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Urlaub mit Risiken und Nebenwirkungen

Medizintourismus: Auf der ganzen Welt locken Kliniken Patienten mit Fachkompetenz und Service
Urlaub mit Risiken und Nebenwirkungen

Der Medizintourismus boomt. Um Kosten zu sparen oder Wartezeiten zu verkürzen, fahren immer mehr Menschen ins Ausland, um sich medizinisch behandeln oder operieren zu lassen. Im Idealfall ergänzt ein Urlaub den Klinikaufenthalt.

Deutsche Patienten lassen sich in der Türkei die Zähne richten, die Briten begeben sich in Indiens Luxuskrankenhäuser, um sich einen neuen Bypass legen zu lassen, und die arabische sowie russische Oberschicht verbindet gerne die Operation am Hüftgelenk mit einem ausgiebigen Urlaub der gesamten Familie in Hamburg, München oder Bonn: Der Markt für Medizintourismus wird im laufenden Jahr wieder einen kräftigen Zuwachs verzeichnen. Das ist jedenfalls die Ansicht der Verantwortlichen des Portals Hospital-scout.com, das weltweit eines der umfangreichsten Klinikverzeichnisse führt. Welche Klinik in welchem Land welche Behandlungen durchführt, erfährt der künftige Patient per Mausklick. „Wir gehen davon aus, dass die Umsätze gegenüber 2009 um rund 65 Prozent auf dann insgesamt 75 Milliarden Euro gesteigert werden können”, prognostiziert Dr. Bettina Horster, Vorstand der Dortumunder Vivai Software AG, die das Portal betreibt. “Das ist vor dem Hintergrund, dass bisher überhaupt erst zwischen drei und vier Prozent der gesamten Weltbevölkerung in andere Länder reisen, um sich dort einer Behandlung zu unterziehen, eine bemerkenswert hohe Hausnummer.”

Nach Angaben der Kassenverbände reisen etwa allein 300 000 Deutsche pro Jahr ins Ausland, um sich medizinisch versorgen zu lassen. Für eine umfangreiche Gebiss-Sanierung lassen sich beispielsweise bei einer Behandlung an der bulgarischen Schwarzmeerküste leicht einmal über 20 000 Euro sparen, gegenüber den Kosten, die in Deutschland anfallen würden. Gründe für eine kostensparende Durchführung von Gesundheitsmaßnahmen, Kuren oder chirurgischen Eingriffen lassen sich leicht finden: Zahnimplantate ab 800 Euro statt für 1500 bis 4000 Euro, Laserbehandlung der Augen für ein Fünftel der Kosten in Deutschland, Behandlungsangebote für Manager mit Burn-out-Syndrom, oder die Segnungen der Plastischen Chirurgie zu einem Bruchteil der hiesigen Kosten, Urlaubsreise inklusive.
Das Dortmunder Unternehmen hat gemeinsam mit dem Beratungshaus Reza Consultancy die Studie ‚Medizintourismus – Profitieren von der globalen Gesundheitsversorgung‘ initiiert und durchgeführt. Danach könnten sich allein schon 53 % der Angehörigen der Europäischen Union eine solche Reise vorstellen. Das sind beinahe doppelt so viele wie in den Vereinigten Staaten, wo sich 27 % gerne im Ausland behandeln lassen oder lassen würden. Gründe für diese Differenz seien einerseits die geographische Nähe anderer Länder innerhalb der EU, andererseits aber auch schon existierende Kooperationen. „Diese Angaben zeigen deutlich, wie spannend es ist, die großen Unterschiede in den einzelnen Regionen der Erde und die Ströme der Medizintouristen näher zu ergründen und nachzuzeichnen”, erklärt Dr. Horster.
