Das Genom wird als „Buch des Lebens“ bezeichnet. Doch selbst 17 Jahre nach Entschlüsselung des Genoms versuchen Wissenschaftler immer noch vergeblich darin zu „lesen“, zu verstehen, wie unsere Körperzellen dieses Buch entschlüsseln. In der Zwischenzeit haben sich so genannte Omics-Technologien rasant entwickelt. Mit ihrer Hilfe lassen sich zum Beispiel Tausende von Genprodukten in einer einzigen Gewebeprobe messen. In den vergangenen Jahren wurden hierfür neue Verfahren entwickelt, die solch umfangreiche Analysen sogar an einzelnen Zellen erlauben. Die molekulare Zusammensetzung von Gewebe und Organen kann nun also mit einer Auflösung bis zur einzelnen Zelle untersucht werden.
Ein Schnappschuss ist nicht genug
Gewebe auf Einzelzell-Ebene zu kartieren und zu analysieren, ist bereits enorm aufschlussreich − und eine große Herausforderung. Aber eine Gruppe von mehr als 60 Wissenschaftlern aus 18 europäischen Ländern und 52 Forschungsinstituten hat sich noch mehr vorgenommen: Sie wollen es nicht bei zellulären Momentaufnahmen belassen. Denn Zellen unterliegen ständiger Veränderung und können sogar ihre Identität wechseln. Die Forschenden wollen vielmehr die molekulare Zusammensetzung menschlicher Zellen auch im Zeitverlauf und räumlich verfolgen, damit sie die Mechanismen hinter verschiedenen Zell-Zuständen während der Entwicklung, des Alterns und bei Erkrankungen erkennen. Um die dazu nötigen, wissenschaftlich revolutionären Methoden zu etablieren, weiterzuentwickeln und zu kombinieren, haben sie sich zum Life-Time-Konsortium zusammengeschlossen.
Molekulare Mechanismen in Zellen aufklären
Angewandt werden die Einzelzell-Technologien auf experimentelle Modellsysteme, insbesondere Organoide, also in der Petrischale gezüchtete Mini-Organe. In Kombination mit der „Genschere“ CRISPR/Cas und modernsten bildgebenden Verfahren soll mit diesen Modellen erforscht werden, wie Zellen gesund bleiben oder krank werden, und wie sie auf Arzneimittel reagieren. Solche Experimente erzeugen riesige Datenmengen. Die Life-Time-Forschenden werden deswegen unter anderem rechnergestützte Strategien wie maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz nutzen, um molekulare Mechanismen in Zellen aufzuklären, Krankheitsverläufe vorherzusagen und therapeutische Strategien zu entwickeln. Mit diesem kombinierten Ansatz wollen sie frühe Diagnosemöglichkeiten verbessern, neue Ziele für die Medikamentenentwicklung identifizieren und effektive, auf den jeweiligen Patienten zugeschnittene Therapien ermöglichen.
Wissenschaftliche Pionierarbeit
Future-and-Emerging-Technologies-Flagschiffe (wie das Human Brain Project, Graphene und Quantum Technologies) fördert die Europäische Kommission mit 1 Mrd. Euro für zehn Jahre. Der Wettbewerb für zwei neue Flagschiffe hat gerade begonnen. Zu den Vorschlägen gehört auch Life Time – gemeinsam koordiniert vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) in Berlin und dem Institut Curie in Paris.
https://lifetime-fetflagship.eu