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„100 Prozent Sicherheit gibt es nicht“

Evidenzbasierte Medizin: Studienergebnisse plus Kommunikation führen zum Ziel
„100 Prozent Sicherheit gibt es nicht“

„100 Prozent Sicherheit gibt es nicht“
Prof. Gerd Antes ist der Direktor des deutschen Cochrane-Zentrums in Freiburg. Es istTeil einnes Netzwerks, in dem Studienergebnisse gesichtet werden
Es mangelt an fundierten klinischen Studien, und deren Ergebnisse sind kaum zugänglich. Was der Medizin weiterhelfen könnte und warum Medizintechniker den Vergleich mit bestehenden Methoden nicht scheuen dürfen, erläutert Prof. Gerd Antes vom deutschen Cochrane-Zentrum.

Herr Professor Antes, was ist der Kern der evidenzbasierten Medizin?

Dem Arzt fundierte Informationen aus großen Studien an die Hand zu geben, damit er bewerten kann, welche Therapie bei einem Patienten den größten Erfolg verspricht. Das beinhaltet mehrere Komponenten: Erstens muss es die Studien geben – was bei weitem nicht immer der Fall ist. Zweitens müssen die Ergebnisse veröffentlicht sein, was nur bei der Hälfte der Studien gegeben ist. Und drittens müssen die Ergebnisse so ausgewertet und zum Beispiel in klinischen Leitlinien zusammengefasst sein, dass jeder Arzt einfach darauf zugreifen kann und damit eine bessere Entscheidungsgrundlage hat. Damit ist keine Bevormundung des Arztes gemeint: Er allein wählt die seiner Ansicht nach aussichtsreichste Therapie. Allerdings müsste er, wenn er sich in einem konkreten Fall anders entscheidet als eine Leitlinie es nahelegt, begründen, warum er das tut. Und die Leitlinie könnte der Einfachheit halber eines Tages sogar als App kommen.
Wie sieht denn der Alltag der Mediziner heute aus?
Es gibt meines Erachtens zu wenige Studien. Und über deren bloße Existenz oder gar die Ergebnisse etwas zu erfahren, ist für Mediziner, aber auch für Patienten – zumindest in Deutschland – fast unmöglich. Das zeigen immer wieder Anfragen bei uns. Die USA betreiben die frei zugängliche Datenbank Medline, die zumindest die Titel der Veröffentlichungen und für viele Artikel auch ein kurzes Abstract enthält. Aber welcher Arzt oder Patient wird dieses englischsprachige Material nutzen?
Wie könnte man die Informationen besser auffindbar machen?
Wir haben vor vier Jahren mit der Arbeit am Deutschen Register für klinische Studien begonnen. Damit wollen wir zum einen laufende Studien sichtbar machen. Zum anderen ist das aber auch als eine Art Geburtsurkunde für eine Studie zu sehen: Das Register zwingt zwar niemanden dazu, seine Ergebnisse auch zu veröffentlichen. Die Öffentlichkeit sollte aber wissen können, welche Studien begonnen wurden. Dann ist es schwieriger, unliebsame Ergebnisse eventuell unter den Tisch fallen zu lassen – was bisher leider immer wieder passiert.
Was ließe sich denn aus solchen begonnenen Studien ableiten?
Wenn ich beispielsweise zur Akupunktur bei Knieschmerzen 20 veröffentlichte Studien finde, die einen leicht positiven Effekt beschreiben, würde ich mich vielleicht für eine solche Therapie entscheiden. Wüsste ich aber, dass 17 Studien begonnen wurden, zu denen nie Ergebnisse auftauchten, legt das die Vermutung nahe, dass in all diesen Fällen kein oder sogar ein negativer Effekt gefunden wurde. Das würde meine Entscheidung sicher beeinflussen.
Wie würde unser Gesundheitssystem aussehen, wenn es über alle Therapien wissenschaftliche Daten gäbe?
Viele der Therapien, die Ärzte heute anbieten, würden nicht mehr ausgeführt, weil längst nicht alle einen Nutzen für den Patienten bringen. Gäbe es genügend große Studien und würden die Ergebnisse kommuniziert, könnten wir die guten Ansätze besser von den schlechten trennen. Das betrifft übrigens alle Bereiche der Medizin, seien das nun Arzneimittel oder alternative fernöstliche Therapien oder eben auch Medizinprodukte.
Können sich denn Therapien ohne Nutzen im Markt halten?
Anscheinend ja. Das zeigt das Beispiel eines Neurostimulators, der gegen Tinnitus helfen soll. Dieses Gerät, das etwa 3000 Euro kostet und auf den ersten Blick aussieht wie ein Walkman, wurde bereits beworben, bevor es eine klinische Studie zur Wirksamkeit gab. Eine Reihe von Ärzten setzte es angeblich erfolgreich ein. Als es dann eine Studie gab, war die meines Erachtens wirklich schlecht gemacht. Und sie konnte keinen Nachweis für die Wirksamkeit erbringen, sondern weckte eher Zweifel. Auf eine angekündigte Wirksamkeitsstudie hierzu warte ich immer noch – aber das Gerät wird weiterhin verkauft.
Wie bewerten Sie die Debatte um die europäische Medizinprodukte-Verordnung?