Doch noch immer sei es für alle am Medizintourismus Beteiligten, vom Verbraucher bis zu den Kliniken, sehr schwierig, sich weltweit umfassend über Angebot und Nachfrage in Kenntnis zu setzen. „Daneben spielen noch weitere Aspekte eine Rolle: Bequemlichkeit, Zufriedenheit mit dem nationalen Gesundheitssystem – und natürlich wieder die Kosten, jetzt bei Verbrauchern aus den Ländern, in denen Behandlungen vergleichsweise günstig sind”, konkretisiert die Expertin. „Nicht zuletzt spielen auch ethisch-moralische Fragen sowie beispielsweise Nachsorge und Kostenübernahme bei Komplikationen im eigenen Land häufig eine Rolle.” An genau diesem Punkt setzt auch der Hospitalscout.com an, ein Portal, das den Medizintouristen vielfältige Informationen im Vorfeld einer Behandlung im Ausland bietet.
Aktuell besonders ‚en vogue‘ sind medizinische Behandlungszentren in Indien und Thailand. Leicht lassen sich dort rund 50 % der Kosten, die in Deutschland für Zahnbehandlungen oder kosmetische Operationen anfallen würden, einsparen. Von diesem Trend profitieren auch die Gastländer. In Thailand werden bereits jetzt jährlich etwa 1,4 Mio. Ausländer medizinisch versorgt. Der Gewinn der Kliniken: rund 700 Mio. Euro.
Grundsätzlich ist in vielen Teilen der Welt medizinische Versorgung auf hohem Niveau möglich. Länder wie Indien werben mit einer First-Class-Medizin zu Drittwelt-Preisen. Viele der Privatkliniken entsprechen einem hohen internationalen Standard; hier finden sich Bedingungen, von denen man als gesetzlich Krankenversicherter in Deutschland nur träumen kann: Versorgung durch Koryphäen ihres Fachs, eine hervorragende technische Ausstattung, Kompetenz im Bereich alternativer Heilmethoden bei gleichzeitiger Exzellenz in westlicher Medizin, Pflegekräfte, die den Patienten zugewandt und ohne Zeitdruck arbeiten können. Und all dies zu weniger als dem Fünftel des Preises der deutschen Krankenversorgung.
Das Wirtschaftsberatungsunternehmen McKinsey schätzt, dass der Medizintourismus allein in Indien bis zum Jahr 2012 jährliche Einnahmen von etwa 2,2 Mrd. US- Dollar bringen könnte. Im Vordergrund stehen hierbei ‚all inclusive Angebote‘, die vom Abholen am Flughafen über die Bedienung am Krankenbett, internationale Speisen bis hin zum anschließenden Erholungsurlaub alles beinhalten.
Dass der private Gesundheitssektor bereits stark subventioniert wird– zum Beispiel mit ermäßigten Einfuhrzöllen auf medizinische Geräte und Steuererleichterungen – bemängelt aber Nikhila M. Vijay, Ingenieurin für medizinische Gerätetechnik und Mitglied von ‚Kabani – the other direction‘, einer Initiative aus dem indischen Kerala, die sich für eine nachhaltigere Tourismusentwicklung einsetzt. Ihrer Meinung nach werde dieser Sektor von der Regierung noch mehr Subventionen verlangen und dies mit höheren Einnahmen durch den Medizintourismus begründen. Eine für sie beunruhigende Entwicklung, denn durch diese Subventionierung werden die begrenzten Mittel, die die Regierung für das öffentliche Gesundheitswesen zur Verfügung hat, noch weiter zurückgehen. In der Folge würden noch weniger Menschen in Indien Zugang zu ausreichender Gesundheitsversorgung haben.
