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Simulieren geht über probieren

Präventive Biomechanik: Computer simuliert den Körperkontakt
Simulieren geht über probieren

Bisher fehlte den Herstellern medizinischer Hilfsmittel eine Methode, um mechanische Wechselwirkungen mit dem menschlichen Körper besser vorhersagen zu können. Materialforscher Prof. Gerhard Silber setzt bei der Optimierung von Matratzen, Sitzen und Schuhen auf Computersimulation.

„Medizinisch-technische Stützkonstruktionen rufen Schäden hervor, die abgesehen von dem großen Leid der Betroffenen volkswirtschaftliche Schäden in Milliardenhöhe generieren“, weiß Prof. Dr. Gerhard Silber. Denn Matratzen, Orthesen oder Schuhe erzeugen mechanische Spannungen und Verformungen in Bereichen des Weichgewebes, die Beschwerden und Verletzungen wie Dekubitus hervorrufen können. Der Materialwissenschaftler an der Fachhochschule Frankfurt erforscht mit seiner Arbeitsgruppe die Wirkung der medizinischen Hilfsmittel auf den menschlichen Körper, um Ursachen schädlicher Nebeneffekte erkennen und vorhersagen zu können. Durch seine Erkenntnisse möchte Silber Medizintechnikhersteller in die Lage versetzen, Produkte zu entwickeln, die Schäden vorbeugen.

Zur Gestaltung von Liege-, Sitz- und Schuhsystemen kommen heute noch immer häufig Druck-Sensor-Matten zum Einsatz. Diese geben über den Kontakt zwischen Hautoberfläche und medizinischem Hilfsmittel Aufschluss, bilden aber nur stark eingeschränkt die komplexen dreidimensionalen Wechselwirkungen zwischen beiden Körpern ab. Spannungen in tiefer gelegenen Gewebeschichten bis hin zum Knochen sind damit nicht messbar. „Niemand weiß, welche Spannungen und Deformationen im Körper eines Querschnittsgelähmten durch dessen Rollstuhl verursacht werden“, begründet Prof. Silber seine Motivation, anders vorzugehen. Sein Anspruch ist, in den menschlichen Körper „hineinzuschauen“.
Um dem möglichst nahe zu kommen, simuliert er realitätsnah am Computer, wie menschliches Weichgewebe und medizinisch-technische Produkte miteinander interagieren. Dies brachte einige Herausforderungen mit sich. Computermodelle der menschlichen Weichgeweberegionen sowie der jeweiligen Medizinprodukte mussten aufgebaut werden, um anschließend die Interaktion zwischen beidem simulieren zu können. Silbers Team setzt seit 2001 auf die Simulationssoftware Abaqus des französischen Softwareunternehmens Dassault Systèmes, die solch komplexe strukturmechanische Untersuchungen ermöglicht.
Als Input für die Simulationen war eine Fülle von Materialparametern erforderlich. Als besonders komplex erwies sich die Erstellung von Modellen des jeweiligen Weichgewebes. Die notwendigen Materialparameter gewann Silbers Team zum Teil in Ex-Vivo-Experimenten, also anhand der Untersuchung toten oder operativ entnommenen Gewebes wie Sehnen und Bändern. Zum anderen setzte Silber im Rahmen eines neuen Verfahrens erstmals auf in-Vivo-Analysen humaner Weichgeweberegionen, um möglichst realitätsnahe Simulationsergebnisse zu erzielen.
Um beispielsweise das biomechanische Materialverhalten des Fettgewebe-Muskel-Verbundes des Gesäßes zu erfassen, schoben die Wissenschaftler auf dem Bauch liegende Probanden in einen Magnet-Resonanz-Tomographen. Über eine spezielle Vorrichtung wurde ein Druckkopf ausgefahren, der stufenweise wachsenden Druck auf das Gesäß ausübte. Währenddessen erfasste der Magnet-Resonanz-Tomograph die Geometriedaten des unverformten Gewebes sowie die Geometriedaten bei jeder Belastungsstufe. Weitere Untersuchungen folgten. Darüber hinaus wurden per 3D-Laser-Scans die Körperoberflächen der Probanden eingelesen.
Die gewonnenen Anatomiedaten übertrugen die Wissenschaftler in der Simulationslösung Abaqus in eine 3D-Geometrie, in der die Software sie vernetzte. Aus den Daten generierte Abaqus ein numerisches Modell basierend auf der Finite-Elemente-Methode.
Auf Grundlage der erstellten Modelle simuliert die Software die Wechselwirkungen zwischen menschlichem Körper und medizinisch-technischem Hilfsmittel und ermittelt diejenigen Gewebebereiche mit erhöhter Spannungsaktivität. „Die Einwirkung von hohen mechanischen Spannungen hat grundsätzlich eine Reaktion in tiefer liegenden Geweberegionen zur Folge“, erklärt Silber, „Daraus resultieren unwillkürlich Muskel-An- und- Verspannungen, die im Liegen oder Sitzen von Unruhe bis zu Schmerzzuständen führen können.“ In den auf die Spannungs- und Verformungsberechnungen folgenden Optimierungsschritten verändern die Forscher Geometrie und Material des Medizinproduktes so lange, bis sich die Maximalspannungen und -Dehnungen im Gewebe reduzieren. „Durch die Simulation können wir die Eigenschaften eines Sitzkissens oder einer Rollstuhlauflage so lange variieren und uns die daraus resultierenden Spannungen am menschlichen Modell berechnen lassen bis wir meinen, das richtige System gefunden zu haben“, so Silber.
Bei der Vorhersage von Dekubitus wurden viele Simulationsergebnisse bereits verifiziert. Sie zeigen unter anderem, dass Dekubitus nicht an der Oberfläche zwischen Haut und Matratze entsteht, sondern eher zwischen Muskel und Knochen. „Dank der Simulationssoftware können wir uns nun in den menschlichen Körper hineindenken“, ist Silber zufrieden. Unternehmen wie der Hersteller von Anti-Dekubitus-Hilfen Thomashilfen, Wulff MedTech und der Matratzenhersteller Dunlopillo sowie Hersteller von Weichschaumstoffen wie FaomPartner Fritz Nauer haben Silbers Erkenntnisse bereits zur Optimierung ihrer Systeme eingesetzt.
Judith Schwarz Fachjournalistin in Tübingen

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