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Ein „Freund“ fürs Arbeitsleben

Assistenzrobotik: Intelligenter Greifarm sortiert und katalogisiert Bücher
Ein „Freund“ fürs Arbeitsleben

Lena Kredel hat Multiple Sklerose. Sie kann weder Arme noch Beine bewegen. Dennoch macht die Literaturwissenschaftlerin zurzeit an der Universität Bremen eine Ausbildung zur Bibliothekarin. Das Besondere: Als Werkzeug nutzt sie den Serviceroboter „Friend“, mit dessen Hilfe sie künftig in der Universitätsbibliothek selbständig Bücher katalogisieren kann.

„Friend ist der Glücksfall meines Lebens“, erklärt Lena Kredel. Das Kürzel „Friend“ steht für „functional robot arm with user-friendly interface for disabled people“ und bezeichnet einen elektrisch angetriebenen Rollstuhl, ausgestattet mit Monitor, allerhand Sensorik und – als zentrales Element – einem Leichtbauarm des Spezialisten für Spanntechnik und Greifsysteme Schunk. Per Kopf-Joystick und Spracherkennung steuert Lena Kredel ihren Assistenzroboter, erfasst Bücher in einer Standardsoftware für Bibliotheken und nutzt zum Nachschlagen einen gewöhnlichen Internetbrowser.

Seit 1997 forscht das Institut für Automatisierungstechnik (IAT) Bremen an robotergestützten Assistenzsystemen. Die Lösung, mit der Lena Kredel heute arbeitet, ist die nunmehr vierte Generation. Das System basiert auf dem Konzept der geteilten Autonomie: Was der Roboter selbständig lösen kann, löst er alleine. Stößt er an Grenzen, greift die Nutzerin ein, beispielsweise wenn die Greifposition korrigiert werden muss oder wenn es zu unvorhergesehenen Störungen kommt. Nach Angaben von Torsten Heyer, Projektleiter beim IAT, lassen sich auf diese Weise derzeit 95 % aller Vorgänge ohne fremde Hilfe lösen. Für ein perfektes Teamwork werden die Umgebungsbedingungen autonom über eine 3D-Kamera und eine Infrarotkamera über dem Kopf der Nutzerin erfasst. Startet Lena Kredel das System, verortet die Kamera vollautomatisch das Regal, die Bücher und die Ablageposition. Anschließend fährt der Leichtbauarm selbständig an die ermittelte Greifposition. Marker und Farbmarkierungen dienen dem System zur Orientierung. Die Kontrolle des gesamten Greifprozesses liegt bei Lena Kredel. Hierzu wurde das System mit zahlreichen Features angereichert, die eine Beurteilung und Überwachung des Greifprozesses ermöglichen. Eine Kamera am Robotergreifer überträgt kontinuierlich Livebilder vom Greifprozess, die die Nutzerin unmittelbar vor sich auf einem Monitor sieht. Zugleich dient die Kamera als Leselupe, mit der selbst kleine Schriften in den Büchern entziffert werden können. Stößt das System an Grenzen, greift Lena Kredel ein.
Zentrales Element des Assistenzroboters ist der Leichtbauarm LWA 3.10 der Schunk GmbH & Co. KG, Lauffen a. Neckar, ein modular aufgebauter Greifarm mit sieben Freiheitsgraden, wobei drei zur Orientierung, drei zur Positionierung und einer zur Umgehung von Hindernissen genutzt wird. Im Gegensatz zu klassischen Industrierobotern sind die Leichtbauarme des Familienunternehmens gezielt darauf ausgelegt, wechselnde Tätigkeiten im unmittelbaren Umfeld des Menschen zu automatisieren. Dazu zählen Prüf- und Montageaufgaben ebenso wie der Einsatz in Assistenzsystemen. Für präzise Greifoperationen ist die hohe Wiederholgenauigkeit von +/- 0,1 mm Voraussetzung. In der Regel werden die Leichtbauarme portabel, also ortsveränderlich, oder sogar mobil eingesetzt. Die maximale Zuladung des leistungsdichten Greifarms beträgt 10 kg. Bei einer batterietauglichen Spannungsversorgung von 24 V beträgt sein durchschnittlicher Strombedarf unter 3 A. Stünde keine Steckdose zur Verfügung oder würde das System komplett mobil eingesetzt, könnte der Assistenzroboter über die serienmäßige Rollstuhlbatterie zwei bis drei Stunden lang autark betrieben werden. Da die Leistungsaufnahme des Greifarms unter 100 W liegt, ist die Verletzungsgefahr bereits in der Standardversion äußerst gering. Um selbst dieses Risiko auszuschließen, nutzt das IAT Bremen bei dem Assistenzroboter zusätzlich Kraft-Momenten-Sensoren sowie Sensoren zur räumlichen Überwachung. Da die Antriebsverstärker und -regler unmittelbar in den Leichtbauarm eingebettet sind, benötigt das System keinen separaten Schaltschrank. Die komplette Steuer- und Regelelektronik ist in die Gelenkantriebe integriert. Position, Geschwindigkeit und Drehmoment sind flexibel regelbar.
Dank integrierter Intelligenz, universellen Kommunikationsschnittstellen und Kabeltechnik für Datenübertragung und Spannungsversorgung lässt sich der Arm schnell und einfach in bestehende Steuerungskonzepte einbinden. Zudem kann er von Embedded-PCs gesteuert werden. Aufgrund der leichten, hochsteifen Konstruktion arbeitet er energieeffizient, was sich bei mobilen Einsätzen in Form langer Laufzeiten auszahlt.
Programmiert wird der Leichtbauarm über das Schunk-eigene Interface. Darauf aufgesetzt ist die Bewegungsplanung, die an das Interface übergeben wird. Die einzelnen Bewegungsstrategien wiederum wurden vom IAT entwickelt. Aus Sicht von IAT-Mitarbeiter Christos Fragkopoulos war die Programmierung des Leichtbauarms vergleichsweise einfach. „Über das Interface steuern wir wahlweise die Geschwindigkeit oder den Strom. Wie die Module letztlich miteinander arbeiten, hängt vom individuellen Programm ab. Das gehört zum wissenschaftlichen Teil, den das IAT geleistet hat“, so Fragkopoulos. Da das System komplett modular aufgebaut und jede Komponente eigens programmiert ist, lassen sich einzelne Module bei Bedarf schnell und einfach ersetzen. Um auch Robotik-Laien die Bedienung des Assistenzsystems zu ermöglichen, hat das IAT mit Unterstützung von Lena Kredel eine allgemeinverständliche Bedienoberfläche zur Steuerung des Leichtbauarms entwickelt.
Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Lag die reine Handlingzeit für ein einzelnes Buch anfangs noch bei rund 17 Minuten, benötigt Lena Kredel heute nur noch zwischen fünf und sieben Minuten für die reine Handhabung. Das Katalogisieren dauert rund 15 Minuten. Im nächsten Schritt soll nun die Verlässlichkeit des Systems weiter erhöht werden. Das Ziel ist es, im Laufe der Zeit eine Erfolgsquote von 99,9 % zu erreichen. Nach Ansicht von Torsten Heyer zeigt das vom Bremer Integrationsamt mit 400000 Euro geförderte Modellprojekt „ReIntegraRob“, welche Potenziale in Assistenzrobotern stecken. „Im Idealfall können Nutzer nach einer Integrations- und Orientierungsphase vollständig an einem Arbeitsplatz eingesetzt werden, ohne dass sie eine persönliche Assistenz benötigen.“
Christopher Parlitz Schunk Mobile Greifsysteme, Lauffen/Neckar
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