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„Lieber den Ursachen des Diabetes auf biologischem Weg begegnen“

Volkskrankheit Diabetes: Prof. Helmut Henrichs zu Behandlungsansätzen und neuen Geräten
„Lieber den Ursachen des Diabetes auf biologischem Weg begegnen“

„Lieber den Ursachen des Diabetes auf biologischem Weg begegnen“
Prof. Helmut R. Henrichs ist Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Diabetologische Technologie und war von 1977 bis 2004 Direktor des Diabetes-Zentrums Quakenbrück
Die Zahl der Diabetes-Patienten steigt. Für diejenigen, die Insulin brauchen, sind Pumpen und Hilfsgeräte wünschenswert. Auf lange Sicht wird es laut Prof. Henrichs aber wichtiger, die Krankheitsursachen zu erforschen und zu behandeln.

Herr Professor Henrichs, wie verbreitet ist Diabetes heute, und wie schätzen Sie die weitere Entwicklung ein?

Schätzungen gehen davon aus, dass sich die Zahl der Diabeteskranken weltweit von derzeit rund 150 Millionen in den nächsten 30 Jahren verdoppeln wird. In den Industrieländern haben wir aber heute schon einen Anteil von rund zehn Prozent der Bevölkerung, der erkrankt ist. Die weitaus meisten Patienten sind vom Typ-II-Diabetes betroffen, also der Variante, die als Zivilisationskrankheit gilt. In diesen Ländern ist nur mit einer leichten Zunahme an Erkrankungen zu rechnen. Vom Zuwachs viel stärker betroffen sind Entwicklungs- und Schwellenländer, wo sich der Lebensstil der Menschen gerade so verändert, dass er die Entstehung des Typ-II-Diabetes begünstigt. Der Diabetes vom Typ I hingegen, der häufig schon in jungen Jahren auftritt und ganz andere Ursachen hat, macht unter der Gesamtzahl der Diabeteskranken etwa zehn Prozent aus, und seine Häufigkeit wird in etwa auf dem heutigen Stand bleiben.
Sollte sich die Branche also vor allem um die Typ-II-Diabetiker kümmern?
Nein. Diese sind zwar in der Überzahl, erkranken aber bisher zumeist erst im fortgeschrittenen Lebensalter. Für die in der Regel jungen Menschen, die am Typ-I-Diabetes leiden, muss und kann die Medizin viel tun, um ihre Lebensqualität auf viele Jahre hinaus zu verbessern.
Was sind die drängendsten gesundheitlichen Probleme, die sich ergeben?
Es gibt bei den Typ-I-Diabetikern akute Probleme wie das diabetische Koma oder den Unterzucker, die sofort behandelt werden müssen. Die richtige Dosierung von Insulin, gegebenenfalls mit Pumpen, kann hier viel helfen. Abgesehen davon muss man sich beim Diabetes darüber im Klaren sein, dass es die wichtigste Aufgabe ist, Spätschäden zu verhindern. Das gilt auch für den Typ-II-Diabetes, und es bedeutet unter anderem, dass der Patient selbst frühzeitig handeln muss, obwohl er subjektiv noch keine Beschwerden hat. Wenn er das tut – und dafür braucht er unter Umständen Hilfsmittel –, vermeidet er zum Beispiel Schäden an Augen, Nerven oder im Gewebe, die Amputationen zur Folge haben können. Beim weit verbreiteten Typ-II-Diabetes kann man auch sagen, dass er letztendlich in Gefäßerkrankungen mündet. Die meisten Typ-II-Diabetiker sterben an Herzinfarkt oder Schlaganfall.
Welche Rolle spielt die Krankheit aus finanzieller Sicht?
In Deutschland werden jährlich rund 20 Prozent des Gesundheitsbudgets für die Behandlung von Diabetes-Patienten ausgegeben. Das sind rund 15 Milliarden Euro für Diabetes-assoziierte Kosten. Der Löwenanteil davon entfällt auf Sekundärerkrankungen und Komplikationen – was einleuchtet, wenn man sich die Kosten für eine Amputation vor Augen führt. Die hohe Zahl der Patienten führt aber auch dazu, dass jede neue Behandlungsmöglichkeit das System Riesensummen kostet, sobald sie in der Breite eingeführt wird.
