In den vergangenen Jahren hat sich in Sachen Industrie 4.0 viel getan. Machine-to-Machine-Kommunikation ist in den Fabriken Realität“, sagte Achim Berg, Präsident des IT-Verbands Bitkom auf der Hannover Messe im April. „Jetzt geht es darum, den kompletten Maschinenpark aufzurüsten und ganze Geschäftsmodelle von analog auf digital zu drehen.“ Nach einer aktuellen Umfrage des Verbands unter 553 Industrieunternehmen sind heute 24 % der Maschinen und Anlagen in deutschen Unternehmen mit dem Internet verbunden – und jedes zweite Unternehmen aus dem produzierenden Gewerbe nutzt Industrie-4.0-Anwendungen. Die wichtigsten Treiber für den Einsatz von Industrie-4.0-Lösungen sind die Aussicht auf verbesserte Prozesse (68 %) und verbesserte Kapazitätsauslastung (58 %). Dahinter steht der Wunsch nach einem höheren Automatisierungsgrad in der Fabrik. Die Zahlen sorgen beim Bitkom allerdings nicht für Euphorie: „Auch wenn sich viele Unternehmen mit Industrie 4.0 auseinandersetzen, so zeigt unsere Studie doch, dass oft nur einzelne Projekte in Angriff genommen werden“, so Berg.
Diese Einschätzung teilt die Wissenschaftliche Gesellschaft für Produktionstechnik (WGP): „Industrie 4.0 ist noch lange nicht umgesetzt“, kritisiert Prof. Berend Denkena, WGP-Präsident und Leiter des Instituts für Fertigungstechnik und Werkzeugmaschinen der Leibniz-Universität Hannover. „Die dafür notwendigen Hochtechnologien finden nur schwer den Weg in den Mittelstand“, moniert Prof. Jörg Krüger, der das Geschäftsfeld Automatisierungstechnik des Fraunhofer IPK leitet. Wenn man bei Firmen nachfrage, hört man oft: „Wir sind gerade bei Industrie 2.0 oder 3.0 angekommen.“
Jährlich 10 % mehr an
Produktivität erreichbar
Dabei verspricht Industrie 4.0 einen deutlichen Produktivitätsschub: Laut der Siemens-Studie „The Digitalization Productivity Bonus: Sector Insights“ können Fertigungsunternehmen durch Automatisierung und Digitalisierung ihrer Produktionssysteme eine jährlich Produktivitätssteigerung von bis zu 10 % erreichen.
Zum Teil ist noch mehr drin, wie ein Beispiel aus dem digital vernetzten Werkzeugbau zeigt, das auf der Automatica in München vom 18. bis 22. Juni 2018 zu sehen ist: Für das Einbringen von Entlüftungsbohrungen an Umformwerkzeugen bei Audi kamen in der Vergangenheit Radialbohrwerke zum Einsatz. „Das Verfahren ist nicht automatisierbar, zeitintensiv und mit hohem Personalaufwand verbunden“, erklärt Gereon Heidrich, Leiter Maschinentechnik im Kompetenzcenter. Diese Tieflochbohrungen setzt seit kurzem ein hochpräziser Industrieroboter von Stäubli. Der Vorteil der durchgängig digitalen Prozesskette: Die Positionen für die Bohrungen, die früher aufwendig in der Werkshalle bestimmt werden mussten, lassen sich heute bereits bei der Werkzeugauslegung im CAD-System festgelegen und in das Offline-Programmiersystem der Roboterzelle übernehmen. Das Ergebnis ist eine Reduzierung der Durchlaufzeiten von rund 60 %. Das Praxisbeispiel stammt zwar aus der Automobilindustrie, lässt sich aber durchaus auf die Medizintechnik übertragen.
Automation erleichtert Prozessvalidierung
Ein für die Medizintechnik ebenso wichtiger Aspekt der Automatisierung ist das Plus an Prozessvalidierung, wie ein anderes Beispiel von der Automatica 2018 belegt: Durch die Kombination moderner Kamera- und Beleuchtungstechniken sowie Algorithmen lassen sich mit dem Multicount System von VTM Vision Machine Technic Vials und Ampullen sicher und zuverlässig zählen, bevor sie verpackt werden. Das System kann separat oder in Produktionslinien integriert eingesetzt werden und zeichnet sich durch große Flexibilität hinsichtlich Anordnung, Größe, Material und Farbe der Behälter aus. Alle Messungen und Ergebnisse werden protokolliert und dokumentiert. Durch dieses computergestützte Bilanzierungssystem werden die manuellen Zählverfahren ersetzt sowie vollständig und sicher automatisiert.
„Um Fehlerquellen bei der Herstellung auszuschließen, setzen wir auf vollautomatisierte Prozesse. Dadurch erreichen wir ein gleichbleibendes Qualitätsniveau mit äußerst geringen Toleranzen sowie eine prozesssichere und zugleich wirtschaftliche Fertigung“, bestätigt Dr. Franz Kugelmann, Leiter Technologie Entwicklung bei Fresenius Medical Care. Bei der Montage von Dialysatoren sind Sechsachs-Roboter von ABB und Scara-Roboter von Epson im Einsatz. Letztere übernehmen unterschiedliche Aufgaben, angefangen von der Montage und Handhabung über die Beschickung von Anlagenteilen bis hin zur Verpackung.
