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Eine Haut fürs Implantat

Suspensionsflammspritzen: Nanoskalige Schichten aus biologisch interessanten Werkstoffen
Eine Haut fürs Implantat

Pulverförmige Biomaterialien in Suspension bringen und über einen Beschichtungsbrenner auftragen, fertig ist die bioaktive Schicht auf dem Implantat. Ganz so einfach ist es zwar nicht, aber mit dem Suspensionsflammspritzen können Stuttgarter Forscher solche Schichten herstellen.

Makro- oder mikroporöse Strukturierungen sowie Beschichtungen auf Implantaten: Das sind die Faktoren, die den Vorgang der Osseointegration – das dauerhafte Fixieren der Implantate im Knochengewebe – begünstigen. Zu solch einer maßgeschneiderten Implantatoberfläche kommt man zum Beispiel mit den Verfahren des thermokinetischen Beschichtens. Weil dahinter eine moderne, großserientaugliche und vor allem kostengünstige Fertigungstechnologie steht, sind diese Verfahren gerade für den wachsenden Markt der Implantate hochinteressant – zumal es Forschungsansätze gibt, die das Verfahren auch für biologisch gut verträgliche Materialien einsetzbar machen.

Bei den klassischen Varianten des thermischen Spritzens werden die Spritzzusatzwerkstoffe in fester Form – meist als Pulver oder Drähte – einem Brenner zugeführt. Dort wird das Material aufgeschmolzen, im Heißgas beschleunigt und in Form feiner, schmelzflüssiger Tropfen auf die Werkstückoberfläche aufgebracht. Die Partikel erreichen dabei teilweise mehrfache Schallgeschwindigkeit, was zu entsprechend guten Schichthaftungen auf der Bauteiloberfläche führt.
Das Spektrum der Spritzzusatzwerkstoffe lässt sich aber erweitern, da prinzipiell auch flüssige Spritzzusätze in Form einer Lösung oder Suspension dem Beschichtungsbrenner zugeführt werden können. Die Anwesenheit eines Lösungsmittels bietet dabei gleich mehrere interessante Möglichkeiten. Extrem feine Pulver im Submikron- oder nanoskaligen Bereich, die auf mechanische Weise nicht mehr transportierbar und verarbeitbar sind, lassen sich als Suspension mit Hilfe spezieller Pumpen oder druckbasierter Fördersysteme präzise und sicher in das Beschichtungsaggregat transportieren. Dies ist vor allem für die Verarbeitung von Nanopulvern von großem Vorteil. Über Art und Zusammensetzung des Lösungsmittels kann dem Prozess darüber hinaus Energie zugeführt oder entzogen werden, womit man die thermische Belastung der Pulverwerkstoffe in der Suspension steuern kann.
Wissenschaftler vom Institut für Fertigungstechnologie keramischer Bauteile (IFKB) der Uni Stuttgart haben genau dafür das überschallschnelle Suspensionsflammspritzverfahren entwickelt und verarbeiten damit auch Werkstoffe wie Kalziumphosphat-Keramiken, oxidkeramische Werkstoffe und spezielle Biogläser zu neuartigen Funktionsschichten.
Kalziumphosphat-Keramiken werden in der Medizintechnik als Beschichtungswerkstoff verwendet, da sie sehr gute osteokonduktive Eigenschaften aufweisen: Sie dienen dem Knochengewebe als Leitschiene für das Wachstum und ermöglichen so die schnelle und dauerhafte Einheilung einer Endoprothese oder eines Implantats. Sie werden, ebenso wie die so genannten „Biogläser“, als bioaktiv bezeichnet.
Bioaktive Werkstoffe reagieren mit lebendem Knochengewebe durch Verbundosteogenese. Charakteristisch für diese Knochenreaktion ist eine stoffschlüssige Verbindung zwischen Gewebe und Implantat, bedingt durch chemische und physikalische Faktoren. Ein solches Implantat-Gewebe-Interface kann sowohl Druck- als auch Zug- und Scherkräfte übertragen.
Die genannten Materialien sind aber auch biokonduktiv, zeigen also positive Wechselwirkungen mit lebendem Knochengewebe. Heutzutage geht man davon aus, dass diese Materialien zu einer Zelldifferenzierung beitragen, welche die Osseointegration des Implantats fördert.
Selbst bioresorbierbare Schichten auf Basis suspensionsgespritzter Biogläser können mit dem Stuttgarter Verfahren hergestellt werden. Die neuartigen Schichten stimulieren das Knochenwachstum und verbessern das Einwachsverhalten von Hüft- und Kniegelenkimplantaten. Biologisch aktive Gläser können biologische Prozesse beim Einwachsprozess gezielt beeinflussen. Sie sind nicht nur biokompatibel, sondern besitzen darüber hinaus in wässrigem Medium die Fähigkeit, auf ihrer Oberfläche eine Schicht aus Hydroxylapatit auszubilden – was auch als Biomineralisation bezeichnet wird.
Durch die Nutzung moderner Oberflächentechnik lässt sich also eine Funktionstrennung zwischen dem Bauteil und seiner Oberfläche bewerkstelligen. Das Bauteil selbst muss – häufig durch seine Form – eine Funktion erfüllt und Gelenke oder die Zahnwurzel ersetzen. Seine Festigkeit, Elastizität, Risszähigkeit oder auch gute Bearbeitbarkeit lassen sich durch gezielte Auswahl des Bauteilmaterials beeinflussen. Auch die Kosten spielen bei der Auswahl des Grundwerkstoffs eine Rolle. Unabhängig davon kann man die Oberfläche dann durch die applizierte Beschichtung optimieren, damit sie ein bestimmtes Anforderungsprofil erfüllt und weitere Funktionen wie Korrosionsbeständigkeit, Verschleißschutz, elektrische Leitfähigkeit, Lackierbarkeit oder auch Biokompatibilität und gute Osseointegration bietet – wie im Fall der oben genannten Implantate.
Dr. Andreas Killinger Leiter Oberflächentechnik, Nico Stiegler IFKB, Stuttgart
Bioaktive Werkstoffe erleichtern die Integration des Implantats

Implantate in Zahlen
Heutzutage werden weltweit jedes Jahr mehr als 1 000 000 künstliche Hüftgelenke und 800 000 künstliche Kniegelenke eingesetzt. Allein in Deutschland finden jährlich schätzungsweise 600 000 künstliche Zahnwurzeln ihren Platz im Kiefer, und 180 000 künstliche Hüftgelenke werden implantiert. Der Bedarf an solchen Implantaten steigt jährlich. Beim Gelenkersatz ist die steigende Lebenserwartung der Grund dafür, denn im Alter nehmen die degenerativen Gelenkerkrankungen zu. Die häufigsten Gründe für den Verlust von Zähnen wiederum sind Karies und Parodontose.
Thermisches Spritzen
Das thermische Spritzen wird heute als Beschichtungstechnologie in vielen Branchen eingesetzt. Das Spektrum reicht von Innenbeschichtungen von Zylinderlaufflächen für die Automobilindustrie über Walzenbeschichtungen für die Druck- und Papierindustrie sowie die Energie und Luftfahrt bis hin zu biomedizinischen Beschichtungen. Die Verfahren des thermischen Spritzens erreichen weltweit einen Umsatz von über 6 Mrd. Euro, rund 30 % davon werden im europäischen Raum erwirtschaftet. Für den Standort Deutschland lag 2004 das Volumen bei geschätzten 538 Mio. Euro.

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