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Wie am Himmel, so auf Erden

Technik aus dem All: Weltraumforschung und Medizintechnik arbeiten zum beiderseitigen Vorteil zusammen
Wie am Himmel, so auf Erden

Entwicklungen, die sowohl für die irdische Medizin als auch für den Einsatz im All konzipiert sind, haben Konjunktur. Unternehmen und Raumfahrtbehörde profitieren von entsprechenden Kooperationen – und Anlaufstellen gibt es viele.

Pille war sein Spitzname: Dr. McCoy, Bordarzt auf dem Raumschiff Enterprise, war um ein futuristisches Gerät nie verlegen, das auch die heikelsten Krankheiten binnen Kurzem heilte. Diese Figur passte bestens in die 60er- und 70er-Jahre, als die Raumfahrt beinahe vorbehaltlos als fortschrittlich galt und sie ihr mit hohen Investitionen erworbenes Wissen anderen Industrien zur Verfügung stellte. Seit der wirtschaftliche Nutzen der Raumfahrt in Zweifel gezogen wurde, hat dieses Hightech-Image ein paar Schrammen bekommen. Dennoch lohnt sich immer noch die Frage, wo sich aus diesem Gebiet Ansatzpunkte für neue Produkte ergeben, auch und gerade für die Medizintechnik.

