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Zurück aus der eigenen Zukunft

Alterssimulation: Medizinprodukte erleben wie ein Senior
Zurück aus der eigenen Zukunft

Gut ausgebildet, um die 30, voller neuer Ideen. Eine gute Basis für einen Entwicklungsingenieur, sofern er nicht Produkte für ältere Menschen gestalten soll. Deren spezielle Bedürnisse erschließt erst eine kleine Zeitreise im Simulationsanzug – die eine Rückkehr in die Gegenwart mit neuen Erfahrungen garantiert.

„Oje, mein Kreuz! Ihr habt ja keine Ahnung, wie das im Alter ist.“ In Omas oder Opas kurzem Seufzer nach dem Mittagsschlaf steckt ein Kernproblem von Entwicklungsabteilungen – denn der beklagte Mangel an Wissen um das Lebensgefühl von Senioren betrifft viele Bereiche der Industrie, unabhängig davon, ob sie nun Automobile, Lebensmittel oder Medizinprodukte herstellt.

Max könnte hier helfen. Max, das ist ein an der TU Chemnitz entwickelter Alterssimulationsanzug, der Jüngere fühlen lässt, dass Altern mehr bedeutet als Falten und graue Haare: eingeschränktes Blickfeld, weniger Sehschärfe, sich versteifende Gelenke, die jede Bewegung erschweren. Dazu das Gefühl, dass das Aufstehen eine immense Anstrengung ist. Weniger Gefühl in den Fingerspitzen, keine Kraft in der Hand… Was das in der Summe heißt, ist für einen sportlichen 30-Jährigen kaum vorstellbar. Erst nach dem Anlegen von Gewichten, Gurten, Handschuhen und einer speziellen Brille begreift der Träger eines Simulationsanzuges, wieso Senioren bestimmte Verpackungen nicht öffnen können, sich auf einem Touchscreen nicht zurechtfinden oder eine mit schickem Goldstreifen hinterlegte Schrift auf der Schachtel niemals entziffern werden.
Nun sind Alterssimulationsanzüge nichts grundlegend Neues, es gibt entsprechende Ansätze seit über zehn Jahren. Die Mitarbeiter von Prof. Birgit Spanner-Ulmer, die den Lehrstuhl Arbeitswissenschaft an der TU Chemnitz innehat, wollten aber einen Schritt weiter gehen und haben in Zusammenarbeit mit Partnern aus der Fahrzeugindustrie für ihren Anzug Erkenntnisse aus über 200 Studien berücksichtigt.
„Wir simulieren mit unserem Altersanzug nicht den 70- oder den 60-Jährigen“, erläutert Christian Scherf, der das Projekt an der TU Chemnitz betreut. „Aus unseren Forschungen wissen wir, dass die individuelle Leistungsfähigkeit mit zunehmenden Alter stark variiert.“ Aus diesem Grund werde kein bestimmtes Alter abgebildet, sondern Einschränkungsgrade würden simuliert: Jemand sieht vielleicht schlecht, ist aber noch sehr beweglich. Solche Bedingungen lassen sich mit einem modular aufgebauten Anzug nachstellen. „Folglich ergeben sich theoretisch nahezu 1000 verschiedene Kombinationsmöglichkeiten“, so Scherf. Darüber hinaus seien auch die Testpersonen nicht immer gleich alt: Ein Proband Ende Vierzig braucht andere Einstellungen für die Simulation eines 65-Jährigen als ein 25-Jähriger.
Wie sich das in etwa anfühlt, haben mit Hilfe von Max bisher vor allem Lernwillige aus dem Bereich der Automobilindustrie erfahren: Als Prototyp hat er seine Praxistauglichkeit im Jahr 2008 bei mehr als 70 Einsätzen an der Autouni unter Beweis gestellt.
