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Mathematik unterstützt die personalisierte Medizin

Personalisierte Medizin
Den optimalen Termin für die Chemotherapie berechnen

Den optimalen Termin für die Chemotherapie berechnen
Prof. Sebastian Sager vom Institut für Mathematische Optimierung der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg leitet das Projekt Mathopt. In dessen Ramen entstand das mathematische Modell für die individuelle Planung einer Chemotherapie (Bild: Jana Dünnhaupt, Uni Magdeburg)
Wie ein Körper auf Wirkstoffe reagiert, ist individuell unterschiedlich. Das beeinflusst den Erfolg medizinischer Behandlungen. Laut Prof. Sebastian Sager können mathematische Modelle, die das Prinzip dynamischer Systeme berücksichtigen, bei der Personalisierung helfen – bis hin zur Entwicklung eines Clinical-Decision -Support-Systems.

Dr. Birgit Oppermann
birgit.oppermann@konradin.de

Herr Professor Sager, wie entstand die Idee, die Mathematik in den Dienst der Medizin zu stellen?

Beruflich gehört es zu meinen Aufgaben, dynamische Systeme mathematisch zu beschreiben. Vor einigen Jahren habe ich im persönlichen Umfeld Einblicke in das Thema Chemotherapie bekommen und gesehen, dass die Behandlung von Patienten mit Blutkrebs einem starren Raster folgt: Ein ausgewähltes Medikament wird in festen Abständen und mit definierten Pausen dazwischen verabreicht. Das hat mich erstaunt. Denn da der menschliche Körper sehr individuell auf Wirkstoffe reagiert, sei es Kaffee oder Alkohol oder ein Medikament, ist der Gedanke der personalisierten Medizin sehr naheliegend. Und so entstand die Frage, ob wir nicht die Mathematik und das Wissen um dynamische Systeme nutzen können, um auch die Abfolge der Medikamentengaben individuell anzupassen.

Was besagt das Prinzip der dynamischen Systeme?

Das lässt sich sehr gut am Beispiel einer Schaukel erklären. Die Schaukel ist ein dynamisches System. Das heißt, ein Schwungholen wirkt sich in unterschiedlichen Momenten auch unterschiedlich aus. Im „richtigen“ Moment erziele ich mit einem bestimmten Maß des Schwungholens den größten Effekt. Erwische ich einen ungünstigen Moment, arbeite ich also gegen die Dynamik des Systems, verpufft die Wirkung gewissermaßen.

Wie sieht das, übertragen auf die Chemotherapie, aus?

Im Prinzip gilt es, für jeden einzelnen Patienten den optimalen Zeitpunkt für die Medikamentengabe zu nutzen. Die Chemotherapie hat ja drei Ziele: Erstens sollen die leukämischen Zellen außer Gefecht gesetzt werden. Dafür soll – zweitens – möglichst wenig Wirkstoff verwendet werden. Weil, drittens, Nebenwirkungen wie die individuelle Schädigung des Immunsystems durch die Chemotherapie gering bleiben sollen. Zwischen allen drei gibt es Wechselwirkungen. Um das System zu optimieren, braucht man also ein mathematisches Modell, das es beschreibt, sowie Marker, die qualitativ zeigen, wie gut ein Ziel mit einem bestimmten Behandlungsmodus erreicht wird. Die ersten Veröffentlichungen mit grundsätzlichen Überlegungen dazu haben wir 2009 eingereicht. Seither haben wir intensiv an dem Thema gearbeitet und können heute sagen: Das mathematische Modell kann zur individuellen Optimierung der Therapie beitragen. Wir haben einen digitalen Zwilling, der die Planung der Behandlung unterstützt.

Künftig geht der Avatar zum Arzt

Welche Daten brauchen Sie, um die Berechnungen anstellen zu können?

