Startseite » Technik » Entwicklung »

Wie der Ingenieur mit dem Arzt ins Gespräch kommt

Zusammenarbeit von Medizinern und Ingenieuren
Industrie-in-Klinik-Plattformen: Wie es nach der Förderung weitergeht

Industrie-in-Klinik-Plattformen: Wie es nach der Förderung weitergeht
Ein neues Produkt mag technisch ausgefeilt sein: Entscheidend ist, ob es Ärzten etwas bringt – und genau das soll sich/ in den Industrie-in-Klinik-Plattformen zeigen Bild: Production Perig/Fotolia
Entwicklung im Dialog mit Medizinern | Ein OP-Besteck erfinden, ohne dass es ein Chirurg in Händen hielt? Manche Unternehmen arbeiten so. Durch Industrie-in-Klinikplattformen soll sich die Entwicklung von Medizinprodukten mehr an den Bedürfnissen der Ärzte orientieren. Das ist für KMU interessant, auch nach Ende der Förderung.

Susanne Donner
Wissenschaftsjournalistin in Berlin

Wer eine neue OP-Kamera oder ein neues Implantat entwickelt, kann sicher sein: Bis sie in den Kliniken hierzulande zu finden sind, vergehen in der Regel gut zehn Jahre. Schon im Entwicklungsstadium ist der Austausch zwischen Ärzten und Ingenieuren oft dürftig. Und das, obwohl die Bewährung in Kliniken und Praxen in der Entwicklung „seitens der Industrie wachsenden Raum einnimmt“, wie die Bundesregierung 2014 konstatierte. Aber die Ärzte hätten immer weniger Zeit, heiß es da auch, weil sie zunehmend in die Regelversorgung eingespannt sind.

Um diesem Dilemma entgegen zu wirken, setzte das Bundesforschungsministerium 2014 eine ungewöhnliche Fördermaßnahme auf: so genannte Industrie-in-Klinik-Plattformen. Medizintechnikunternehmen sollten direkt in die Kliniken kommen, dort sogar Räume anmieten können und in Teams mit Ärzten ihre Produkte entwickeln. Dafür gab das Ministerium Geld für Neugründungen, die die Industrie-in-Klinik-Plattformen betreiben. Diese bilden quasi das Scharnier zwischen Unternehmen und Krankenhaus.

In einer ersten Konzeptphase für ein halbes Jahr erhielten 17 Bewerber je 75 000 Euro. Daraus wurden fünf Industrie-in-Klinik-Plattformen ausgewählt, die nun anteilig für laufende Entwicklungsprojekte vom Ministerium finanziert werden: Kizmo in Oldenburg, Flying Health in Berlin, M3i in München, Neurotech Gate in Bochum und MEC//ABC in Aachen.

Der Start war nicht gerade einfach

Keine der Plattformen hatte einen leichtfüßigen Start. „Obwohl es Geld für die Industriepartner gibt, war und ist Akquise nötig“, berichtet Simon Weidert, Unfallchirurg und Mitarbeiter von M3i. Diese Erfahrung hat auch Michael Buschermöhle, Geschäftsführer der Oldenburger Industrie-in-Klinik-Plattform Kizmo, gemacht. „Wer nicht wirbt, der stirbt“, scherzt er.

Die Gründe: Oft seien die Unternehmen gewöhnt, ihre Produkte ohne den Austausch mit Ärzten zu entwickeln. „Sie müssen sich erst eingestehen, dass diese Kooperation einen erheblichen Mehrwert hat und Fehlentwicklungen verhindern kann“, so Buschermöhle. Weidert sieht ein weiteres Hemmnis in den ungewöhnlichen Finanzierungsmodalitäten: „Gewöhnlich kommt die Industrie zu uns und kauft die Leistungen ein, die sie braucht. Aber hier haben wir die ungewöhnliche Konstellation, dass wir der Industrie Geld geben. Man muss sich vertraglich absichern, was man dafür haben möchte.“ Für beide Seiten ist das rechtliches Neuland. In seiner Ausschreibung legte das Ministerium lediglich fest, dass die Entwicklungsarbeiten nicht zur Zulassung eines Medizinprodukts führen dürfen. Sie müssen in früherem Stadium ansetzen.