Besonders spannend ist heute laut Frank M. Salzgeber, Leiter des Technologietransfer-Programms der europäischen Raumfahrtagentur ESA, der interdisziplinäre Austausch. „Sensoren, die für den Triebwerkbau entwickelt wurden, werden zum Messen von Gasen eingesetzt“, sagt der Experte. Hochkomplexe miniaturisierte Kameras aus der Internationalen Raumstation ISS eignen sich zur Diagnose, und Formgedächtnismetalle, die zunächst als temperaturabhängie Aktoren ihren Dienst versahen, lassen sich ebenfalls als Stents nutzen, um die eingeschränkte Funktion von Arterien wiederherzustellen.
Dieses Überschreiten der Disziplinen mache den Technologietransfer heute komplexer, als er in früheren Jahren gewesen sei. Ein Medizintechniker komme schließlich nicht ohne Weiteres mit einem Triebwerksingenieur ins Gespräch. „Hier setzt aber unser Transfer an“, erläutert Salzgeber, der über das ESA Technology Transfer Programm einen kostenlosen Vermittlerdienst für die Industrie anbietet. Den Charme dieses Programms sieht Salzgeber darin, dass „Innovation nicht immer heißt, etwas Neues zu erfinden, sondern etwas Existierendes innovativ wiederzuverwenden.“ Daraus ergebe sich ein großer Markt für die Raumfahrttechnik auf der Erde.
Der Austausch muss aber nicht immer interdisziplinär sein. Eine Verbindung zwischen Raumfahrt-Medizin und Medizintechnik-Industrie wird derzeit beispielsweise für ein Blutentnahmegerät gesucht, dessen Entwickler zunächst eine Anwendung im All vor Augen hatten. „Wir betreuenden Ärzte würden Astronauten auch in der Schwerelosigkeit gern arterielles Blut abnehmen können“, sagt Volker Damann, der bei der ESA das Team der Astronauten-Crewärzte leitet. Mit Hilfe solcher Proben könne man die Sauerstoffsättigung im Blut messen, toxikologische Untersuchungen durchführen oder auch die Fitness prüfen. Nur sei an Bord eben kein Fachmann, dem man den Stich in die Arterie gern anvertrauen würde.
Ein brasilianisches Ärzteteam fand für diese Anforderungen eine leckagefreie Lösung. Das Gerät bringt 2 bis 5 mm lange Schnitte ins Ohrläppchen ein. Durch Kapillarkraft gelangt das Blut auf Standard-Blutteststreifen, die ein Analysegerät auswertet. Verschüttet wird dabei nichts, und auch Nachblutungen gab es keine. Daher sind die Entwickler der Ansicht, dass so ein Gerät nicht nur die Diagnose im All, sondern auch Untersuchungen in Notfallsituationen oder Katastrophengebieten verbessern könnte. Um das heute am Kings College in London ansässige Team wurde ein Unternehmen gegründet, und dieses sucht Industriepartner, um die Entwicklung fortzuführen und sie auch für den Einsatz auf der Erde fit zu machen.
Ob interdisziplinär oder nicht – wer sich für die Technologien aus der Raumfahrt interessiert, kann sich mit den Technologie-Brokern der ESA in Verbindung setzen. Sie sind in ein gesamteuropäisches Netzwerk eingebunden, in dem fünf Vermittlerorganisationen in fünf europäischen Ländern zusammenarbeiten und den Kontakt zu nationalen Technologietransfer-Initiativen halten. Koordinator des Netzwerkes ist die MST Aerospace GmbH in Köln. „Falls einer Medizintechnik-Firma ein Thema unter den Nägeln brennt, kann sie unter www.technology-forum.de eine Anfrage starten“, sagt Salzgeber. Dann werde der zuständige ESA-Vermittler aktiv und suche passende Ansprechpartner aus der Raumfahrtbranche.
Spezialwissen bietet ebenfalls das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Köln an, dessen rund 6000 Mitarbeiter sehr viel technisches Know-how nutzen – aus der Luft- und Raumfahrt, aber auch aus den Bereichen Energie und Verkehr. „Wir haben die Möglichkeit, diese Technologien in andere Branchen zu übertragen“, sagt Dr. Dietmar Heyland, zentraler Ansprechpartner für das Technologiemarketing. An der Schnittstelle zwischen Raumfahrt und Medizin hat das DLR besondere Expertise in Sachen Telemedizin, die nicht nur zur Betreuung der Astronauten dienlich ist. Da geht es unter anderem darum, Untersuchungsdaten an Experten in einem Zentrum weiterzuleiten. An anderer Stelle wird erforscht, wie ein Chirurgieinstrument vom Spezialisten bedient werden kann, dessen Bewegungen ein Roboter nachvollzieht und ähnliches mehr.
Ein Austausch zwischen Raumfahrt und Medizintechnik findet zuweilen aber auch in Richtung All statt: Ein Beispiel dafür ist das Trainingsgerät Galileo, das die Pforzheimer Novotec Medical GmbH entwickelt hat. Der Patient steht auf einer wippenden Scheibe, die alle 600 Muskeln anregt, die beim Gehen gebraucht werden. „Man könnte von einer komprimierten Form des Gehens sprechen“, erläutert Geschäftsführer Harald Schubert. Bei etwa 20 Muskelkontraktionen pro Sekunde lässt sich so in wenigen Minuten ein 3-km-Lauf simulieren, ohne dass der Patient Energie aufwenden muss – was für den Muskelaufbau bei geschwächten Patienten besonders wichtig ist.
Das Patent für dieses Gerät hatten die Pforzheimer bereits Mitte der 90er Jahre angemeldet. Der Kontakt zur Raumfahrt kam später – über den Radiologen und Osteroporose-Experten Prof. Dieter Felsenberg, der an der Berliner Charité tätig ist und in verschiedenen Projekten mit der ESA kooperiert. Als Vorbereitung für Langzeitmissionen ins All erfasste Felsenberg die Auswirkungen der Schwerelosigkeit auf den Bewegungsapparat der Astronauten in einer so genannten Bettruhe-Studie: Die mangelnde Beanspruchung der Muskeln im All wird dabei durch langes Liegen simuliert. Gesucht waren Mittel, die dem Schwund der Muskeln und Knochen entgegenwirken. „Mit Medikamenten ist da nichts zu machen. Daher kam unser Gerät ins Gespräch“, berichtet Schubert. Mit einer Spezial-Version trainierten die Probanden der Bettruhe-Studie drei Mal die Woche, mit Erfolg.