Inzwischen sind zehn Anzüge hergestellt worden. Sie werden regelmäßig für eigene Projekte und Tests eingesetzt, bei der Volkswagen Konzernforschung, in der Audi Produktionsplanung und bei der AutoUni. Die Wolfsburg AG setzt die Anzüge bei internen und externen Veranstaltungen ein sowie zum Zweck der Marktforschung. Unternehmen, Kommunen und Bildungsträger buchen die Anzüge auch für Schulungen.
Dass der Anzug Max modular aufgebaut ist, hat bei solchen Workshops einen sehr praktischen Aspekt. „Wenn man eine Art Raumanzug aus einem Stück anziehen soll“, sagt Scherf, „ist das sehr zeitaufwendig.“ Darüber hinaus beginne man schnell zu schwitzen. Und selbst wenn sich ein Aha-Effekt über die Folgen des Alterns sofort einstelle, tragen die meisten Personen den Anzug bei Schulungen doch für etwa 20 Minuten, in denen sie sich nach einem Gegenstand bücken, aus einem Stuhl mit Rollen aufstehen oder vielleicht versuchen, ein gewöhnliches Handy zu bedienen.
Anfragen für solche Seminare zur Alterssimulation mit Max bearbeitet die Wolfsburg AG. Bedarf gibt es nicht nur unter den Automobilisten, sondern in ganz unterschiedlichen Branchen, berichtet Shanna Weiser, die im Bereich Gesundheitswirtschaft und Demografie tätig ist und den Einsatz der Anzüge koordiniert. Altenpflegeschulen, die das Verständnis des Pflegepersonals für die Nöte der alten Menschen verbessern wollen, fragen ebenso an wie Krankenhäuser oder Konzerne aus dem Pharmabereich. Unternehmen können den Anzug mit unterschiedlichen Beratungsleistungen buchen, für die Produktentwicklung, um Mitarbeiter zu sensibilisieren oder Arbeitsabläufe zu optimieren. „Die Zeitreise mit Max lohnt sich“, verspricht Weiser.
Ein Einsatzfeld für Max ist auch die Medizintechnik. Experten rechnen damit, dass nicht nur mehr Medizinprodukte im privaten Bereich eingesetzt werden, sondern vor allem die Zahl der Senioren unter den Anwendern wächst. In einem vom deutschen Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie in Auftrag gegebenen und im Jahr 2009 veröffentlichten Gutachten steht die demographische Entwicklung als einer der Hauptwachstumstreiber neben dem medizinisch-technischen Fortschritt. Und für die Bundesrepublik Deutschland fasste das statistische Bundesamt die Lage im November 2009 in Zahlen: Demnach sind heute bereits 20 % der Bevölkerung 65 Jahre oder älter. In den kommenden beiden Jahrzehnten wird der Anteil älterer Menschen deutlich steigen. Im Jahr 2060 werde jeder Dritte mindestens 65 Lebensjahre durchlebt haben – jeder Siebente werde sogar 80 Jahre oder älter sein. Und laut der Studie Medica 2015, in der die Messe Düsseldorf die Perspektiven für den Branchentreff ausloten ließ, wird nicht nur die Globalisierung prägend sein: Bedeutend ist auch die wachsende Zahl älterer Menschen, für die neue und innovative Produkte gebraucht werden.
Gründe gibt es also genug, sich mit den Bedürfnissen der Älteren genauer zu befassen. Allerdings ist die Nachfrage für Tests, mit denen sich bewerten lässt, ob ein Produkt seniorengerecht ist, bisher erstaunlich gering. Das hat der Ergonom und Designer Wolfgang Moll aus Ingolstadt beobachtet – sowohl während seiner Jahre als Mitarbeiter in der Automobilindustrie als auch in seiner Tätigkeit als selbstständiger Spezialist für seniorengerechte Produkte. „Wir haben da einen enormen Nachholbedarf, nicht nur im häuslichen Umfeld“, sagt Moll. Dass ein älterer Mensch lieber einen niedrigen Einstieg in seine Dusche haben möchte, leuchte vielen ein. Über Alternativen zu einer Folientastatur im Bedienfeld eines Gerätes nachzudenken, falle schon schwerer – obwohl Knöpfchen oder knackende Einstellgeräusche für ältere Menschen viel einfacher zu erfassen wären als das verborgene Geschehen unter der Folie.
