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Krankenhäuser sollten die Genesung besser fördern

Mediziner über Technik
Krankenhäuser sollten die Genesung besser fördern

Krankenhäuser sollten die Genesung besser fördern
Prof. Finnbar C. Martin ist beratender Geriater am Guy’s and St Thomas Hospital in London und Honorarprofessor für Medizinische Gerontologie am King’s College London Bild: Torben Brinkema/Dt. Gesellschaft f. Geriatrie (DGG)
Geriatrie | In Großbritannien werden seit Jahrzehnten Ärzte gezielt im Bereich Altersmedizin ausgebildet. Das Gesundheitssystem profitiert davon, sagt Prof. Finnbar Martin vom Guy’s and St Thomas Hospital in London. Im Krankenhaus müssen sich aber noch viele Dinge ändern, damit auch ältere Patienten dort gute Bedingungen für ihre Genesung vorfinden.

Dr. Birgit Oppermann

Herr Professor Martin, wann sollte ein Patient zum Geriater gehen?
Geriater werden dafür ausgebildet, auch bei komplexen Zusammenhängen die Ursache für bestimmte Beschwerden ausfindig zu machen. Das ist deswegen so wichtig, weil ältere Patienten oft multimorbid sind und sich die einzelnen Erkrankungen gegenseitig beeinflussen. Wenn Sie also eine Vermutung haben, welcher Facharzt Ihnen helfen kann und dieser sagt, Ihre Beschwerden fallen nicht in seinen Zuständigkeitsbereich, könnte Ihnen ein Geriater vielleicht helfen. Das gilt übrigens unabhängig vom Alter: Wir behandeln bei uns auch jüngere Menschen, wenn diese mit unklaren Krankheitssymptomen wie Kopfschmerzen oder dauernder Müdigkeit zu uns kommen.
Was ist am wichtigsten für eine erfolgreiche geriatrische Behandlung?
Wenn viele Erkrankungen gleichzeitig vorliegen, muss man entscheiden, welche Prioritäten in der Behandlung für diesen individuellen Patienten gesetzt werden. Junge Menschen sind da oft sehr klar: Ihr wichtigstes Ziel ist eine möglichst hohe Lebenserwartung. Je älter die Patienten sind, desto mehr gilt es abzuwägen. Wie viele Schmerzen bringt eine Behandlung mit sich? Steht eine weite Reise ins Krankenhaus an? Das spielt neben der Lebenserwartung eine wichtige Rolle. Bei multimorbiden Patienten muss auch berücksichtigt werden, welche Medikamente und Therapien schon eingesetzt werden und welche Nebenwirkungen dadurch zusätzlich zu erwarten sind. Vereinheitlichen lässt sich da wenig. Die Aufgabe des Geriaters ist es, all diese Zusammenhänge zu sehen – und da er nicht in allen Fragen Experte sein kann, muss er auch Spezialisten zu Rate ziehen.
Wie müssen Ärzte ausgebildet sein, um diese Anforderungen zu erfüllen?
In Großbritannien gehört Altersmedizin zum Curriculum, das von der nationalen Regulierungsstelle, dem General Medical Council, vorgegeben wird. Jeder Arzt macht also in der Ausbildung seine persönlichen Erfahrungen mit diesem Thema. Sich auf dieses Gebiet zu spezialisieren, dauert bei uns insgesamt neun Jahre. Diese Zeit ist erforderlich, um die vielfältigen Krankheitsbilder kennenzulernen. Mit diesem Wissen behandeln wir dann aber nicht nur alte Menschen. Und seit gut 25 Jahren gibt es an fast jeder universitären Medizinfakultät in Großbritannien einen Lehrstuhl für Geriatrie. Die Altersmedizin ist also deutlich etablierter als zum Beispiel in Deutschland.
Wo sollten alte Menschen idealerweise behandelt werden?