Dann mussten auch Bedenken auf Seiten der Ärzte ausgeräumt werden, berichtet Weidert. Gemäß Antikorruptionsgesetz dürfen sie nicht die Produkte eines Unternehmens bevorzugen. „Die Lösung ist, dass wir als Betreiber zwischengeschaltet sind: Unternehmen und Ärzte sitzen nur mit uns an einem Tisch. Auch fließen keine Gelder vom Unternehmen an den Arzt. Wir zahlen Ärzten für ihre Beratung von Medizintechnikunternehmen einen Stundensatz“, schildert Weidert.

Derzeit laufen eine gute Handvoll Projekte von Unternehmen unter der Ägide von M3i und ebenso viele bei Kizmo. Meist sind es kleine und mittelständische Unternehmen, die Medizinprodukte oder -software aus allen Bereichen entwickeln. Das Unternehmen Brainlab, das bei M3i unter Vertrag ist, entwickelt beispielsweise ein Computerprogramm, mit dem sich Wirbelsäulen-OPs dreidimensional planen lassen. Bei solchen Eingriffen setzt ein Chirurg so genannte Pedikelschrauben ein, um Wirbelkörper zu fixieren, damit sie beispielsweise nicht auf die angrenzende Bandscheibe drücken. Gegenwärtig planen Chirurgen diesen Eingriff manuell, sprich: Sie zeichnen in MRT- oder CT-Bilder ein, wo der Körper geöffnet und wie die Schraube genau platziert wird. Die Software von Brainlab soll eine dreidimensionale Planung am Computer ermöglichen. Dafür braucht das Unternehmen vor allem MRT- und CT-Bilder von realen Patienten. M3i stellt diese Daten anonymisiert von verschiedenen Kliniken bereit.

Hände des Arztes schmerzen – bitte Design anpassen

Oft geht es auch darum, die Gebrauchstauglichkeit von Prototypen zu testen, etwa bei einem neuen Kamerasystem für OPs von Eizo. „Es kommt immer wieder vor, dass Ärzte sich nicht mit einem Medizinprodukt zurechtfinden, obwohl Ingenieure zutiefst davon überzeugt sind“, weiß Weidert. Ein medizinisches Werkzeug etwa lag dem testenden Arzt
so schlecht in den Händen, dass er Schmerzen befürchtete. Daraufhin wurde das Design angepasst. Buschermöhle bestätigt, dass der Austausch mit den Ärzten Produkte mitunter erheblich verändert.

Das kleinste Unternehmen, das im Rahmen der Industrie-in-Klinikplattform mit M3i kooperiert, ist die „Neue Magnetodyn“ aus München mit nur fünf Mitarbeitern. Sie bietet bereits kommerziell eine Elektromagnetfeldstimulation an, die die Knochenheilung beschleunigt. Nun will das Team ausloten, ob das Verfahren auch die Wundheilung verbessert.

Gesucht: Engagiertes Labor mit Erfahrung in der Wundheilung

„Dafür suchten wir ein Labor an einer Klinik, in der das Verfahren im Austausch mit Ärzten an Hautzellen erprobt werden kann“, erzählt Weidert. „Unter drei Laboren entschieden wir uns für das engagierteste: die Hals-Nasen-Ohren-Abteilung der LMU München. Die Ärzte haben viel Erfahrung mit schlecht heilenden Wunden, etwa nachdem sie Patienten einen Tumor im Kopfbereich entfernt haben.“

Letztlich führe er die richtigen Leute zusammen, beschreibt Weidert seine Arbeit. Das klingt leichter, als es ist. „Ich frage zehn Ärzte an, damit vielleicht drei antworten. Und das, obwohl ihre Expertise, die sie bereitstellen, stundenweise vergütet wird. Sie haben vielfach schlicht keine Zeit.“ Sollte sich die Auslastung in den Krankenhäusern weiter erhöhen, droht dies zum Flaschenhals der Kooperation von Ingenieuren und Ärzten in den Plattformen zu werden.

Weidert zieht dennoch eine positive Bilanz. „Wir sind wie ein Katalysator“, meint er. „Wir beschleunigen die Entwicklung von Produkten.“ Schon haben weitere Unternehmen angefragt, die sein Unternehmen nun losgelöst von der Fördermaßnahme des BMBF aufnehmen kann. Auch Buschermöhle schließt erste Verträge mit Kunden ab, die nicht mehr im Rahmen der Industrie-in-Klinik-Plattform gefördert werden.