Und natürlich existieren noch weitere, zum Teil gravierende Schattenseiten des Medizintourismus: Kommt es zu einem Behandlungsfehler, so sind die Chancen für eine erfolgreiche juristische Aufarbeitung oder gar finanzielle Entschädigung gering. In jedem Fall besteht bei unzureichender medizinischer Qualität eine Gefahr für dauerhafte gesundheitliche Nachteile. Besonders Angebote im Internet erlauben kaum eine Unterscheidung zwischen hochwertiger und mangelhafter Versorgungsqualität. Werden Angebote lediglich über das World Wide Web gemacht, so können Rechtsstreitigkeiten nicht ohne weiteres von Deutschen Gerichten entschieden werden. Zudem ist fraglich, ob die behandelnden Ärzte in Besitz einer angemessenen Berufshaftpflichtversicherung sind. Kritiker bemängeln, dass sich die günstigen Preise für Operationen nur erzielen lassen, wenn erheblich an den Materialkosten gespart wird. Aber auch im Falle einwandfreier Materialien sind Nachlässigkeiten im Bereich der Krankenhaushygiene eine besonders häufige Ursache von Komplikationen während oder nach einer Behandlung im Ausland. In vielen Angeboten findet sich trotz der Beteuerung ‚Deutscher Standard‘ kein mit der Mehrzahl der Kliniken in Deutschland vergleichbares Maß an Qualitätsmanagement und technischer Sicherheit, beispielsweise TÜV-Zertifikate.
Trotz aller Risiken und Nebenwirkungen für den reisenden Patienten wächst aber das Geschäft mit der Gesundheit. Der weltweit größte Markt ist der US-amerikanische, wo nicht oder nur unzureichend versicherte Bürger mit einem der weltweit teuersten Gesundheitssysteme zu kämpfen haben: Nach einer Studie der Unternehmensberatung Deloitte sind 2007 rund 750 000 Patienten aus den USA zur kostengünstigeren medizinischen Versorgung und Behandlung ins Ausland gereist. Bis 2017 soll die Zahl dieser Patienten auf über 15 Millionen ansteigen. Beliebtes Reiseziel der amerikanischen Medizintouristen sind neben Indien inzwischen die arabischen Staaten. Hier steht zur Zeit der Ausbau des Gesundheitssektors auf der Prioritätenliste ganz oben. Einer Studie der Unternehmensberatung McKinsey zufolge ist er einer der am stärksten wachsenden Märkte in der Golfregion. Auch die nordafrikanischen Länder wie Algerien und Libyen investieren kräftig in Medizintechnik. „Mit den Milliardeninvestitionen versuchen die arabischen Länder, die jahrelange Vernachlässigung der Branche zu beheben“, erklärt Fausi Najjar, Wirtschaftsexperte für den Nahen Osten bei Germany Trade and Invest (gtai). Ziel sei es, Patienten verstärkt im eigenen Land behandeln zu können. „Und natürlich will jede der am arabischen Golf neu eingerichteten, milliardenschweren Health Cities reiche Auslandspatienten anlocken“, so der Nahost-Experte.
Während deutsche Kliniken bei den amerikanischen Medizintouristen nur auf den hinteren Rängen zu finden sind, kommen Patienten aus Russland und den arabischen Staaten für komplexe Behandlungen gerne nach Deutschland. Sie finden hier spezialisierte Behandlungen zu einem guten Preis-Leistungsverhältnis. „Das wissen vor allem arabische Patienten zu schätzen“, weiß Najjar. Mängel gäbe es aber bei den interkulturellen Kompetenzen. Denn auch wenn der Ruf der deutschen Medizin in der arabischen Welt sehr gut ist und Deutschland als beliebtes und schönes Reiseziel gilt: Auf die oft hohen Ansprüche ihrer arabischen Patienten sind deutsche Kliniken weniger gut eingerichtet als beispielsweise britische Krankenhäuser. Najjar: „Die haben sich schon vor Jahrzehnten auf die arabische Klientel eingestellt – mit Übersetzern, arabischer Küche, arabischem Satellitenfernsehen, intensiver Betreuung und Freizeitprogrammen für die gerne mitreisenden Familienmitglieder.“ Hier habe Deutschland noch Nachholbedarf.
