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Bleifrei auf die medizinische Überholspur

Piezokeramik: Forscher suchen nach Alternativen für das toxische Schwermetall
Bleifrei auf die medizinische Überholspur

Seit einigen Jahren gilt für den Einsatz von Blei in Piezokeramik nur noch eine Ausnahmeregelung. Deshalb suchen die Hersteller bleifreie Werkstoffe. Bismut, aber auch eine Kalium-Natrium-Niobat gelten als Alternativen.

Die EU macht vielen toxischen Werkstoffen den Garaus – mit zwei Richtlinien, die seit gut drei Jahren greifen: RoHS und WEEE. Hinter WEEE (Waste from Electrical and Electronic Equipment) steckt die Elektronik-Schrott-Richtlinie, die Rücknahme und Wiederaufbereitung von Elektro- und Elektronik-Altgeräten regelt. RoHS (Restriction of the use of certain Hazardous Substances) hingegen beschränkt die Verwendung bestimmter gefährlicher Stoffe in Elektro- und Elektronikgeräten. Hier werden konkrete Verbote oder Grenzwerte für bestimmte Substanzen festgelegt, die Mensch und Umwelt gefährden. Demnach dürfen neue Elektro- und Elektronikgeräte kein Blei enthalten.

Da es jedoch nach heutigem Stand der Technik in einigen Bereichen nicht möglich ist, eine 100 prozentige Schadstofffreiheit zu erlangen beziehungsweise sicherheitsrelevante Anlagen nicht ausfallen dürfen, sind noch Ausnahmen zugelassen. Dazu gehört Blei in piezoelektrischen Bauteilen. Dazu zählen Piezokeramiken. Bei ihnen wird der keramische Rohstoff mit metallischen Schichten verbunden. Dadurch fungieren diese Schichten als elektrische Leiter.
Der Piezo-Effekt beruht darauf, dass manche Kristalle unter mechanischer Druckeinwirkung eine elektrische Spannung aufbauen. Technisch angewendet wird der Effekt etwa in Feuerzeugen, um mit Hochspannung den Zündfunken zu erzeugen. Das Prinzip funktioniert aber auch umgekehrt: Legt man an den Kristall eine Spannung an, verformt er sich. Über die Verformung wirken mechanische Kräfte. In der Automobilindustrie wird dieser Effekt seit einigen Jahren genutzt, um bei Direkteinspritzsystemen für Verbrennungsmotoren den Öffnungs- und Schließmechanismus des Einspritzventils zu betätigen. Der Hauptvorteil von piezoelektrisch gesteuerten Injektoren sind die extrem kurzen Schaltzeiten von nur 100 Millionstel Sekunden. Das ist vier- bis fünfmal schneller als bei herkömmlichen Direkteinspritzsystemen. Als Werkstoff für den Piezoaktor verwenden Bosch und Siemens VDO statt der sonst üblichen Kristalle ein Keramikmaterial mit piezoelektrischen Eigenschaften.
Mindestens alle vier Jahre überprüft die EU die Ausnahmeregelung für bleihaltige Piezokeramiken im Hinblick darauf, ob es beispielsweise zwischenzeitlich technische oder wissenschaftlich praktikable Alternativen gibt. Insofern drängt die Hersteller die Zeit – „zumal durch ihre rasante Verbreitung schon heute ein Recycling der bleihaltigen Piezokeramiken praktisch nicht mehr möglich ist“, warnt Professor Jürgen Rödel vom Fachbereich Material- und Geowissenschaften der TU Darmstadt, der 2009 für seine Forschungen an keramischen Hochleistungswerkstoffen mit dem Wilhelm-Leibniz-Preis die angesehenste Auszeichnung für Forscherinnen und Forscher in Deutschland erhielt.
Insofern ist die Suche nach Ersatzwerkstoffen in vollem Gang. Laut Rödel suchen rund 50 Forschergruppen weltweit nach neuen Lösungen – mit mäßigem Erfolg. „Viele von ihnen sind sehr versiert, entwickeln aber keine neuen Konzepte für Piezokeramiken“, stellt er fest. Auch deutsche Hersteller von Piezokeramiken wie die PI Ceramic GmbH mit Sitz im thüringischen Lederhose und die Plochinger Ceramtec AG arbeiten an Alternativen. „Wir erwarten, dass die Wirkungsweise von Blei in Piezokeramiken erst in wenigen Jahren vollständig geklärt werden kann“, erklärt Rödel. Seine Arbeiten führen daher auf grundlegende Gebiete der Elektronen- und Kristallstruktur zurück.
Nach der Anzahl der Arbeiten und Patente favorisiert gut zwei Drittel der weltweiten Forschungs-Community derzeit Bismut-Verbindungen als Blei-Ersatz, allen voran Blei-Zirkonat-Titanat. Bei Bismut handelt es sich um das einzige nicht-toxische Schwermetall, lautet das Urteil der American Mineralogical Society. Experten bei Ceramtec sind skeptisch: Bismut stehe im Periodensystem direkt neben Blei. Außerdem werde die Umwelt durch den Bismut-Abbau beeinträchigt. Auf Platz 2 mit 20 % rangiert Kalium-Natrium-Niobat, das bereits kommerziell verfügbar ist. Doch es gibt laut Rödel noch eine ganze Reihe weiterer erfolgversprechender Materialkombinationen. Sein Institut kombiniert etwa Bismut-Natrium-Titanat mit Barium-Titanat und Kalium-Natrium-Niobat.
Sein Team hat zudem erstmals eine Grundlage dafür geschaffen, wie die Suche nach bleifreien Werkstoffen beschleunigt werden kann. Es hat für Forscher einen Handlungsleitfaden erstellt, um neue Materialkombinationen auszuprobieren: Darin sind Kosten, Toxizität, elektronische Eigenschaften, Kristallstruktur sowie die Möglichkeit für bestimmte Phasendiagramme geeigneter Elemente beschrieben. Der Professor: „Die Kunst besteht darin, die für eine Anwendung geeignete Materialmischung zu finden. Denn je nach Kombinationen sind die piezoelektrischen Reaktionen sehr unterschiedlich.“ Die Darmstädter arbeiten derzeit ausschließlich mit Unternehmen aus der Automobilbranche zusammen. „Die Medizintechnik scheint mir aber ebenso reif für Anwendungen im Bereich Sensorik und Aktorik durch Piezokeramiken.“
Sabine Koll Fachjournalistin in Böblingen
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