Es besteht also Bedarf an Dienstleistern, die für die Entwicklung eine Brücke zwischen Kliniken und Industrie bauen. Verwunderlich ist das nicht: Die Ingenieure brauchen den Austausch mit mit Ärzten und Zugang zu anonymisierten Patientendaten, um Prototypen zu evaluieren. „Diese Nachfrage wird stark wachsen“, sagt Weidert. „Innovationen sind zusehends datengetrieben.“ Zudem wird das neue Medizinprodukterecht der EU die gründlichere Prüfung vieler Produkte auch im klinischen Betrieb nach sich ziehen.


Weitere Informationen

Über die Fördermaßnahme und die bisherigen Voraussetzungen für die Teilnahme:

www.strategieprozess-medizintechnik.de/industrie-klinik-plattformen

Aktuell auf der Messe Medica 2018

Am Stand der Bundesregierung stellen sich die vom Bundesforschungsministerium geförderten Industrie-in-Klinik-Plattformen auf der Medizintechnikmesse Medica  in Halle 15/A56 vor: am Dienstag, 13. November 2019, um 11.30 Uhr. Im Anschluss an die Präsentationen wird zum Brunch eingeladen.

Folgende Plattformen sind vertreten:

  • KIZMO (Klinisches Innovationszentrum für Medizintechnik Oldenburg am Evangelischen Krankenhaus Oldenburg): Schwerpunkt der Plattform ist die Entwicklung von Werkzeugen für Diagnostik, Behandlung und Rehabilitation in der HNO-Heilkunde, Neurochirurgie und Phoniatrie.
  • MEC-ABC (Medical Care and Product Development in Aachen – Bonn – Cologne): MEC-ABC berät Hersteller, die Produkte für die Neuro-Rehabilitation, die Neuro-Urologie und die Orthopädie entwickeln, in Sachen klinische Anforderungen, Patienten-Compliance oder Erstattung.
  • NeuroTechGate: Angesiedelt am Berufsgenossenschaftlichen Universitätsklinikum Bergmannsheil in Bochum, konzentriert sich auf chronische Erkrankungen des zentralen und peripheren Nervensystems mit daraus resultierenden sensomotorischen Störungen und Einschränkungen.
  • m3i (Münchner Modell Medizininnovation): Die Plattform ist am Klinikum der Universität München angesiedelt. Im Fokus stehen chirurgische Anwendungsgebiete im Bereich der Muskuloskelettal- und Viszeralchirurgie sowie der interventionellen Kardiologie.

Die VDI Technologiezentrum GmbH begleitet als zuständiger Projektträger des Bundesministeriums für Forschung und Entwicklung (BMBF) den weiteren Ausbau der Plattformen. Zudem organisiert und betreut sie den Stand der Bundesregierung im Auftrag des BMBF. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der VDI Technologeizentrum GmbH stehen während der gesamten Medica für Frage rund um aktuelle Fördermaßnahmen zur Verfügung, erläutern Förderkriterien und geben Tipps für die Antragstellung.

Über die Anfänge

Wie Arzt und Ingenieur zukünftig enger zusammenarbeiten

Unsere Webinar-Empfehlung
Aktuelle Ausgabe
Titelbild medizin technik 2
Ausgabe
2.2024
LESEN
ABO
Newsletter

Jetzt unseren Newsletter abonnieren

Titelthema: PFAS

Medizintechnik ohne PFAS: Suche nach sinnvollem Ersatz

Alle Webinare & Webcasts

Webinare aller unserer Industrieseiten

Aktuelles Webinar

Multiphysik-Simulation

Medizintechnik: Multiphysik-Simulation

Whitepaper

Whitepaper aller unserer Industrieseiten


Industrie.de Infoservice
Vielen Dank für Ihre Bestellung!
Sie erhalten in Kürze eine Bestätigung per E-Mail.
Von Ihnen ausgesucht:
Weitere Informationen gewünscht?
Einfach neue Dokumente auswählen
und zuletzt Adresse eingeben.
Wie funktioniert der Industrie.de Infoservice?
Zur Hilfeseite »
Ihre Adresse:














Die Konradin Verlag Robert Kohlhammer GmbH erhebt, verarbeitet und nutzt die Daten, die der Nutzer bei der Registrierung zum Industrie.de Infoservice freiwillig zur Verfügung stellt, zum Zwecke der Erfüllung dieses Nutzungsverhältnisses. Der Nutzer erhält damit Zugang zu den Dokumenten des Industrie.de Infoservice.
AGB
datenschutz-online@konradin.de