Prinzipiell ist aber auch das machbar. Beispiel: Um Essen, das „halal“ ist, also den Speisevorschriften des Koran entspricht, eine Übersetzung der Krankenakte oder den Fahrdienst vom Flughafen zur Klinik kümmert sich Khaled Guizani. Der gebürtige Tunesier ist Projektmanager bei den Bonn Medical Partners (BMP), einem Zusammenschluss von neun Kliniken aus Bonn und dem Rhein-Sieg-Kreis. Er kümmert sich darum, dass sich ausländische Patienten in Deutschland ein bisschen heimisch fühlen. Die Initiative, für die er tätig ist, wurde ins Leben gerufen mit dem Ziel, den Gesundheitsstandort Bonn insbesondere im Ausland zu vermarkten und ausländischen Patienten eine Behandlung in Bonn zu ermöglichen. Seit 2006 sind die BMP bei der Tourismus & Congress GmbH in Bonn angesiedelt. Ähnliche Projekte finden sich heute auch schon in Köln und Berlin.
Andere Kliniken übernehmen das Marketing und die Betreuung ihrer ausländischen Patienten selbst, wie das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Dort ist man auf Patienten aus der ganzen Welt vorbereitet. „Unser Mitarbeiterteam ist multikulturell und spricht viele Sprachen, darunter englisch, russisch und arabisch“, erklärt Leonore Boscher, Leiterin der Station Internationale Patienten am UKE. „Die Patienten werden vom Flughafen abgeholt, es gibt 800 Fernsehsender und natürlich einen islamischen Gebetsraum. Die Patienten bekommen persönliche Betreuer zugeteilt und können den Speiseplan selbst bestimmen. Wir bieten zum Beispiel auch typisch russische Buchweizengrütze an oder koscheres Essen.“ Dafür zahlen die Patienten – in den arabischen Ländern kommen häufig die Regierungen dafür auf – für die Leistungen der Klinik 5000 bis hin zu 300 000 Euro. Diese Einnahmen, so Boscher, kommen letztendlich auch den Kassenpatienten zugute. „Mit den zusätzlichen Erlösen können wir dann dringend benötigte Personalressourcen aufstocken, die wiederum mehr Leistungen für alle Patienten bringen.“
Service und Kompetenz spielen im Medizintourismus die größte Rolle

Ihr Stichwort
    • Medizintouristen
    • Interkulturelle Kompetenzen
    • Medizinische Versorgung
    • Drittwelt-Preise
    • Behandlungsfehler und Hygiene

Vorsprung durch Technik
Deutschland ist in der Golfregion nicht nur als Reiseziel für Medizintouristen interessant. Mit Produkten und Know-how können auch die deutschen Anbieter von Medizintechnik punkten. Innovationen beispielsweise aus der Stammzellentherapie und der Telemedizin werden zunehmend auch interessant für die Golfregion. Besonders gute Geschäftschancen erwartet Holger Johannsen, Vice President Marketing bei den Drägerwerken für Middle East/Africa, zukünftig in den Ländern des Golf-Kooperationsrates (GCC), speziell in Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE). „Die Staaten streben einen westlichen Standard bei ihrer medizinischen Versorgung an und investieren daher kräftig in neue Strukturen.“ Saudi-Arabien ist der größte Abnehmer deutscher Medizintechnik innerhalb der MENA (Middle East & North Africa)-Region und führte in den ersten zehn Monaten des Jahres 2009 Branchenprodukte im Wert von 128,3 Mio. Euro ein. Damit steigerte sich die Nachfrage trotz Krise um 24,0 % im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Ein Vorteil der Region sind die unkomplizierten Zulassungsverfahren. „Das CE-Zertifikat ist momentan ausreichend, um in den GCC-Markt einzutreten“ bestätigt Johannsen. „Ganz anders sieht das in Südamerika aus, wo man in Brasilien bis zu sechs Monaten und in Mexiko sogar ein Jahr wartet, bis man die Zulassung erhält“.
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