Ich würde eine Verschärfung der Regeln begrüßen. Meiner Ansicht nach brauchen wir ein Regelwerk für Studien, wie wir es aus dem Arzneimittelbereich kennen, für alle Segmente der Medizin. Ich sehe auch keinen Grund, warum das nicht gehen sollte. Es mag Fälle von Therapien geben, in denen es nicht möglich ist, eine Blindstudie – quasi als Optimum des Studiendesigns – durchzuführen. Das heißt aber nicht, dass es grundsätzlich unmöglich wäre, eine solche Therapie zu untersuchen und zu bewerten. Daten, die so gut wie möglich Auskunft geben, wären für Ärzte und Patienten ein enormer Fortschritt.
Ist es ’nur‘ eine Frage von Zeit und Geld, bis genügend solcher Daten vorliegen?
Alle durchgeführten Therapien zu untersuchen, wäre nur theoretisch möglich. Angesichts von jährlich etwa 20 000 Studienveröffentlichungen allein in der amerikanischen Datenbank Medline muss man sagen, dass es aus zeitlichen und finanziellen Gründen keine vollkommene Abdeckung geben wird. Aber mit jeder Studie wird die Grauzone kleiner, wir kommen ein Stück voran und verbessern immerhin die ‚best available evidence‘. Und da man nicht alles untersuchen kann, sollte man die offenen Fragen priorisieren und die Ressourcen dort einsetzen, wo sie den größten Effekt hätten. Heute wird die Auswahl der untersuchten Therapien leider großenteils von ihrem wirtschaftlichen Potenzial bestimmt. Darunter leiden natürlich Therapien für seltene Krankheiten. Was das angeht, gibt es in Italien einen interessanten Ansatz: Dort ist gesetzlich vorgeschrieben, dass Arzneimittelhersteller ein Prozent ihres Marketingbudgets in einen öffentlichen Fonds einzahlen, mit dem Studien zu Therapien für seltene Krankheiten finanziert werden.
Kritiker sagen, der Durchschnitt nützt nichts, weil Patienten ihm nicht entsprechen.
Die Arbeit mit Durchschnittswerten ist eine Basistechnik und gleichzeitig Herausforderung für alle Wissenschaften, seien das Ingenieurwissenschaften, Physik, Psychologie oder Medizin. Daher sehe ich diesen Punkt nicht als Argument gegen die evidenzbasierte Medizin. Wenn ich die Wahl habe, keine Informationen für eine Entscheidung zu haben oder mit einem Durchschnittswert zu arbeiten, werde ich den Mittelwert als das Beste schätzen, was mir zur Verfügung steht. Allerdings darf man sich nichts vormachen: Auch mit evidenzbasierter Medizin werden wir keine hundertprozentige Sicherheit in der Entscheidung eines Arztes haben. Damit müssen wir lernen umzugehen. Unsicherheit ist unvermeidlicher Bestandteil des Systems!
Helfen moderne Auswerteverfahren wie Big Data weiter?
Das Auswerten von Routinedaten hat sicherlich Potenzial und wird zu wenig verfolgt. Es liefert aber nicht den ultimativen Beweis über die Wirksamkeit einer Therapie. Dafür gibt es zu viele Störfaktoren in diesen Daten. Und je intensiver man diese großen Datenmengen analysiert, desto mehr Auffälligkeiten und Befunde entdeckt man, die pure Zufallstreffer sind. Ob so gefundene Einflussfaktoren tatsächlich den Gesundheitszustand von Patienten beeinflussen, muss dann wiederum durch geeignete Studien nachgewiesen werden.
Welche Rolle sollte evidenzbasierte Medizin für Medizintechnik-Ingenieure spielen?
Sie sollten mit der Einstellung an die Arbeit gehen, ein Produkt zu planen, zu konstruieren und herzustellen, das besser ist als alles, was auf dem Markt ist. Das schließt das konzeptionelle Einverständnis damit ein, dass man sich im Vergleich zu bestehenden Therapien oder einem Wettbewerbsprodukt in einem direkten Vergleich – in einer Studie – durchsetzen muss. Denn der Nutzen für den Patienten ist der größte Wert, an dem sich alle Beteiligten im Gesundheitssystem orientieren sollten.
Wird sich die evidenzbasierte Medizin als Maßstab durchsetzen?
Ja. Aber selbst dann werden Ärzte und Patienten lernen müssen, mit der unvermeidlichen Unsicherheit besser umzugehen, als das heute passiert. Wenn ein Patient ein Herzproblem wie zum Beispiel Vorhofflimmern hat, gibt es drei Möglichkeiten: Nichts tun, was dazu führen kann, dass der Patient nach einiger Zeit am Herzproblem stirbt. Medikamentös behandeln und Nebenwirkungen wie den Schwund an Knochenmaterial in Kauf nehmen. Oder eine Operation am Herzen ausführen, die vollständige Genesung erhoffen lässt, aber ein sehr hohes Operationsrisiko mit sich bringt. Solche Entscheidungen sollte man auf der Basis bestmöglicher Daten fällen und den Patienten einbeziehen, stärker, als es heute passiert. Und je mehr über die Therapien und ihre Wirksamkeit oder auch Nebenwirkungen und Nachteile bekannt ist, desto besser kann sich der Patient seine eigene Meinung bilden. Hundert Prozent Sicherheit für eine schwierige Entscheidung wird allerdings auch die evidenzbasierte Medizin nie bringen.
Dr. Birgit Oppermann birgit.oppermann@konradin.de
Weitere Informationen Über das Deutsche Register für klinische Studien: www.drks.de Über das deutsche Cochrane-Zentrum: www.cochrane.de