Den nächsten großen Schub für die industrielle Automatisierung versprechen sich Experten von der Verzahnung von Robotern mit künstlicher Intelligenz. Das Ziel bei kollaborierenden Robotern sind Maschinen, die nicht nur sensibel genug sind, um einen potenziell schädlichen Kontakt zu vermeiden.
Komponenten sollen
intelligenter werden
„Eine besonders spannende Aufgabe ist es, den Prozess zu vereinfachen, Robotern diverse Aufgaben beizubringen“, sagt Samuel Bouchard, CEO des kanadischen Anbieters Robotiq. „Wir nutzen momentan noch sehr einfache Anweisungen. Dafür ist viel Fachwissen erforderlich. Lässt sich bei Robotern jedoch ein höheres Abstraktionsniveau erreichen, gestaltet sich die Zusammenarbeit viel einfacher. Die Herausforderung besteht darin, die verschiedenen Komponenten mit mehr Intelligenz auszustatten.“
Robotiq ist auch ein Beispiel für einen weiteren Trend – nämlich die Eintrittsbarrieren in die Automatisierung zu senken – etwa durch einfaches Programmieren und günstige Standard-Roboter. Das Dresdner Startup Wandelbots, eine Ausgründung der TU Dresden, verfolgt dieses Ziel. Es setzt Wearables als Controller für das Training der Cobots ein. In der Gläsernen Manufaktur von Volkswagen sollen damit neue Anwendungen der Mensch-Rotober-Kollaboration in der Fahrzeug-Endmontage beim Elektro-Golf zur Serienreife gebracht werden.
Mit der Jacke den Roboter programmieren
Die intelligente Kleidung ist mit Sensoren und Aktoren bestückt. Die Sensoren erfassen menschliche Bewegungen in Echtzeit, die Aktoren ermöglichen haptisches Feedback. Die Sensordaten werden drahtlos an Software übertragen, die einen Roboter steuert. „So kann einem Roboter eine Aufgabe durch Vor- und Nachmachen beigebracht werden“, erklärt Christian Piechnick, Geschäftsführer von Wandelbots. Aus den Daten mehrerer Trainingsläufe entsteht ein Automatisierungsprozess. Auch kann sich der Roboter an individuelle Anforderungen menschlicher Kollegen anpassen. „Wir erhoffen uns von der Kooperation, Automatisierungsprojekte schneller und mit deutlich reduziertem Aufwand zur industriellen Anwendung zu bringen“, sagt Marco Weiß, Leiter New Mobility und Innovation der Gläsernen Manufaktur.
Grafik: Bitkom
Weitere Informationen
Zur Messe Automatica:
Zum IT-Branchenverband Bitkom:
Zum Hersteller VTM:
Zum Hersteller Wandelbots:
Zum Hersteller Robotiq:
Cobots auf dem Vormarsch
Nicht mehr nur programmierte Prozesse ausführen, sondern auf den Menschen reagieren: Mit Sensoren ausgestattete Collaborative Roboter (Cobots) eröffnen eine völlig neue Form der Zusammenarbeit – in der Fabrik, aber genauso im OP oder in der häuslichen Pflege. „In Zukunft werden wir nur noch mit dem Roboter sprechen müssen, und dieser erledigt dann die ihm gestellte Aufgabe“, ist Francesco Ferro, CEO von PAL Robotics, überzeugt. Die Roboter des Unternehmens aus Barcelona lassen sich beispielsweise im Gesundheitswesen einsetzen. So haben sich die Spanier an dem von der EU geförderten Projekt „Grow Me Up“ beteiligt, das einen erschwinglichen Roboter für Ambient-Assisted-Living-Umgebungen entwickelt und getestet hat. Der Roboter heißt Growmu: Er wird ständig von den sich verändernden Gewohnheiten älterer Menschen mit leichten körperlichen oder kognitiven Defiziten lernen, um seine Funktionalitäten anzupassen und ihnen somit Unterstützung in ihrem täglichen Leben zu bieten. Das System stellt eine anpassungsfähige und intelligente Dialogkomponente bereit, die aus früheren Interaktionen lernt. Growmu setzt Dialoge mit erkannten Emotionen während der Kommunikation in Beziehung, um wie ein Mensch emotionale Bindungen mit seinem Gegenüber aufzubauen.
Automatica Forum 2018
Von kollaborierenden Robotern bis zur smarten Maschine reicht das Spektrum der Themen im Automatica-Forum, das die Konradin Mediengruppe organisiert. Mit Fachvorträgen und Podiumsdiskussionen liefert es an allen vier Messetagen vom 19. bis 22. Juni 2018 Expertenwissen aus erster Hand. Best-
Practice-Beispiele, wichtige Branchentrends und technologische Innovationen werden vorgestellt und diskutiert, darunter die digitale Transformation, künstliche Intelligenz und smarte Daten, MRK und Service Robotik sowie Industrie 4.0.
Vollständiges Programm: