Startseite » Markt » Auslandsmärkte »

Russland lässt den Rubel rollen

Lokalisierung: Anteil der im Land produzierten Medizintechnik soll sich bis 2020 verdoppeln
Russland lässt den Rubel rollen

Seit Jahren schon investiert Russland Milliardenbeträge, um sein sanierungsbedürftiges Gesundheitssystem zu modernisieren. Die benötigte Medizintechnik kommt bislang überwiegend aus dem Ausland. Das soll sich ändern.

Es fehlt an vielem, vor allem abseits der Metropolen Moskau und St. Petersburg. Davon konnte sich Nathalie Wenzel kürzlich ein Bild machen. Die Geschäftsführerin der Ulmer Russland Experten Consulting GmbH berät und unterstützt Unternehmen bei ihrem Russland-Engagement – und war mit ihrem Team nach Nowosibirsk gereist, um sich aus erster Hand in Sachen Medizintechnik zu informieren. Dass ein Kollege mit einem Sehnenriss behandelt werden sollte, war nicht eingeplant. Im Krankenhaus hieß es warten, es war kein Rollstuhl frei. Die 840-Betten-Klinik hat nur drei Stück.

Aber 2500 Kilometer von der sibirischen Millionenstadt entfernt wird in der Industriestadt Toljatti Rollstuhl um Rollstuhl montiert. 100 000 Stück binnen vier Jahren, Hersteller ist Ottobock. Das russische Gesundheitsministerium war mit der Bitte um ein Investitionsprojekt an das Unternehmen aus Duderstadt herangetreten. Seit Juli 2011 werden auf dem Gelände des Lada-Herstellers AvtoVas Rollstühle zusammengebaut. Die Montageteile kommen noch aus Deutschland. Bis 2014 müsse der Lokalisierungsanteil jedoch über 75 % liegen, erklärt Oliver Jakobi, Managing Director von Ottobock Russland. Die Zahl der Mitarbeiter, die Modelle der Serie „Start“ anfertigen, soll bis Jahresende bereits auf über 60 anwachsen.
Start – nomen est omen, denn noch sind Beispiele wie dieses die Ausnahme. Russland ist für ausländische Hersteller vor allem ein vielversprechendes Exportland. Rund 80 % der benötigten Medizintechnik werden eingeführt, bei Hochtechnologiegeräten wie Magnetresonanztomographen sind es sogar bis zu 100 %. Die Importzahlen schnellen nach oben, die Wachstumsraten für Medizintechnik liegen bei über 13 % jährlich. Nach Angaben von Germany Trade and Invest (GTAI), der Bundesgesellschaft für Außenwirtschaft und Standortmarketing, rechnet das russische Industrieministerium damit, dass sich das Absatzvolumen von 2010 bis 2020 auf jährlich 450 Mrd. Rubel (rund 11 Mrd. Euro) mehr als vervierfacht.
Russlands Spitzenpolitiker bekräftigen immer wieder, dass das Verbessern der Gesundheitsversorgung für sie Priorität habe. Wie die Importzahlen belegen, ist dies kein Lippenbekenntnis und überdies bitter nötig angesichts veralteter, meist staatlicher Krankenhäuser. Der öffentliche Bereich macht rund 95 % des russischen Marktes für Medizintechnik aus, private Anbieter profitieren jedoch vom maroden Zustand vieler öffentlicher Einrichtungen. Laut einem aktuellen GTAI-Branchenbericht sind bis zu 70 % des technischen Inventars verschlissen.
2012 will der Staat Medizintechnik für 195 Mrd. Rubel (5 Mrd. Euro) einkaufen. Deutschland ist Modernisierungspartner. Unternehmen wie Siemens spielen eine wichtige Rolle beim nationalen Gesundheitsprojekt. Der Geschäftsbereich Healthcare erschließt das weite Land über ein Netz aus Repräsentanzen und Niederlassungen. Wesentliches Merkmal der Wachstumsstrategie sei die Zusammenarbeit mit den großen Kliniken und kleinen Krankenhäusern in den Regionen, heißt es bei Siemens Healthcare in Russland. Als wachsender Markt habe die Russische Föderation vor allem Bedarf an mittlerer Technologie und Hightech.
Jeder vierte Rubel, den die Russische Föderation für die Importe ausgibt, fließt nach Deutschland. „5,2 % der Exporte deutscher Medizintechnik gehen inzwischen nach Russland“, sagt Jan Wolter, der Leiter des Spectaris-Fachverbands Medizintechnik. Allein von 2010 auf 2011 seien die Ausfuhren um rund 27 % gestiegen, im Bereich Endoskope habe der Zuwachs sogar 72 % betragen. Großen Nachholbedarf gebe es in allen Bereichen, Russland investiere aber auch über die ganze Bandbreite.
Noch liegt vieles im Argen, doch die staatlich verordnete Gesundheitskur zeigt bereits messbare Erfolge. So hat sich die Lebenserwartung der 140 Millionen Einwohner binnen weniger Jahre deutlich auf 69,4 Jahre verbessert. In der russischen Wirtschaft zeigt die Modernisierungsspritze bislang hingegen wenig Wirkung. Der Löwenanteil der Rubel-Milliarden für Medizintechnik fließt ins Ausland, die 1800 Hersteller im Land sind vor allem im Niedrigpreissegment tätig. Das wird sich gründlich ändern, wenn es nach den Plänen der Regierung geht. Bis 2020 soll sich der Anteil im Lande hergestellter Medizintechnik auf 40 % verdoppeln. Ein Vorhaben, das sich nur Hand in Hand mit ausländischen Unternehmen umsetzen lässt, die Know-how und Investitionsmittel zur Verfügung stellen.
„Russland will Partner sein und nicht nur Käufer. Das hat für mich etwas mit Augenhöhe zu tun“, sagt Nathalie Wenzel. Auch Oliver Jakobi zeigt Verständnis für das Bestreben, den riesigen Bedarf auch durch einheimische Produktion abzudecken. Die Risiken müsse jeder potenzielle Investor für sich kalkulieren. „Wir haben dieses Investment in Toljatti ohne irgendwelche schriftlichen Zusagen seitens offizieller Stellen begonnen“, erklärt der Managing Director von Ottobock Russland. Man habe jedoch mehr Chancen als Risiken gesehen und sei von russischer Seite unterstützt worden.
Ein ganzes Maßnahmenbündel soll Firmen zur Produktion in Russland ermuntern. Anreize wie langfristige Abnahmeverträge gehören ebenso dazu wie Zollbarrieren für ausländische Produkte, die mit inländischen konkurrieren. Bei der Söring GmbH in Quickborn hat man vorhergesehen, dass Russland eines Tages eine eigene Medizinprodukteindustrie aufbauen will. Das mittelständische Unternehmen vertreibt dort seine Hochtechnologie-Geräte für die Ultraschall- und Hochfrequenz-Chirurgie. Auf der Suche nach einem Partner für ein Joint Venture wurde man in Tomsk fündig. Inzwischen produziert der sibirische Partner Phrensys ein älteres Söring-Hochfrequenzchirurgiegerät für den russischen Markt und modernisiert zugleich die Platinen; die Modernisierung fließt an das deutsche Unternehmen zurück.
„Uns war es wichtig, diesen Geräten ein zweites Leben zu geben“, sagt Söring-Geschäftsführerin Natali Salcenko. Die modernisierten Geräte sollen künftig unter dem Namen Phrensys Medical in Tomsk für Russland produziert werden, für Qualitätskontrolle und Vertrieb bleibt Söring zuständig. Von Vorteilen für russische Hersteller sei noch nichts zu spüren. Das könne sich aber schnell ändern und dann sei man bereit, sagt Salcenko: „Vielleicht fehlt einfach noch das Vertrauen im russischen Markt, dass russische Geräte auch gut sein können.“

Ihr Stichwort
    • Exportland
    • Investitionsprojekt
    • Lokalisierung
    • Modernisierung
    • Sanierungsbedarf
    • Wachstumsmarkt
Aktuelle Ausgabe
Titelbild medizin technik 2
Ausgabe
2.2024
LESEN
ABO
Newsletter

Jetzt unseren Newsletter abonnieren

Titelthema: PFAS

Medizintechnik ohne PFAS: Suche nach sinnvollem Ersatz

Alle Webinare & Webcasts

Webinare aller unserer Industrieseiten

Aktuelles Webinar

Multiphysik-Simulation

Medizintechnik: Multiphysik-Simulation

Whitepaper

Whitepaper aller unserer Industrieseiten


Industrie.de Infoservice
Vielen Dank für Ihre Bestellung!
Sie erhalten in Kürze eine Bestätigung per E-Mail.
Von Ihnen ausgesucht:
Weitere Informationen gewünscht?
Einfach neue Dokumente auswählen
und zuletzt Adresse eingeben.
Wie funktioniert der Industrie.de Infoservice?
Zur Hilfeseite »
Ihre Adresse:














Die Konradin Verlag Robert Kohlhammer GmbH erhebt, verarbeitet und nutzt die Daten, die der Nutzer bei der Registrierung zum Industrie.de Infoservice freiwillig zur Verfügung stellt, zum Zwecke der Erfüllung dieses Nutzungsverhältnisses. Der Nutzer erhält damit Zugang zu den Dokumenten des Industrie.de Infoservice.
AGB
datenschutz-online@konradin.de