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Vom Krabbenpanzer zum Garn

Hightech-Fäden: Textilforschung ist Partner von Medizin und Gesundheitswirtschaft
Vom Krabbenpanzer zum Garn

Fasern sind mit Blick auf die Medizin ein Schwerpunkt der Textilforschung. Drei Entwicklungsprojekte aus Dresden, Denkendorf und Greiz zeigen: Vorbilder aus der Tier- und Pflanzenwelt werden in den Laboren nicht nur nachempfunden, sondern schaffen die Grundlagen für neue Möglichkeiten im OP.

Fasern als Grundbaustein des Lebens beschäftigen derzeit die deutsche Textilforschung. Was von den Hightech-Fäden zu erwarten ist, bringt Dr. Klaus Jansen vom Forschungskuratorium Textil auf den Punkt: „Vor allem gute Körperverträglichkeit mit einstellbaren Eigenschaften in Festigkeit und Resorbierbarkeit sowie zum Teil neuartige Produkte in Form von Implantaten oder Therapiehilfen, die auf den Patienten individualisiert angepasst sind.“ Unter dem Dach seiner Einrichtung haben fünf der 16 deutschen Brancheninstitute hochspezifische Medizin-Kompetenzen aufgebaut.

Während beispielsweise in den Hohenstein-Instituten bei Stuttgart die Entwicklung von therapeutisch aktiven und diagnostischen Textilien im Mittelpunkt steht, haben sich die Textiler der RWTH in Aachen neuen faserbasierten Biomaterialien und Medizintextilien verschrieben. Zu erwartende Produkte sind: Hohlfasern als Bestandteil von Wundauflagen, die dosiert Wirkstoffe direkt in die Wunde abgeben, oder Stents, die mit körpereigenen Zellen besiedelt werden und so länger gegen Abstoßungsreaktionen im Körper gewappnet sind.
Drei weitere Textilinstitute machen aktuell mit Hightech-Fasern für die Medizin Schlagzeilen: Am Institut für Textilmaschinen und Textile Hochleistungswerkstofftechnik (ITM) der TU Dresden ist das Verspinnen von biologisch hochreinem Chitosan, das aus Krabbenschalen gewonnen wird, zu Garnen. Sie verfügen über definierte Eigenschaften wie Zugfestigkeit, Filamentanzahl, Feinheitsgrad. Durch die Herstellung entsprechend definierter Fasern beziehungsweise Garne aus diesem nassgesponnenen Material, das zu biologisch abbaubaren textilen Trägerstrukturen, den Scaffolds, verarbeitet werden kann, sollen eines Tages interessante Implantate möglich werden. Spinntechnik-Forschungsgruppenleiter Dr. Martin Kirsten spricht von der Möglichkeit, Chitosangerüste in Form von resorbierbaren Materialien für Knochen und Knochenersatz für die regenerative Medizin herzustellen. Auch für biologisch kompatibles und abbaubares Nahtmaterial sollen Chitosangarne bestens geeignet sein, weiß der Polymerforscher.
Das hochreine Naturmaterial hat mit den Eigenschaften biologisch abbaubar, ungiftig, entzündungshemmend, wundheilend und mit seiner Wirkung als Stimulanz für Stoffwechsel und Immunsystem geradezu ideale Eigenschaften, die sich für die Verarbeitung zu textilen Medizinprodukten nach dem Wirk-, Web- und Flechtverfahren empfehlen.
Ein erster Zwischenschritt auf dem Weg dahin ist die Aufbereitung der Fasern zu Kurzfasern. Aus diesen sind dreidimensionale Gerüststrukturen (Net-Shape-Nonwoven) durch eine am ITM in der Gruppe Bio- und Medizintextilien entwickelte Technologie herstellbar. Solche Scaffolds lassen sich mit Zellen besiedeln. „Created by textile research“ stehen damit Verfahren und Methodik zur Darstellung künstlicher Gewebestrukturen für das Tissue Engineering bereit.
Dass Textilforschung auch im Wortsinne den Nerv treffen kann, beweist eine Hochtechnologieentwicklung aus Denkendorf: ein resorbierbares textilbasiertes Nervenleitsystem. Auf längere Sicht habe die vom Institut für Textil- und Verfahrenstechnik (ITV) angeschobene Innovation vielleicht sogar das Potenzial, Querschnittsgelähmten zu helfen, wagt Prof. Dr. Michael Doser eine Prognose. Der Mediziner, der als stellvertretender Institutsleiter und Chef der Biomedizintechnik im ITV mit seinem Team die vor 40 Jahren hier begründete medizintextile Forschung vorantreibt, sagt faserbasierten Trägermaterialien für Zellen in der Regenerationsmedizin eine große Zukunft voraus.
Das innovative Leitsystem für nachwachsende Nervenfasern des peripheren Nervensystems sei ein Beispiel dafür. Damit sich durchtrennte Nerven an Händen und Füßen zielgerichtet und damit beschleunigt regenerieren können, benötigen sie eine Art Wegweiser in Form eines „roten Fadens“. Dieser an den durchtrennten Nerven angenähte winzige Polymerschlauch, der erst unter dem Rasterelektronenmikroskop mit tausendfacher Vergrößerung als Röhre erkennbar ist, besteht im Inneren aus feinsten Fasern. Daran können sich die so genannten Axone, mit der die Nervenzelle ihr Richtungswachstum vorantreibt, entlanghangeln. Um die Zelle optimal zu versorgen, lassen die Poren des Schlauchs nur wachstumsfördernde Stoffe passieren.
Im Textilforschungsinstitut Thüringen-Vogtland (TITV) wurde bereits vor Jahren mit elektrisch leitenden Fäden eine neue Tür bei der Nutzung intelligenter technischer Textilien aufgestoßen; seitdem sind Smart Textiles auf dem Vormarsch, und die Welt der technischen Textilien und ihrer Produkte hat sich radikal verändert. Mit patentierten Elitex- Fäden lassen sich nicht nur Autositze heizen oder Patienten bei Langzeit-Operationen mit Wärme versorgen, sondern auch bioelektrische Signale übermitteln. Aus der textilen Mikrosystemtechnik, so Textilforscher Dr. Andreas Neudeck, ergäben sich nach dem Motto „Wenn die Elektronik im Gewebe verschwindet“ auch zahlreiche Optionen für die Gesundheitswirtschaft.
Nach einem sensorbestückten Handschuh für Schlaganfallpatienten und einem im Rahmen eines EU-Projekts mit Philips entwickelten LED-Kissen mit speziellem Blaulicht gegen Schulterverspannungen – dabei versorgen textile Leiter die 120 LEDs mit je bis zu 30 mA Leistung – konnten in einem weiteren Projekt textile aktuatorische Elektroden zur gezielten Muskelstimulation entwickelt werden. Gelingt mittelfristig die Integration von textilen Solarzellen und elektrischen Speichermedien auf oder in Stoff, können textile Sensoren zum Beispiel für die permanente Überwachung von Lebensfunktionen dauerhaft mit Energie versorgt werden.
Ronny Eckert Fachjournalist in Berlin

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