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„Einfacheres genügt oft, um verlorene Funktion zu ersetzen“

Technische Orthopädie: Branche braucht einen Prothesen-TÜV
„Einfacheres genügt oft, um verlorene Funktion zu ersetzen“

Leichte, feste Werkstoffe sowie Mikroprozessoren und Computer treiben die Entwicklung modernen Prothesen voran. Doch diese dürfen nicht zu teuer werden oder am Bedarf der Patienten vorbei gehen, meint Professor Hans Henning Wetz.

Herr Professor Wetz, Sie kritisieren, dass die industrielle Forschung im Bereich der Technische Orthopädie teilweise am Bedarf der Patienten vorbei geht.

Ja. Ich fordere schon lange, wenn man orthopädische Hilfsmittel produziert, den Bedarf vorher an der klinischen Notwendigkeit zu messen. Zeigt sich bei der erst nachfolgenden klinischen Prüfung, dass die Entwicklung nicht funktioniert, kann das zu erheblichem Ärger mit dem Hersteller führen, besonders wenn man die Krankenkassen davon informiert. Bei der ersten Mikroprozessor-gesteuerten Beinprothese, dem 3C100 C-Leg, ist es fast schief gegangen, obwohl wir insgesamt gesehen eine sehr enge und offene Kooperation mit der Firma Otto Bock haben.
Kooperieren die meisten Hersteller ausreichend mit den Kliniken?
Nein, da wünschen wir uns noch mehr Kooperation. Besonders, dass sie noch mehr in die universitäre Forschung investieren. Auf diesem Gebiet wird in Deutschland zu wenig getan. Während etwa in Amerika ein großes nationales Forschungsprogramm läuft, bekommen wir hier nur vom Bundesarbeitsministerium Geld für die klinische Prüfstelle für Orthopädische Hilfsmittel, die gerade mal drei Personen beschäftigt. Für ein Land wie Deutschland ist das zu wenig, wenn Sie bedenken, dass im Jahr rund 80 000 Bein- und halb so viele Armamputierte versorgt werden müssen.
Was ist die Aufgabe der klinischen Prüfstelle?
Wir brauchen dringend einen Prothesen-TÜV, der das Sinnvolle hervorhebt und das weniger Sinnvolle in den Hintergrund schiebt. Wir sehen es als Aufgabe der Ärzte und Orthopädietechniker, dem Spiel- und Forschungstrieb der Laboratorien in Forschung und Industrie gewisse Grenzen zu setzen und den Krankenkassen nicht alles zuzumuten. So etwas gab es in Deutschland schon mal mit der Püfstelle für Ersatzglieder nach dem ersten Weltkrieg, die ganz radikal nur das Zweckmäßige, Notwendige zuließ. Wir haben diese Prüfstelle hier nach dem gleichen Gedanken 2002 wieder eingerichtet. Heute ist das allerdings schwieriger, denn man hat sofort die Anwälte der Firma wegen Geschäftsschädigung im Nacken.
Welche Entwicklungen wären aus Ihrer Sicht wünschenswert?
Wichtig ist hier, sich nochmals auf die Frage zu besinnen: Wieviel Prothese ist notwendig, um die verlorengegangene Funktion sowohl im Bereich der Arme und Hände als auch der Beine zu ersetzen? Muss man tatsächlich mit dem größten technischen Aufwand, dem, was vorher da war, so nahe wie möglich kommen? Das wage ich zu bezweifeln, denn die verlorene Hand oder das verlorene Bein ersetzt man niemals. Eine Prothese bleibt eine Prothese und es ist immer ein Hilfsmittel.
Was wäre die bessere Herangehensweise?
Einfacheres genügt oft, um die verlorene Funktion komplett zu ersetzen, und wird auch oft besser von den Patienten akzeptiert. Wir sind beispielsweise durch Mikroprozessor-gesteuerte Prothesen schon an den Grenzen der Belastbarkeit der Solidargemeinschaft angelangt. Eine solche Prothese kostet um die 25 000 Euro. Rechnen Sie das mal auf die Zahl der zu Versorgenden hoch.
