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Ungeplante Möglichkeiten

Chirurgieinstrumente: Griff lässt sich mit vielen Vorteilen aus dem Vollen fräsen
Ungeplante Möglichkeiten

Ein Tuttlinger Unternehmen hat einen neuen Prozess erprobt, mit dem sich Griffe wirtschaftlich aus dem Vollen fräsen lassen. Aufs Schmieden der Rohlinge ist man damit nicht mehr angewiesen. Damit könnten Instrumentengriffe variabler gestaltet werden.

Freiheit. Freiheit für die Entwickler von Chirurgieinstrumenten. Die stand eigentlich gar nicht auf der Agenda, als sich in Tuttlingen zwei Experten mit neuen Fertigungsmöglichkeiten für Griffe befassten. Aber Michael Ritter und sein Sohn Kevin von der M. Ritter & Sohn GmbH sind nach mehreren Monaten voller verworfener Berechnungen und zahlreicher Versuche auf der Fräsmaschine zu einem interessanten Prozess gelangt: Und der macht Instrumentenhersteller von kostspieligen und damit nicht so flexiblen Schmiedewerkzeugen unabhängig.

„Wir schaffen es heute, die Griffe wirtschaftlich und prozesssicher aus dem Vollen zu fräsen, sind damit schneller und präziser als bisher und könnten auch Veränderungen an den Griffen problemlos umsetzen – für einen schnellen Test mit einem Prototypen oder für eine Veränderung am Serienteil“, fasst Geschäftsführer Kevin Ritter die bisherigen Ergebnisse zusammen.
Den Anstoß, überhaupt Energie in den Entwurf eines alternativen Prozesses zu investieren, gab vor ein paar Jahren ein Wettbewerber. Dieser bot statt geschmiedeter und nachbearbeiteter Rohlinge erstmals gefräste Teile für die Griffe an. „Die Qualität der Oberflächen reichte nicht an das heran, was im Markt bisher üblich war und nur durch viel Handarbeit zu erreichen ist“, sagt Ritter. Aber dennoch – vielleicht, so überlegten die Tuttlinger, steckte in diesem Weg Potenzial, auch für das eigene Unternehmen.
Denn um zu einem Griff aus rostfreiem Instrumentenstahl zu kommen, werden immer noch Schmiedeteile in einem eigens angefertigten Gesenk hergestellt und aufwendig nachbearbeitet. Weil das Gesenk meist mehrere Tausend Euro kostet, sind die Rohlinge nach Möglichkeit so gestaltet, dass sich daraus mehrere Griffvarianten generieren lassen – durch Nacharbeiten oder sogar das Anschweißen von Teilen.
Am Ende soll dennoch ein glatter, ebenmäßig geformter Griff herauskommen – funktionssicher, ohne optisch erkennbare Makel. Aber bis dahin sind die Mitarbeiter bei M. Ritter & Sohn eine Weile beschäftigt. Die Schmiedehaut muss komplett entfernt werden, um Korrosionssicherheit zu erreichen. „Auch das Entfernen des Grates bedeutet erheblichen Aufwand.“ Darüber hinaus sei jedes geschmiedete Teil ein bisschen anders, da das Material in alle Richtungen verlaufe – vor allem dann, wenn das Gesenk das Ende seiner Nutzungsdauer erreiche.
Der Prozesswechsel zum Fräsen versprach, diese Probleme zu lösen. Die Berechnungen führten aber vor allem zu Kopfzerbrechen, denn von Wirtschaftlichkeit oder auch Wettbewerbsfähigkeit waren sie zunächst weit entfernt. Dann bekam die Sache durch einen Zufall richtig Schwung. Firmengründer und Produktionsmanager Michael Ritter traf seinen ehemaligen Kollegen Michael Sischka, der im Südwesten Deutschlands den Werkzeug- und Spanntechnik-Hersteller Emuge-Franken aus Lauf vertritt. Beim Fachsimpeln der Beiden kam auch das Thema der Griffe auf den Tisch.