Was die Bewertung heutiger Produkte angeht, hat laut Moll manch einer „Angst vor der Wahrheit“, sicher auch, weil man vor den Kosten einer Weiter- oder Neuentwicklung zurückschrecke. „Dabei ist das Entscheidende, überhaupt die Defizite zu erkennen. Denn für die Umsetzung hat man vielleicht noch Zeit bis zur nächsten Produktgeneration.“ Riskant sei daher nur, vor dem Problem die Augen zu verschließen. „Den Service, einfache Messungen in einer Arztpraxis durchführen zu lassen, wird das Gesundheitssystem bald nicht mehr finanzieren können“, meint der Ingolstädter. Und dann sind Medizinprodukte im Vorteil, die sich an den Anforderungen älterer Nutzer orientieren.
Dabei geht es manchmal nur um kleine Dinge, eine wenige Millimeter breitere Lasche, mit der sich die Verpackung leichter öffnen lässt zum Beispiel. Oder darum, dass lediglich der Blickwinkel ein wenig verändert wird und das Produkt am Ende nicht speziell für Senioren ausgelegt ist, sondern für alle Nutzer interessanter wird als das Konkurrenzprodukt. Unter dem Begriff „Design für alle“ wird dies an verschiedenen Stellen schon diskutiert.
Für ein Design mit möglichst wenig Hürden sprechen eventuell auch Gründe der Vermarktung. Denn: „Ein Produkt, das seniorengerecht gestaltet ist, lässt sich sehr gut auch einer Klinikleitung gegenüber argumentieren“, sagt Dr. Gundolf Meyer-Hentschel. Mit seinem Alterssimulationsanzug Age-Explorer ist er ein Pionier auf diesem Feld. Und wenn ein Patient mit einem medizinischen Gerät auch allein zurechtkomme, müsse seine Betreuung in Zukunft nicht mehr so intensiv ausfallen wie heute, so der Leiter des Saarbrückener Meyer-Hentschel-Institutes.
Ihre Erfahrungen mit dem Age-Explorer hat beispielsweise die Mannheimer Roche Diagnostics schon vor einigen Jahren gemacht, als es darum ging, Produkte zur Blutzuckermessung zu optimieren. Dabei war die Simulation ein Schritt auf dem Weg, die vorher ermittelten Kundenanforderungen technisch umzusetzen. „Eine kürzere Messzeit ist eine klare Forderung“, berichtet Norbert Lorenz, der bei den Mannheimern für die entwicklungsbegleitende und strategische Marktforschung zuständig ist. Wie aber der Wunsch nach „einfacher Bedienbarkeit“ umzusetzen sei, hätte erst der Age-Explorer gezeigt. „Das Handling der Teststreifen zum Beispiel war gar nicht so einfach, wie Jüngere sich das immer vorgestellt haben“, sagt Lorenz. Aus dieser Beobachtung entstand die Idee, eine Messung zu ermöglichen, die ohne das Einfädeln dieser Streifen auskommt – was für die Akku-Chek-Geräte in Form einer Trommel mit integrierten Teststreifen auch umgesetzt wurde.
Technische und wirtschaftliche Überlegungen lassen es also sinnvoll erscheinen, jüngere Ingenieure am eigenen Leib erfahren zu lassen, was hinter dem Seufzer „oje, mein Kreuz“ so alles steckt. Wenn allerdings in wenigen Jahrzehnten die Grauhaarigen die Arbeitswelt und den Alltag beherrschen, wird vielleicht das Gegenstück eines Alterssimulationsanzuges erforderlich werden. Vielleicht fängt ja schon mal jemand an, eine Jugend-Erinnerungs-Maschine zu konzipieren.
Lieber neue Ideen für Folgeprodukte als Angst vor der Wahrheit
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