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„Wir wollen Fehlerursachen stärker auf den Grund gehen“

Medizinprodukte-Vigilanz-Leitlinie: Mehr konkrete Vorgaben für die Meldungen
„Wir wollen Fehlerursachen stärker auf den Grund gehen“

„Wir wollen Fehlerursachen stärker auf den Grund gehen“
Dr. Ekkehard Stößlein leitet das Fachgebiet Aktive Medizinprodukte am Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Bonn
Seit dem 1. Januar 2008 gilt für die Hersteller von Medizinprodukten die europäische Medizinprodukte-Vigilanz-Leitlinie. Was sich verändert hat, erläutert Dr. Ekkehard Stößlein vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte.

Herr Dr. Stößlein, welche Änderungen bringt die europäische Medizinprodukte-Vigilanz-Leitlinie in der gültigen Version?

Sie bringt massive Änderungen in der Meldepflicht: So müssen jetzt Anwendungsfehler gemeldet werden, die bestimmte Kriterien erfüllen, und die Meldefristen sind zum Teil erheblich geändert geworden. Die Leitlinie sagt klar, welche Informationen ein Hersteller bei einer korrektiven Maßnahme zur Verfügung stellen muss, sowohl der Behörde als auch den betroffenen Anwendern.
Wo gilt die neue Leitlinie?
Ihr Anwendungsgebiet ist deutlich gewachsen. So müssen innerhalb des europäischen Wirtschaftsraumes sowie in der Schweiz alle Vorkommnisse mit Medizinprodukten gemeldet werden – unabhängig davon, ob diese ein CE-Kennzeichen tragen oder nicht. Produkte in der klinischen Prüfung sind von dieser Leitlinie allerdings explizit ausgenommen. Betroffen sind hingegen Sonderanfertigungen und neuerdings auch Produkte, die vor Inkrafttreten der Medizinprodukte-Richtlinie in Verkehr gebracht wurden. Was im Klartext heißt: Über Vorkommnisse mit einem Röntgengerät, das vor 1998 verkauft wurde, muss der Hersteller die zuständige Behörde informieren. Dies gilt auch für alle sicherheitsrelevanten korrektiven Maßnahmen im Feld – einschließlich Rückrufaktionen.
Inwiefern sind Anwendungsfehler jetzt in den Fokus gerückt?
Die neue Leitlinie folgt letztlich der derzeitigen internationalen Entwicklung, zum Beispiel in der Normung und in der europäischen Gesetzgebung zur Gebrauchstauglichkeit. Daher müssen alle Anwendungsfehler gemeldet werden, die zum Tod geführt haben oder den Patientenzustand schwerwiegend verschlechterten. Es soll festgestellt werden, ob das Medizinprodukt Teil des Problems war, weil es zum Beispiel unübersichtlich oder unergonomisch gestaltet ist oder in der Gebrauchsanweisung schlecht beschrieben wurde. Hat hingegen der Anwender etwas falsch gemacht, was er eigentlich besser wissen müsste, ist das nach wie vor ein klassischer Anwenderfehler, an dem der Hersteller nicht beteiligt ist.
Wie sehen die Änderungen in den Meldekriterien aus?
Die Leitlinie erweitert den Begriff schwerwiegende Gesundheitsschädigung. Ein signifikanter Anstieg der Operationsdauer kann darunter fallen, wenn er auf ein Produktproblem zurückzuführen ist, ebenso eine durch einen Produktfehler induzierte zusätzliche oder verlängerte Behandlung im Krankenhaus, genau wie eine überflüssige oder falsche Behandlung, die durch einen Fehler in der Diagnostik ausgelöst wird.
Gibt es Ausnahmen von der Meldepflicht?
Nein. Die Medizinprodukte-Richtlinie sieht keine Ausnahmen vor, und eine Leitlinie kann nichts anderes vorgeben als das,was in der Richtlinie festgelegt ist. Aber die Leitlinie beschreibt Situationen, in denen keine Meldung erforderlich ist. Ein Beispiel dafür wäre, dass der Anwender einen Gerätefehler in jedem Fall feststellt, bevor er das Gerät benutzt, und es daher nicht zu Schäden kommen kann. Eine Meldepflicht liegt auch dann nicht vor, wenn der Anwender zum Beispiel ein Medizinprodukt eingesetzt hat, das seine Lebensdauer überschritten hat. Bevor aber ein Hersteller für einen Vorfall die Meldepflicht verneint, sollte er den genauen Wortlaut lesen und sich versichern, dass er alle dort genannten Bedingungen und eventuell zitierte Normen erfüllt.
Welche Fristen gelten für die Meldung?