Wie wichtig sind heute Medizingeräte für die Behandlung von Diabetes?
Viele Typ-II-Diabetiker können zunächst mit Medikamenten behandelt werden oder den Krankheitsverlauf durch ihre Lebensführung positiv beeinflussen. Die einzigen notwendigen Geräte, die mir in diesem Bereich einfallen, sind eine Waage und das Blutdruckmessgerät. Für Menschen, die auf die Gabe von Insulin angewiesen sind, spielen Hilfsmittel wie Spritzen, Pens, Pumpen und die Geräte zum Bestimmen des Blutzuckerspiegels natürlich eine große Rolle. Und es ist meiner Ansicht nach sehr gut, dass das Wissen um die aktuellen Werte inzwischen nicht mehr Sache von Labors ist, sondern in den Händen der Patienten selbst liegt.
Sind Sie mit dem, was die Geräte können, zufrieden?
Mit dem, was heute verfügbar ist, haben wir einen sehr guten Stand erreicht und können den Diabetes gut behandeln. Bemerkenswert ist, dass die zur Zuckerbestimmung erforderlichen Blutmengen in den vergangenen 30 Jahren drastisch geschrumpft sind. Heute braucht man nur noch 0,3 Mikroliter, also die Spur einer Spur eines Blutstropfens, für eine Messung. Das erlaubt auch häufigere Kontrollen. Kleine Verbesserungen in Details sind natürlich immer noch wünschenswert, beispielsweise was die Miniaturisierung angeht oder die Benutzerfreundlichkeit.
Neben der Zucker-Messung mit Blutstropfen kamen andere Ansätze ins Gespräch. Wie bewerten Sie diese?
Es hat in den 90er Jahren Versuche gegeben, zu schmerzfreien Verfahren zu kommen, zum Beispiel, indem man Glukose-Moleküle mit Strom oder Ultraschall durch die Haut nach außen bringen und dort erfassen wollte. Die Messung der Zuckerkonzentration in der Gewebsflüssigkeit, dem Augensekret oder dem Urin ermöglicht aber keine zuverlässige Aussage über den Blutzucker. Von daher gibt es derzeit keinen Ansatz, der vermuten lässt, dass wir zu einem unblutigen Verfahren kommen können.
Gibt es überhaupt eine Alternative zur Blutzuckermessung?
Die Blutzuckerwerte geben Auskunft über den Moment. Das kann nützlich sein, einen Patienten aber auch verwirren, da die Werte kurzfristig stark schwanken. Eine längerfristige Einschätzung des Gesamtstatus ermöglicht eine Methode, mit der die Zuckerbindung in den roten Blutkörperchen erfasst wird. Die sind etwa 100 Tage lang im Blutkreislauf und lagern Zucker an, bevor der Körper sie erneuert. Dieser angelagerte Zucker ist wie ein Gedächtnis für die Zuckerkonzentration über einen längeren Zeitraum, und er wird mit dem so genannten HbA1-Wert beschrieben. Erste Geräte, mit denen der Patient seine Werte so einfach selbst messen kann, wie er heute mit den Blutzucker-Teststreifen umgeht, sind in den USA bereits im Einsatz. Das wäre auch für viele Typ-II-Diabetiker hier eine Hilfe, um zu überprüfen, ob sie insgesamt auf dem richtigen Weg sind.
Welche Chancen bietet die automatische Dosierung mit Insulinpumpe?
Die Insulinpumpe galt lange Zeit als letzter Ausweg, wenn alle anderen Möglichkeiten versagt hatten. Heute ist das anders. Die Pumpen sind kleiner und komfortabler, und sie bieten Typ-I-Patienten die Möglichkeit, kontinuierlich oder in kurzen Zeitabständen kleine Mengen an Insulin an den Körper abzugeben. Das entspricht der Biologie viel mehr als die grobe Dosierung mit einzelnen Gaben über Spritze oder Insulin-Pen. Gerade Kindern und ihren Familien gibt das die Chance, die Nacht ohne Sorge vor Unterzuckerung zu verbringen. Es braucht allerdings nicht jeder Typ-I-Diabetiker eine Pumpe.