Dieses Experiment war für Novotec der Einstieg in eine besondere Welt: „Die Kooperation mit der ESA bringt uns in Kontakt mit sehr modernen Technologien, die andernorts wahrscheinlich erst in fünf bis zehn Jahren zum Tragen kommen werden“, berichtet Schubert. In seinem Projekt sollen neue Trainingsgeräte entwickelt werden. „Dafür bekommen wir Fördermittel, haben Kontakt zu Unternehmen aus Ländern der EU und Zugang zu physiologischen Daten, die wir als Mittelständler allein nie erheben könnten.“ Mit solchen Informationen ließen sich natürlich auch die Geräte für den Einsatz in der Reha oder der allgemeinen Medizin verbessern. „Eine solche Verbesserung ist, dass wir Sensoren integriert haben. Damit ist der Schritt von der reinen Therapie hin zur Diagnose vollzogen“, so Schubert. Das erweitere die Einsatzmöglichkeiten der Galileo-Geräte.
Auf der Internationalen Raumstation ISS ist derzeit noch keiner der Novotec-Trainer im Einsatz. Tests in der Schwerelosigkeit gab es aber schon: Bei Parabelflügen nördlich von Berlin war auch Schubert als Proband auf dem Trainer dabei sowie als Gast im Cockpit. Weitere Flüge, bei denen unter anderem das Trainingsverfahren weiterentwickelt werden soll, stehen an. „Wir können diese Art der Zusammenarbeit mit der ESA nur bejahen, denn sie bringt für beide Seiten etwas“, fasst Schubert zusammen.
Industriepartner mit so einer Einstellung sind der ESA sehr willkommen. Den Kontakt stellen in verschiedenen europäischen Ländern die so genannten Commercial Agents her, die Anfragen aus der Industrie von der Ideenfindung über die technische Umsetzung bis hin zur Logistik betreuen. In Deutschland übernimmt die ISS Lab Ruhr GmbH in Dortmund die Rolle dieser Planungsinstanz. „Die Raumfahrt ist kein so entrücktes Feld, wie viele meinen“, sagt ISS-Lab-Ruhr-Chef Dr. Michael Massow. „Sich damit zu beschäftigen, ergibt einen Nutzen, denn meist existiert eine Verbindung zu Trends der allgemeinen Medizin.“ Als Beispiel nennt er die Anforderungen der Raumfahrtbehörden an die Geräte: Die müssen besonders klein und leicht sein, sehr robust und einfach zu bedienen. „Das gilt aber generell auch für Geräte, die von älteren Personen genutzt werden sollen“, sagt Massow. „Und wer die Zustimmung aus der Raumfahrt bekommt, kann zweifelsfrei nachweisen, dass sein Gerät dem gerecht wird.“ Ein bisschen Zeit sollte man allerdings mitbringen: „Wenn man schon eine fertige Idee hat, geht mindestens ein Jahr ins Land, bis ein Experiment durchgeführt wird. Steht die Idee noch nicht, dauert es länger.“
Einen Vorteil haben die Unternehmen bei ihrem Kontakt zur Raumfahrt in jedem Fall: Während für beantragte Forschungsprojekte längere Wartezeiten üblich sind, dürfen Vorhaben aus der Industrie auf die „Überholspur“. „Die Raumfahrt an sich“, räumt Massow ein, „ ist natürlich nur ein Mikromarkt, mit Stückzahlen, die üblicherweise unter zehn liegen.“ Novotec-Chef Schubert sieht sein Interesse am ESA-Projekt dementsprechend auch nicht darin, den Markt im All für sich zu erschließen. Aber er profitiert vom Marketing-Effekt, sagt er, und er hat bereits ausländisches Interesse für seine Trainingsgeräte verzeichnet: „Bettruhestudien gibt es auch in China, und die dortigen Stellen haben Interesse an unseren Produkten.“
Solche Studien und Konzepte zur Vorbereitung langer Aufenthalte in den unendlichen Weiten führen teilweise aber auch zu ganz neuen Ideen. Der Chef der Crewärzte, Volker Damann, gibt zu bedenken, dass sehr weite Reisen ins All – etwa eine Marsmission – ganz neue Ansätze erfordern können. „Eine klassische telemedizinische Anbindung in Echtzeit ist bei solchen Distanzen nicht mehr vorstellbar, da die Daten viel zu lange unterwegs wären.“ Daher wären die Astronauten stärker auf sich gestellt, oder es müsste doch medizinisches Fachwissen mit an Bord sein. In Form eines modernen Dr. „Pille“ McCoy oder, was Damann auf lange Sicht nicht für übertrieben hält, in Form eines Hologramms. Da wäre die Weltraummedizin der terrestrischen sicherlich ein gutes Stück voraus.
  • Dr. Birgit Oppermann birgit.oppermann@konradin.de
  • Weitere Informationen Techtransfer-Seite der ESA www.technology-forum.com Kooperationsforum Beschichtungs- und Oberflächentechnologien, 15.10. 2008 www.techtrans.de Experimente mit der Raumfahrtbehörde Messe Medica: Halle 3, Stand C80 Gemeinschaftsstand des Landes NRW Transferangebote über das DLR www.dlr.de, Stichwort Technologietransfer
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Astronautenleben
Medizinische Betreuung von Astronauten ist angesagt, denn Fachleute beschreiben den Aufenthalt im All als „extreme Fernreise“. Dabei beträgt die Reisedauer in den Erdorbit nur 8 min. Der Körper beginnt dann aber, sich der Schwerelosigkeit anzupassen. Weil die Gewebsflüssigkeit nicht mehr von der Erdanziehung beeinflusst wird, verteilen sich ungefähr 2 l, die sich normalerweise in den Beinen aufhalten, im ganzen Körper. Das macht die Beine schlank, lässt aber das Gesicht aufgedunsen aussehen und die Schleimhäute schwellen. Die ersten zwei bis drei Tage wird den meisten Astronauten schlecht, weil der Gleichgewichtssinn seine gewohnten Signale vermisst. Sobald diese Phase überwunden ist, können Rückenschmerzen auftauchen: Die Wirbelsäule dehnt sich um bis zu 7 cm aus.
Weil der Astronaut nicht mehr „aufstehen“ muss, gehen die Reflexe seines Kreislaufsystems in eine Pausenhaltung. Knochen und Muskeln haben fast nichts mehr zu tun – der Körper beginnt, sie abzubauen. Hunger und Durst werden weniger, Geschmacks- und Geruchsempfinden nehmen ab, und mit ihnen manchmal auch der Astronaut. Zu wenig Kalium und zuviel Calcium können zur Nierensteinbildung oder zu unregelmäßigen Herzaktivitäten führen.
Nach einigen Monaten spielt auch die Psyche eine Rolle: Mangelnde Privatsphäre und die zahlreichen zu bewältigenden Aufgaben machen sich bemerkbar.