Es hat sich in Zusammenarbeit mit Medizinern gezeigt, dass die Zahl der weißen Blutzellen in einer Blutprobe ein guter Marker für unsere Zwecke ist. Damit können wir im Abstand weniger Tage erfassen, wie der Körper auf den Wirkstoff reagiert. Sinkt die Zahl der leukämischen Zellen? Gibt es Schwankungen? Wie reagiert das Immunsystem? Wann lässt die Wirkung des Medikaments nach? Dass die Entwicklungen mit individueller Dynamik laufen, haben die Untersuchungen schon gezeigt. Damit ist klar, dass es sich lohnt, den Ansatz auch weiter zu verfolgen.

Für welche Art von Erkrankung haben Sie Berechnungen angestellt?

Wir haben uns mit verschiedenen Formen von Blutkrebs befasst und Varianten untersucht, die ältere oder sehr junge Menschen betreffen. Auch bei Polycythaemia vera, einer Erkrankung, bei der sich die roten Blutkörperchen unkontrolliert vermehren, greift unser Modell. Aber die Idee, über das Prinzip der dynamischen Systeme eine Therapie zu individualisieren, lässt sich auch auf andere Erkrankungen übertragen. International gibt es Forschergruppen, die ähnliche Ideen verfolgen, um die Insulinverabreichung bei Diabetes-Patienten zu optimieren.

Wo stoßen die Modelle an Grenzen?

Wir haben die Betrachtung der Dynamik bei einem Wirkstoff begonnen. In unserem mathematischen Modell ist viel Wissen zur Wirkweise des Medikamentes, seiner Pharmakokinetik, hinterlegt. Daher lässt sich das Modell nicht einfach auf einen anderen Wirkstoff übertragen. Darüber hinaus nutzt die Medizin auch Kombinationspräparate aus mehreren Wirkstoffen plus Immunboostern in unterschiedlichen Konzentrationen. Das ist ein sehr spannendes Feld, mit dem wir uns schon beschäftigen. Die Komplexität solcher Betrachtungen darf man jedoch nicht unterschätzen. Fertige Modelle dafür findet man in der Literatur nicht. Wir arbeiten aber daran und sind in Kontakt mit medizinischen Zentren in Magdeburg, Erlangen, Ulm und Kopenhagen, wo physiologische Untersuchungen an Zelllinien wichtige Daten liefern.

Digitalisierung in der Medizin: rasant oder ausgebremst?

Welche Art der Auswertung steht hinter Ihren Berechnungen?

Was wir tun, würde ich als Machine Learning bezeichnen. Wir haben medizinisches Expertenwissen in unser Modell integriert. Wir trainieren es mit Patientendaten. Damit können wir abschätzen, wie eine Population von Patienten auf eine Abfolge von Wirkstoffgaben reagiert. Wir sehen aber auch, wo sich das Individuum vom Durchschnitt unterscheidet. Je mehr Daten wir zur Verfügung haben, desto weniger individuelle Daten brauchen wir für eine Vorhersage, wann die nächste Behandlung den größten erwünschten Effekt bei möglichst geringen Nebenwirkungen haben wird.

Lässt sich der Ansatz zu einem digitalen Medizinprodukt weiterentwickeln?

Ja, ich fände es sehr spannend, auf Basis der bisherigen Erkenntnisse zu einem Clinical Decision Support System zu kommen. Damit ließen sich künftig Simulationen ausführen und alternative Behandlungsverläufe vergleichen. Denkbar ist auch eine Kombination mit Omics-Untersuchungen, die heute schon Hinweise für die personalisierte Auswahl des Wirkstoffes geben. Da sehe ich auf jeden Fall Potenzial. Bisher gibt es noch keinen industriellen Partner. Aber jetzt, vor Beginn einer Studie, die wir im Jahr 2024 starten wollen, wäre ein guter Moment für einen Einstieg.


Weitere Informationen

Mehr über die Beteiligten und Arbeiten in der Arbeitsgruppe Mathopt:

www.mathopt.de


Kontakt zum Wissenschaftler:
Prof. Sebastian Sager
Universitätsplatz 2
FMA-IMO
39106 Magdeburg
E-Mail: sager@ovgu.de
https://mathopt.de/Sager

 

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