Auch wenn das Wissen und alle technischen Möglichkeiten im Krankenhaus vorhanden sind, muss man sagen, dass eine moderne Klinik kein guter Ort ist, um zu genesen. Das ganze Umfeld ist technisch orientiert und durchorganisiert. Für das, was in der Versorgung älterer Patienten eine Rolle spielt, ist da meist kein Platz. Man könnte das sogar als ein geradezu gefährliches Umfeld bezeichnen. Da sehr viele Menschen, die zu einer Operation hierhin kommen, über 70 Jahre alt sind, müssen sich meines Erachtens die Krankenhäuser und muss sich auch das Gesundheitssystem besser darauf einstellen und eine andere Art der Versorgung ermöglichen.
Welche Erfahrungen haben Sie mit der häuslichen Behandlung gemacht?
Seit etwa fünf Jahren verfolgen wir bei uns in London ein Konzept, das darauf setzt, eine schnelle Diagnose zu erstellen, den Patienten im Krankenhaus zu stabilisieren und bald nach Hause zu entlassen – mit Unterstützung durch eine über den National Health Service finanzierte Krankenschwester, die bei Bedarf für einige Wochen täglich ins Haus kommt, und weiteren Angeboten für die Genesung wie ein Reha-Team. Das funktioniert bisher gut, und ähnliches hören wir zum Beispiel auch aus Australien, wo solche Ansätze stärker etabliert sind.
Bringt das eine finanzielle Entlastung des Gesundheitssystems?
Das sind die Hoffnungen der Politiker, aber nachweisen lässt sich das meines Wissens bisher nicht. Wir haben dennoch keine andere Wahl, denn es gibt immer mehr alte Menschen mit Erkrankungen, aber nicht mehr Betten in den Krankenhäusern. Daher werden wir beides brauchen: neue Konzepte für die Kliniken und mehr Unterstützung für die Zeit nach dem Klinikaufenthalt.
Welche Rolle spielt die Technik?
In erster Linie zählen Wissen, Fähigkeiten und die innere Einstellung des ärztlichen und pflegerischen Personals, das interdisziplinär zusammenarbeiten muss. Das Potenzial der Technik lässt noch nicht genau erfassen, aber es gibt gute Ansätze, Menschen zu Hause mit Monitoringsystemen zu unterstützen, bei Demenzproblemen für mehr Sicherheit zu sorgen oder automatisch die richtige Tablette aus einem Spender auszugeben, der den Patienten an die Einnahme erinnert.
Welche Technik wünschen Sie sich?
Mein Eindruck ist, dass sich viele Ingenieure mit Lösungen für schwer verletzte oder erkrankte jüngere Menschen beschäftigen. Alte Menschen könnten von Technik aber auch profitieren: Gehhilfen könnten platzsparender und leichter sein, Hindernisse besser überwinden oder so konzipiert sein, dass sie nur für kurze Zeit im Sinne einer Reha-Maßnahme eingesetzt werden. Für die Behandlung zu Hause wären mobile Diagnosemöglichkeiten hilfreich, deren Ergebnisse so zuverlässig sind wie die aus dem Labor.
Was ist aus Ihrer Sicht das spannendste Forschungsthema in Ihrem Bereich?
Wir wissen noch zu wenig darüber, was die Phänomene des Alterns hervorruft. Mit abweichenden DNA-Sequenzen lassen sich die Unterschiede zwischen alternden Patienten nicht erklären – die Epigenetik und damit alles, was im Leben geschieht, spielt eine große Rolle. Daraus könnten sich neue Therapiemöglichkeiten ergeben. Und natürlich ist die Erforschung der Demenz ein sehr wichtiges Thema.
Welche Entwicklung wünschen Sie sich für die Geriatrie?
Dass wir es schaffen, geriatrisches Wissen im gesamten Gesundheitssystem zu verbreiten, dass das Qualitätsmanagement in der Versorgung mehr Bedeutung gewinnt, dass wir verhindern, dass Patienten in die Demenz entgleiten, denn diese Krankheit können wir nicht behandeln. Und wir sollten es schaffen, dass alle Menschen ihre Kraft und ihren Gleichgewichtssinn auch im Alter regelmäßig trainieren, um mobil zu bleiben. Das ist eine wirklich große Aufgabe.
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