Blutprobe, bitte
Statt Blutproben direkt aus der Arterie zu entnehmen, setzt ein neues Gerät mit kleinen Schnitten am Ohrläppchen an: Dieser Körperteil liegt sehr nahe an Arterien, weist keine Muskelgruppen auf und ist einfach zugänglich. Das Gerät zur Blutentnahme ließ sich von Testpersonen praktisch schmerzlos einsetzen. Im letzten Schritt der Anwendung wird durch eine Drehung des Gerätes der Einschnitt verschlossen, damit die Probe sicher abgenommen werden kann. An der Entwicklung dieses letzten Schrittes wird noch gearbeitet. www.technology-forum.com

Training durch gezieltes Wippen

Die Idee zum Trainingsgerät Galileo entstand, um Anforderungen für die terrestrische Medizin zu lösen: Schnelle Wippbewegungen lösen Muskelreize aus, die denen bei Gehbewegungen sehr ähnlich sind. Das beansprucht Muskeln und Knochen und verhindert, dass der Bewegungsapparat langsam abgebaut wird. Diese Problematik tritt zum Beispiel bei Patienten auf, die nach einer Chemotherapie oder einer Lungenschwäche durch Mukoviszidose nicht genug Kraft haben, um an normalen Geräten zu trainieren. Drei Minuten auf dem wippenden Trainer sind aber für den Muskelaufbau so anregend wie das Joggen über mehrere Kilometer. Das Interesse der Raumfahrt wurde im Rahmen einer Bettruhe-Studie geweckt: Es zeigte sich, dass die Probanden trotz des langen Liegens fit blieben. Weiterentwicklungen für die Raumfahrt brachten auch Vorteile für das auf Erden genutzte Gerät.
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