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„Wir brauchen jetzt die Ingenieure“

Regenerative Medizin: Erst Technik macht die neuen Therapien verbreitet einsetzbar
„Wir brauchen jetzt die Ingenieure“

Zell- oder Gen-Therapien und auch das Tissue Engineering zählen zur regenerativen Medizin. Was diese leisten kann und warum ihr Fortschritt von technischen Entwicklungen abhängt, erläutert Prof. Frank Emmrich vom Translationszentrum für Regenerative Medizin der Universität Leipzig.

Herr Prof. Emmrich, was gehört alles zum Gebiet der regenerativen Medizin?

Der Begriff der regenerativen Medizin ist noch relativ jung und wurde in den vergangenen zehn oder zwölf Jahren geprägt. Er bezeichnet alles, was die körpereigenen Heilkräfte nutzt oder unterstützt. Das kann zum Beispiel eine zerklüftete Oberflächenstruktur von Implantaten sein, die für Knochenzellen besonders attraktiv ist. Weitere Beispiele sind im Labor gezüchtete Haut oder auch Gerüststrukturen, die von organspezifischen Zellen besiedelt werden sollen. Auch speziell behandelte körpereigene Zellen, die in ein geschädigtes Organ eingebracht werden, um dessen Funktion wieder zu verbessern, fallen in dieses Gebiet. Und natürlich die Stammzellforschung, die schon begonnen wurde, lange bevor es den Begriff der regenerativen Medizin gab.
Ergänzt die regenerative Medizin bisherige Verfahren oder ersetzt sie Therapien?
Bislang ist die Medizin stark von Apparaten geprägt. Der jüngere Organismus bewältigt die gerätebasierte Medizin auch vergleichsweise gut. Einem älteren, gebrechlicheren Organismus fällt das viel schwerer. Die regenerative Medizin bietetet hier interessante neue Möglichkeiten, und es gibt tatsächlich für alle großen Volkskrankheiten wie den Schlaganfall, den Herzinfarkt oder auch Diabetes Ansatzpunkte, wie man den Körper unterstützen könnte. Bisher sind allerdings viele dieser Therapien noch erheblich teurer als die gängigen Verfahren und werden daher nur als letztes Mittel eingesetzt, wenn alles andere versagt. Aber ich gehe davon aus, dass sich das auf lange Sicht ändern wird – und dass dann auch die Produkte erheblich günstiger werden, weil die händische Arbeit im Labor durch automatisierte Prozesse ersetzt wird. Dann werden sie zu einer echten Alternative.
Was mit lebenden Zellen und Organismen zu tun hat, ist komplex. Besteht die Aussicht, innerhalb sinnvoller Zeiträume zu Behandlungsverfahren zu gelangen?
Die Chancen der regenerativen Medizin stehen nicht schlechter als die der technischen Verfahren. Nehmen wir das Beispiel des Diabetes mellitus. Ingenieure arbeiten seit vielen Jahren daran, eine automatische Lösung mit Pumpe und Sensoren zu entwickeln, die den Blutzucker ohne Zutun des Patienten einstellt. Noch gibt es keinen Durchbruch, es hapert an der Sensorik, die nach kurzer Zeit keine verlässlichen Daten mehr liefert. Dennoch kann dieser Ansatz eines Tages erfolgreich sein. Gleichzeitig arbeiten Biologen an Verfahren, mit denen sich körpereigene Zellen so differenzieren lassen, dass sie die Aufgabe der zerstörten Beta-Zellen im Pankreas übernehmen und Insulin herstellen können. Auch das hat gute Aussichten auf Erfolg. Wann sich dieser einstellt, ist schwer vorauszusagen.
Wie sieht es mit der Wirtschaftlichkeit aus: Sind regenerative Verfahren konkurrenzfähig zur apparategeprägten Medizin?
In der Medizin ist diese Frage bei neuen Therapiemöglichkeiten immer wieder aufgetaucht. Selbst das Penicillin wurde bei seiner Einführung zwar begrüßt, aber niemand glaubte wegen der hohen Kosten an einen Einsatz im großen Maßstab. Als klar wurde, wie nützlich das Antibiotikum ist, zeigte sich jedoch, wie erfinderisch der menschliche Geist sein kann. Es hat keine zehn Jahre gedauert, bis die Produktion in verbesserten Bioreaktoren so günstig war, dass Penicillin zum Pfennigartikel wurde. Das Gleiche beobachten wir heute im Bereich der regenerativen Medizin. So hat es ein Unternehmen in Kalifornien geschafft, aus lauter Einmalprodukten über mehrere Gerätegenerationen ein System zu entwickeln, mit dem sich aus Fettzellen mehr oder weniger automatisch Stammzellen isolieren lassen. Solche Lösungen werden wir brauchen, um die regenerative Medizin im Gesundheitssystem zu verankern.