Ihr Stichwort
  • Nutzenbewertung von Therapien
  • Strengere Prüfung
  • Auswertung von Studien
  • Kommunikation der Ergebnisse
  • Offen für Vergleich mit anderen Therapien und Produkten

  • Evidenzbasierte Medizin
    Ein Plädoyer für die evidenzbasierte Medizin: Das soll die deutsche Version des Buches „Testing Treatments“ sein. Sie ist kürzlich im Huber-Verlag unter dem Titel „Wo ist der Beweis?“ erschienen. Herausgeber ist Prof. Gerd Antes vom Deutschen Cochrane Zentrum am Institut für Medizinische Biometrie und Medizinische Informatik des Universitätsklinikums Freiburg. Laut Antes soll das Buch dazu anregen, unbequeme Fragen über Therapien zu stellen, Lücken im medizinischen Wissen aufzudecken und sich an der Forschung zu beteiligen. Die vier Autoren gehen unter anderem darauf ein, wie klinische Studien zu Stande kommen und was sie aussagen, welche Ergebnisse in der Praxis verwendbar sind und ob Vorsorgeuntersuchungen immer sinnvoll sind.
    Das Deutsche Cochrane Zentrum (DCZ) vertritt seit 1998 die Cochrane Collaboration (CC) in Deutschland: Dieses internationale Netzwerk von Ärzten, Wissenschaftlern, Methodikern und anderen Gesundheitswissenschaftlern erstellt, verbreitet und aktualisiert systematische Übersichtsarbeiten in der Medizin. Diese werden in der Datenbank The Cochrane Library veröffentlicht und sollen es Akteuren im Gesundheitswesen ermöglichen, den aktuellen Stand der klinischen Forschung in kurzer Zeit objektiv zu beurteilen.
    Die vollständige deutsche Ausgabe des Buches „Wo ist der Beweis?“ ist im Internet frei zugänglich unter: http://de.testingtreatments.org

    Vollständige Studiendaten dienen Forschung und Patienten

    Arzneimittel: Klinische Studiendaten besser zugänglich machen

    Die europäische Zulassungsbehörde EMA (European Medicines Agency) erhält von Arzneimittelherstellern umfangreiche Daten aus klinischen Studien. Auf deren Basis wird über die Zulassung neuer Arzneimittel entschieden. Wie diese Daten veröffentlicht und zugänglich gemacht werden können, beschreibt der Entwurf für einen Leitfaden, den die EMA im Juni 2013 vorgelegt hat. Diesen Entwurf begrüßte das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in seiner Stellungnahme vom 30. September als großen Fortschritt.
    Während in Fachzeitschriften – wenn überhaupt – oft nur handverlesene Studienresultate veröffentlicht werden, enthalten die EMA-Dokumente detaillierte Angaben über Methoden, alle untersuchten Endpunkte und über die Zusammensetzung der Studienpopulationen. Beate Wieseler, Leiterin des Ressorts Arzneimittelbewertung im IQWiG, sagt: „Wir hoffen, dass sich die EMA von den alarmistischen Stellungnahmen der Industrie nicht von ihrem Kurs abbringen lässt.“ Die Alternativvorschläge der Pharma-Industrie reichten nicht aus, um die Probleme mit der mangelhaften Transparenz von Studienergebnissen zu lösen. Das IQWiG schlägt der EMA darüber hinaus vor, nicht nur die Ergebnisse aus Studien ab 2014 in die Regelung einzubeziehen, sondern ihre Informationsarchive für Daten aus klinischen Studien zu öffnen, die bereits früher eingereicht wurden oder die nicht zu einem Zulassungsantrag gehören.
    Um weitere Informationslücken zu schließen, zum Beispiel in der Dokumentation von Studien zu nichtmedikamentösen Verfahren, hoffen die Wissenschaftler des IQWiG auf eine Weiterentwicklung der gesetzlichen Grundlagen für klinische Forschung. Für die Arzneimittelforschung wird am Entwurf der EU-Verordnung „Clinical trials on medicinal products for human use“, der unter anderem eine verbesserte Transparenz von Studiendaten vorsieht, gearbeitet. Ähnliche gesetzliche Regelungen sollten auch für Studien mit nichtmedikamentösen Verfahren geschaffen werden.
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