und ich denke, das Projekt OR-Net ist auf dem richtigen Weg. Unserer Ansicht nach muss das Ziel, die Geräte in Zukunft zu vernetzen, sogar noch viel konsequenter verfolgt werden.
Aus welchen Bereichen kommen die Industrieunternehmen, mit denen Sie zusammenarbeiten?
Die Unternehmen, mit denen wir zu tun haben, kommen zum Teil aus dem Bereich Biotechnologie, zum Teil aus der Medizintechnik. Bei der Zusammenarbeit mit Konzernen geht es oft darum, spezielle Module für eng definierte Anforderungen zu entwickeln. Der Kontakt mit kleineren Unternehmen hat häufig beratenden Charakter. Da geht es um Projekte, in denen unser Technikum eine Rolle spielt.
Welches Testumfeld bieten Sie den Unternehmen im Technikum?
Im Technikum können wir Bedingungen, die wir im Klinikum im realen Operationssaal beobachten, nachstellen und nach unseren Wünschen beliebig verändern – sowohl bezogen auf den Prozess als auch im Hinblick auf die Technik. Was dabei herauskommt, ist für die Ärzte sehr interessant. Und wenn sie bei uns vorbeischauen und einen Vorteil in dem sehen, was wir vorschlagen, fällt der Schritt, das in der Praxis zu adaptieren, oft sehr leicht.
Wo sehen Sie Bedarf für weiteres technisches Know-how?
Das Thema der Vernetzung ist sicherlich das wichtigste, das wir angehen müssen, um mit der Automatisierung voranzukommen. Manchmal ergibt sich der Bedarf aber auch spontan im Gespräch. Ein Beispiel sind spezielle Klingen, die Ärzte für bestimmte Eingriffe gern nutzen würden. Zufällig waren wir in Kontakt mit einem Zulieferbetrieb, der dazu sehr spezielles Know-how hat. Daraus könnte im direkten Gespräch mit den Ärzten ein interessantes Projekt entstehen. Durch den Austausch mit den Medizinern wissen wir auch, was bei Verkabelungen und Steckern im OP stört. Der Spezialist, der das lösen könnte, käme nie darauf, was das Problem ist – wir bringen auch hier die Experten zusammen. Und wir schaffen für Ingenieure die Möglichkeit, Einblick in den OP-Alltag zu bekommen. Unser Wunsch wäre, dass mehr Techniker die Scheu ablegen und sich die Gegebenheiten selbst anschauen. Wir vermitteln und begleiten das gern, denn nur so kommt das technische Wissen der Medizin zu Gute.
Welche Idee fasziniert Sie so, dass Sie dazu gern ein Projekt in Angriff nehmen würden?
Da ich aus der Luft- und Raumfahrttechnik komme, begeistert mich Technik, egal ob es dabei um große oder kleine Maschinen geht. Roboterfunktionen auf die Größe einer Katheterspitze zu bringen, finde ich höchst spannend. Ich kann mich aber ebenso für die Idee begeistern, die Prozesstechnik an den OP-Tisch zu bringen, mit der Vision, dass der Arzt schließlich wie ein Pilot die Technik kontrolliert. Aber bis es soweit ist, gehen sicher viele Jahre ins Land.
Unsere Webinar-Empfehlung
Aktuelle Ausgabe
Titelbild medizin technik 2
Ausgabe
2.2024
LESEN
ABO
Newsletter

Jetzt unseren Newsletter abonnieren

Titelthema: PFAS

Medizintechnik ohne PFAS: Suche nach sinnvollem Ersatz

Alle Webinare & Webcasts

Webinare aller unserer Industrieseiten

Aktuelles Webinar

Multiphysik-Simulation

Medizintechnik: Multiphysik-Simulation

Whitepaper

Whitepaper aller unserer Industrieseiten


Industrie.de Infoservice
Vielen Dank für Ihre Bestellung!
Sie erhalten in Kürze eine Bestätigung per E-Mail.
Von Ihnen ausgesucht:
Weitere Informationen gewünscht?
Einfach neue Dokumente auswählen
und zuletzt Adresse eingeben.
Wie funktioniert der Industrie.de Infoservice?
Zur Hilfeseite »
Ihre Adresse:














Die Konradin Verlag Robert Kohlhammer GmbH erhebt, verarbeitet und nutzt die Daten, die der Nutzer bei der Registrierung zum Industrie.de Infoservice freiwillig zur Verfügung stellt, zum Zwecke der Erfüllung dieses Nutzungsverhältnisses. Der Nutzer erhält damit Zugang zu den Dokumenten des Industrie.de Infoservice.
AGB
datenschutz-online@konradin.de