Welche Rolle könnte die Medizintechnik-Industrie hier spielen?
Die Fortschritte in den nächsten 20 Jahren hängen zum großen Teil von technischen Lösungen ab. Nur wenn die Ingenieure unsere Fragen aufgreifen, kommen wir voran. Wir brauchen zum Beispiel berührungslos arbeitende Biosensoren, um schnell die Qualität der Kulturen zu prüfen. Wenn ein Stück Haut oder ein ausreichend großes Gewebestück für ein Organ gewachsen ist, kann der Arzt nicht eine Woche warten, sondern muss den Patienten gleich mit dem getesteten Produkt behandeln können. Wir brauchen Pumpen, die kleinste Mengen biologischen Materials reproduzierbar fördern können, ohne die enthaltenen Zellen zu schädigen. Wir brauchen Standards und Automatisierungslösungen, um die Arbeit im Labor zu beschleunigen. Und wir werden Bioreaktoren aus Einmal-Produkten in unterschiedlichen Größen brauchen, um einem Patienten mit seinen eigenen kultivierten Zellen helfen zu können. Auch die moderne Bildgebung ist sehr interessant für uns.
Was könnte diese leisten?
Mit den modernen Verfahren lässt sich schon sehr gut zeigen, wo sich ein Organ befindet, wie groß es ist und wo die nächste Struktur beginnt. Für die regenerative Medizin ist es von größtem Interesse, mehr Details über die aktuelle Funktion Organe zu erfahren. So wissen wir bereits, dass es auch im älteren Organismus noch viele aktive Stammzellen gibt. Diese sind jedoch nicht gleichmäßig verteilt, sondern inselartig angeordnet, und kommen erst ins Spiel, wenn Funktionen ausfallen. Mit bildgebenden Verfahren wollen wir erkennen, welche Effekte wir mit unseren Therapien erzielen und ob sich diese Zellen schneller oder in größerer Zahl aktivieren lassen.
Sind für den Fortschritt immer technische Neuentwicklungen gefragt?
Manchmal geht es auch um Weiterentwicklungen. In Rostock beispielsweise arbeitet eine Gruppe daran, die systemische Sepsis besser zu behandeln. Bei einer Blutvergiftung vermehren sich bestimmte Bakterien im Körper sehr schnell. Die Zellen kann man zwar mit Antibiotika abtöten. Aber der Tod der Bakterien setzt Inhaltsstoffe frei, die die Funktionen des menschlichen Gewebes stark beeinträchtigen können – es stirbt immer noch jeder zweite an einer solchen systemischen Sepsis erkrankte Patient. Die Rostocker Forscher versuchen nun, die schädlichen Stoffe der Bakterien zu entfernen. Dafür nutzen sie anspruchsvolle medizinische Geräte aus dem Bereich der Dialyse, die sie weiterentwickeln. Das Blut der Patienten kann damit in Zellen und Plasma getrennt werden. Im Plasma sind die schädlichen Stoffe sowie einige noch lebende Bakterien enthalten, aber sie lassen sich mit Hilfe lebender menschlicher Zellen – außerhalb des Körpers – herausfiltern. Das gereinigte Plasma mit den Blutzellen bekommt dann der Patient. Dieser Weg mit weiterentwickelter Technik war schon in mehreren Fällen erfolgreich.
Vor welchem rechtlichen Hintergrund agiert die regenerative Medizin?
Sie fällt weder unter das Arzneimittelgesetz noch unter das Medizinproduktegesetz. Für die gesamte EU gilt vielmehr eine Richtlinie zu den so genannten Advanced Therapy Medicinal Products, den ATMP. In Deutschland wurde sie in Form des Gewebegesetzes in nationales Recht umgesetzt. Dieses Gesetz enthält Ergänzungen zu fünf bestehenden Gesetzen und regelt, was bei Behandlungsverfahren aus Gentherapie, Zelltherapie oder dem Tissue Engineering zu beachten ist.
Wie läuft die Zulassung der ATMP ab?