Gemeinsam suchten Ritter und Sischka nach einer gangbaren Lösung, testeten verschiedene Werkzeuge und Prozessstrategien. „Als wir angefangen haben“, berichtet Werkzeugspezialist Sischka, „lagen die Bearbeitungszeiten bei rund zwanzig Minuten pro Griff. Das war natürlich nicht akzeptabel.“ HSS- und Vollhartmetall-Werkzeuge sollten zeigen, was sie bei verschiedenen Prozessstrategien leisten konnten.
Die besten Ergebnisse brachten schließlich VHM-Werkzeuge in einer HPC-Strategie. „Wir waren positiv überrascht, dass die Werkzeuge aus dem spröderen Vollhartmetall trotz der Vibrationen während der Bearbeitung mit hohem Zeitspanvolumen so gut abschnitten“, fasst Sischka zusammen. Derzeit laufen Untersuchungen, die die Standzeit der Werkzeuge gegebenenfalls weiter verbessern könnten. „Mit den 400 bis 500 Griffen, die wir mit dem speziellen Formfräser nach meiner bisherigen Einschätzung fertigen können, sind wir aber auch schon sehr zufrieden“, sagt Ritter. Bei einigen Details zur Aufspannung und zur Gestaltung ihres speziellen Formfräsers wollen sich die Tuttlinger nicht in die Karten schauen lassen, denn „bisher gehören wir zu einer Handvoll von Unternehmen, die diesen Prozess überhaupt beherrschen.“ Die Oberflächenqualität der gefrästen Teile aber stimmt aus Sicht des Geschäftsführers bereits: Auch wenn er auf das Finishing nicht ganz verzichten kann, hat sich der Aufwand dafür im Vergleich zu den Schmiedeteilen erheblich reduziert.
Der Reiz des neuen Prozesses liegt also für den Lohnbearbeiter darin, die eigene Fertigung zu optimieren. Für die Instrumentenhersteller – Ritters Kunden – könnte der größte Nutzen des in Tuttlingen getesteten Fräsprozesses aber darin liegen, in kurzer Zeit und bei überschaubaren Kosten an Prototypen für variierte oder auch ergonomisch optimierte Griffe zu kommen. „Mit ein bisschen Programmierarbeit können wir zum Beispiel die Größen der Ringe verändern oder auch deren Form“, sagt Kevin Ritter. Größere Änderungen würden eventuell einen anderen Formfräser erforderlich machen. Doch auch das soll kein Problem sein. „Genau in solchen Projekten sehen wir die Kernkompetenz von Emuge-Franken“, betont Michael Sischka. „Die Anwender zu beraten und, wenn es Probleme in der Prozesskette gibt, unsere Experten aus dem jeweiligen Bereich ins Boot zu holen und den Prozess bis zum Ende hin zu optimieren.“ Die Kosten – selbst für ein speziell entwickeltes Fräswerkzeug – seien kaum mit dem Aufwand vergleichbar, den eine neue Form für Schmiedeteile mit sich brächte. In der Medizintechnik hat Ritter die gefrästen Teile schon präsentiert und erste Interessenten gefunden.
Die Experimentierfreude stößt aber dennoch nicht so schnell an Grenzen. Was mit rostfreiem Instrumentenstahl funktioniert, wäre auch mit anderen Werkstoffen machbar: Titan, Aluminium oder auch Faserverbundwerkstoffe, auch wenn diese für Instrumentengriffe aus verschiedenen Gründen nicht in Frage kommen. Aber die Vorgaben der Medtech-Branche gelten eben auch nur dort, und Ritter hat bereits Anwendungen aus dem Maschinenbau im Blick.
Dr. Birgit Oppermann birgit.oppermann@konradin.de
Weitere Informationen Bei der M. Ritter & Sohn GmbH in Tuttlingen werden Griffe für Instrumente und endoskopische Geräte verschiedener Hersteller bearbeitet: www.mritter-sohn.de Über den Frästechnik-Spezialisten Franken aus der Unternehmensgruppe Emuge-Franken: www.emuge-franken.de

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