Grundsätzlich muss ein Hersteller unverzüglich, also ohne schuldhafte Verzögerung, melden. Der Zeitpunkt der spätesten Meldung hängt von den Risiken ab, welche mit dem Vorkommnis verbunden sind. Bei einer besonders hohen Gesundheitsbedrohung muss der Hersteller unverzüglich melden, spätestens aber zwei Tage, nachdem er die hohe Bedrohung erkannt hat. Vorkommnisse, die zum Tod oder einer unerwarteten schwerwiegenden Verschlechterung des Gesundheitszustandes führten, müssen unverzüglich, spätestens jedoch 10 Kalendertage, nachdem der Hersteller von dem Vorkommnis erfahren hat, gemeldet werden. Unerwartet heisst, dass der Hersteller dieses Risiko in seiner Risikoanalyse, aus welchen Gründen auch immer, nicht betrachtet hat. Für alle verbleibenden Vorkommnisse gilt die Meldefrist ‚unverzüglich innerhalb von 30 Kalendertagen, nach dem der Hersteller von dem Vorkommnis erfahren hat‘.
Wieso ist der Begriff ‚Rückruf‘ aus der Leitlinie verschwunden?
Der Begriff Rückruf wird oft missverstanden, und zwar ausschließlich als Rücksendung des Produktes an den Hersteller oder Vertreiber. Er ist in keiner Norm mehr definiert. Gemeint war damit, dass nach einem Rückruf keine Patienten mehr mit nicht modifizierten Produkten versorgt werden sollten. Manch einer aber verstand das so, dass nach einem Rückruf sogar eingesetzte Implantate entfernt werden müssten. Um hier in Zukunft Klarheit zu schaffen, wird anstelle des Wortes ‚Rückruf‘ in der englischen Version die Formulierung field safety corrective action, kurz FSCA, verwendet. Solange es keine offizielle deutsche Übersetzung gibt, benutzen wir dafür die Umschreibung Sicherheitsrelevante korrektive Maßnahme im Feld. Die Definition der FSCA stellt klar, dass auch andere korrektive Maßnahmen wie ein Austausch von Teilen eines Gerätes vor Ort beim Anwender oder sicherheitsrelevante Änderungen in der Gebrauchsanweisung darunter fallen.
Abgesehen vom Namen: Was sieht die Leitlinie für diese Maßnahmen vor?
Solche Maßnahmen sollen im europäischen Wirtschaftsraum einheitlich sein. Ein Hersteller sollte also eine einzige Empfehlung herausgeben, um das Problem in allen Ländern zu beheben. Und die Vigilanz-Leitlinie gibt vor, dass alle Behörden zu informieren sind, in deren Zuständigkeitsbereich das Produkt angewendet wird, sowie die Behörde, die für den Hersteller oder dessen Bevollmächtigten in der EU zuständig ist. Dieser Bevollmächtigte muss ab März 2010 für jedes Medizinprodukt benannt sein, das in der EU eingesetzt wird, sofern der Hersteller nicht in der EU ansässig ist. Das sieht das kommende Medizinprodukte-Gesetz vor, und die Vigilanz-Leitlinie greift hierauf schon vor.
Wie soll diese einheitliche Anwenderinformation aussehen?
Die englische Version der Vigilanz-Leitlinie enthält ein Musterschreiben. Die deutsche Version ist gerade in der Abstimmung, und wir stellen sie demnächst ins Internet.
Was ändert sich für die Behörden?
Die Aufgaben der Behörden sind erst- mals klar definiert. Sie prüfen, ob das mit einem Medizinprodukt verbundene Risiko hinreichend minimiert wurde. Falls das nicht der Fall ist, prüft die Behörde, welche korrektiven Maßnahmen erforderlich sind. Wenn ein Hersteller schon Maßnahmen eingeleitet hat, prüft die Behörde, ob diese angemessen sind. Und die Informationen über korrektive Maßnahmen eines Herstellers werden grundsätzlich unter den europäischen Behörden ausgetauscht.
Dr. Birgit Oppermann birgit.oppermann@konradin.de
Wann Meldepflicht besteht, zeigt die Leitlinie im Detail

Ihr Stichwort
• Vigilanz-Leitlinie
• Geltungsbereich
• Meldekriterien • Meldefristen • FSCA statt Rückruf

Zur Vigilanz-Leitlinie
Die europäische Medizinprodukte-Vigilanz-Leitlinie (MEDDEV 2.12/1 rev.5) ist ein rechtlich nicht bindender Konsens zwischen Herstellern, Behörden und der Europäischen Kommmission. Sie beschreibt, wie diese Partner in den EU-Staaten mit Vorkommnissen, an denen Medizinprodukte beteiligt sind, umgehen wollen. Manche Länder der EU haben allerdings gesetzliche Vorgaben, die im Widerspruch zur Leitlinie stehen. In diesem Fall muss der Hersteller natürlich die nationalen Gesetze erfüllen. Der Wortlaut der Leitlinie ist nachzulesen unter www.ec.europa.eu/enterprise/medical_devices/meddev/index.htm
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