Trotzdem waren es die Mikroprozessoren und Steuerungscomputer, die die Entwicklung von Prothesen in den vergangenen fünf bis zehn Jahren vorangebracht haben.
Das ist richtig, und sie bringen den Patienten große Vorteile. Mit ihrer Hilfe gelingt es viel besser, eine Prothese an den physiologischen Bewegungsablauf eines Menschen anzupassen. Ganz intelligent hat man das mit dem C-Leg zum ersten Mal am ehesten erreicht, indem der Computer die Ganggewohnheiten unter Belastung speichert und den Bewegungsablauf des Prothesen-Kniegelenks dem Bewegungsmuster des betroffenen Patienten anpasst. Das hat den Vorteil, dass Sie mit dieser Prothese erstmals gehen und sich gleichzeitig mit jemandem unterhalten können, ohne an die Prothese zu denken. Ein großer Fortschritt für Oberschenkelamputierte, die ständig mit der Angst leben, zu stürzen.
Gibt es vergleichbare Entwicklungen auch schon für Armprothesen?
Da liegt das Problem ganz anders. Die Akzeptanz von Beinprothesen ist sehr hoch, da Betroffene den Verlust der Selbstständigkeit fürchten. Bei Armprothesen sieht das anders aus, Wir haben hier eine Studie mit 460 Patienten gemacht. Nur 58 Prozent davon akzeptieren ihre Armprothese. Rechnet man die Kosten für die nicht akzeptierten Prothesen hoch, entsteht ein erheblicher Schaden.
Woran liegt diese unterschiedliche Akzeptanz von Bein- und Armprothesen?
Die Faktoren sind sehr individuell und der Stigmatisierungsgrad bei Armamputationen viel größer. Hier besteht ein hohes Bedürfnis nach kosmetischen Prothesen — etwa möglichst natürlich aussehende Hände zu haben und damit den erlittenen Verlust unkenntlich zu machen, selbst wenn die nicht funktional sind. Hier helfen besonders Silikone weiter, auch angeregt durch Spielberg-Filme. Es ist verblüffend, was da möglich ist, bis zu scheinbar aus der Haut wachsenden Haaren. Allerdings zahlen die meisten Krankenkassen diese individuelle Versorgung nicht, denn die Kosten liegen schnell vier bis fünf Mal so hoch wie bei konfektionierten Silikonhandschuhen aus dem Regal.
Wie gut sind verfügbare funktionelle Armprothesen?
Es gibt beispielsweise myoelektrische Prothesen, also Fremdkraftprothesen, die durch Batterien getrieben werden, es aber erlauben, durch eigene Muskelaktionspotenziale etwa die Hand zu öffnen und zu schließen und das auch noch sehr fein. Aber sie haben ein hohes Gewicht und erfüllen nicht jeden Zweck bei jeder Tätigkeit. Handwerkliches Arbeiten ist damit praktisch unmöglich.
Gibt es hier Aussicht auf Verbesserungen?
Neuentwicklungen, wie die bereits auf dem Markt befindlichen Fluidhände und noch komplexer gesteuerte Hände, die fast die Bewegung der natürlichen Hand nachahmen, sind in der Entwicklung — da sind Otto Bock und die Fraunhofer-Gesellschaft tätig. Die haben aber wieder das Problem, dass sie ganz toll funktionieren — in der täglichen Erprobung am Patienten aber ihr Ziel verfehlen. Gerade beim Ersatz der Greiforgane erfüllen technisch einfachere Lösungen wie ganz normale Drei-Punkt-Greifer den Zweck.
Monika Corban Freie Journalistin in Rheinfelden
Weitere Informationen Klinische Prüfstelle für Orthopädische Hilfsmittel www.klinikum.uni-muenster.de/index.php?id=toklinischepruefstelle
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