Für ganz Europa gibt es ein einheitliches Verfahren: Die Zulassung erfolgt für alle Länder in einem Vorgang über die European Medicines Agency, die EMA, in London. Das soll den gleichzeitigen Zugang zu allen europäischen Märkten ermöglichen. Allerdings hat die Praxis gezeigt, dass es für kleine und mittlere Unternehmen, mit denen wir es in diesem Segment überwiegend zu tun haben, eine große Herausforderung ist, den kompletten Prozess in englischer Sprache zu durchlaufen. Vor der Zulassung durch die EMA können sich Anbieter jedoch von den nationalen Behörden wie BfArM und Paul-Ehrlich-Institut beraten lassen. Und für die klinischen Studien werden die Regeln des Arzneimittelgesetzes angewandt.
Wieviele Produkte sind schon zugelassen?
Bisher sind es ein knappes Dutzend. Aber eine Umfrage ergab, dass rund 300 Anträge in Vorbereitung sein sollen.
Wie sieht das Umfeld aus: Wie leicht bringt man Innovationen aus der regenerativen Medizin in die Krankenhäuser?
Ärzte, die mit diesen Themen schon zu tun haben oder gar Produkte mitentwickeln, sind sehr offen für neue Paradigmen. Ansonsten sind Mediziner, deren Arbeit natürlich sehr stark auf eigenen Erfahrungen beruht, eher konservativ eingestellt. Sobald die regenerative Medizin aber Erfolge vorzuweisen hat, wird sich die Einstellung allmählich ändern.
Welche Rolle hat Deutschland, hat Europa hier im internationalen Vergleich?
Die deutsche Forschungspolitik hat die Bedeutung des Themas schon früh erkannt. Die ersten großen Forschungszentren sind in Hannover, Berlin, Leipzig und Dresden aufgebaut worden. Inzwischen wird auch zum Beispiel in Großbritannien und Spanien in ähnlicher Form geforscht. Die Industrie allerdings ist in den USA und auch in Asien schon weiter, da man dort leichter an Geld für Produktentwicklungen kommt. Daher bekommen wir in den Fraunhofer-Instituten vor allem Forschungsaufträge aus dem Nicht-EU-Ausland. Dort gibt es Konzept, Ideen und die Mittel für Projekte, für die dann die hiesige wissenschaftliche Kompetenz gefragt ist.
Welche Perspektive sehen Sie für die regenerative Medizin?
Das Potenzial für den Einsatz vieler Verfahren der regenerativen Medizin auch im großen Rahmen ist vorhanden. Wie schnell wir vorankommen, wird in Europa und speziell in Deutschland stark davon abhängen, wie sich die Finanzierung der Behandlungen entwickelt. Es gibt schon einige wenige Verfahren, die von Krankenkassen finanziert werden. Aber eine Anerkennung über den Gemeinsamen Bundesausschuss kann sehr langwierig sein, und so lange die Kostenübernahme für eine Therapie durch die Krankenversicherung nicht gesichert ist, wird sie nur punktuell eingesetzt und kann auch ihre Wirksamkeit nur punktuell zeigen. Aber ich gehe davon aus, dass die regenerative Medizin mit manchen Verfahren in zehn, mit anderen spätestens in zwanzig Jahren in der Praxis gut vertreten sein wird.
Dr. Birgit Oppermann birgit.oppermann@konradin.de
Weitere Informationen Über das Translationszentrum für Regenerative Medizin Leipzig (TRM): www.trm.uni-leipzig.de Über die European Medicines Agency: www.ema.europa.eu

Über das TRM Leipzig
Mit Hilfe der regenerativen Medizin können in Zukunft viele Erkrankungen erfolgreich behandelt werden – von dieser Vision sind die Mitarbeiter des Translationszentrums für Regenerative Medizin (TRM) in Leipzig überzeugt. Gewebe, das im Labor gezüchtet wurde, könnte geschädigtes Gewebe im Körper ersetzen, und körpereigene Reparaturprozesse sollen stimuliert werden.
Interdisziplinäre Forschungsvorhaben in den vier Bereichen Tissue Engineering und Materialwissenschaften, Zelltherapien für Reparatur und Ersatz, Regulatorische Moleküle und Delivery-Systeme, Bildgebende Verfahren, Modellierung und Überwachung von Regeneration sollen die Vision wahr werden lassen. Das Spektrum der Projekte reicht von neuen Behandlungsoptionen für neurologische Erkrankungen über die Herstellung regenerativer Implantate für den Bewegungsapparat bis hin zum Ersatz erkrankter Organe und Gewebe.

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  • Regenerative Medizin
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