Unter welchen Umständen sind Pumpen für Typ-II-Diabetiker interessant?
Ein dänischer Hersteller hat eine Pumpe entwickelt, die sich zwar nicht steuern lässt, aber kontinuierlich kleine Mengen Insulin abgibt. Das könnte für die Typ-II-Diabetiker nützlich und bezahlbar sein.
Es gibt Ansätze, den Blutzuckerspiegel mit implantierten Sensoren automatisch zu messen und die Insulingabe aus der Pumpe mit diesen Daten zu steuern. Sind solche Geräte bald verfügbar?
Es gibt dazu einzelne klinische Versuche. Die Regelung des Blutzuckergehaltes im Körper ist aber sehr komplex. Bisher gibt es noch keine Algorithmen, die es erlauben, diese Aufgabe einer Maschine anzuvertrauen. Wir können vielleicht abschätzen, wieviel Insulin vor dem Frühstück mit zwei Brötchen auf dem Teller gegeben werden muss. Vielleicht wird eine Maschine eines Tages über Teaching lernen können, welchen individuellen Bedarf ein Patient in bestimmten Fällen hat, zum Beispiel vor dem Fußballtraining. Aber wir wissen noch nichts darüber, welchen Einfluss komplexe Vorgänge wie Fieber, Freude oder Enttäuschung ausüben. Dennoch wird es in den nächsten Jahren immer wieder kleine Schritte in Richtung Automatisierung geben.
Welche Alternativen zum Spritzen von Insulin halten Sie für interessant?
Eine wirkliche Alternative dazu sehe ich nicht. Versuche, Insulin zu inhalieren, haben sich als Fehlentwicklung erwiesen. Für eine Aufnahme über die Lunge wären große Mengen an Insulin erforderlich, was die Frage nach den Kosten aufwirft. Gleichzeitig wurde die exakte Dosierung in Frage gestellt, die schon ein Husten oder Niesen nach dem Inhalieren stören könnte. Daher haben Patienten und Therapeuten diese Möglichkeit nicht akzeptiert, und so hat der Anbieter sein Produkt trotz hoher Entwicklungskosten schnell wieder vom Markt genommen.
Welches Potenzial haben biologische oder biotechnologische Ansätze?
Bei den Typ-I-Diabetikern ist die Bauchspeicheldrüse geschädigt, und die Beta-Zellen produzieren kein Insulin. Wenn eines Tages die Möglichkeit zur Transplantation von Beta-Zellen geschaffen ist, müsste man diese in jedem Fall einer technischen Lösung vorziehen. Denn von einer künstlichen Bauchspeicheldrüse, von der manchmal schon gesprochen wird, sind wir noch sehr weit entfernt. Die Technik kann aber Teilaufgaben übernehmen. Damit ist sie als Zwischenlösung bis zur Transplantation auf jeden Fall hilfreich und muss weiterentwickelt werden.
Welche auch ganz neuen, noch zu erfindenden Geräte wären hilfreich?
Interessant finde ich einen Ansatz, der zu Insulinpumpen führen soll, die ohne Schläuche auskommen. Es gibt Versuche, bei denen die Pumpe auf die Haut aufgeklebt wird und der Einstich direkt in diesem Bereich erfolgt. Der Verzicht auf die 40 bis 90 Zentimeter langen Schläuche könnte den Komfort der Patienten erheblich verbessern. Abgesehen davon geht es in Zukunft vielleicht weniger um Geräte für die Therapie – die ohnehin mehr den Bereich der Gefäßkranheiten betreffen wird – als vielmehr darum, sich mit den biologischen und genetischen Ursachen des Typ-I-Diabetes zu befassen und diese zu behandeln.
Dr. Birgit Oppermann birgit.oppermann@konradin.de
Weitere Informationen Arbeitsgemeinschaft Diabetologische Technologie AGDT www.diabetes-technologie.de
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