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Per Chip zieht der Arzt in den Augapfel ein

Mikrosystemtechnik: Wichtigster Zielmarkt ist die Medizintechnik
Per Chip zieht der Arzt in den Augapfel ein

Mikro- und Nanostrukturen sind in der Medizin- technik inzwischen unverzichtbar. Die Integration dieser Technologien stellt die Hersteller vor einige Herausforderungen.

In der minimal invasiven Chirurgie, der mobilen und patientennahen Diagnostik sowie bei Implantaten jeder Art ist das Prinzip identisch: Je kleiner die Werkzeuge und Geräte, desto gezielter, patientenschonender und schneller können auch kleinste biologische Strukturen angegangen werden. Die Mikrosystemtechnik (MST) spielt hierbei eine ähnliche „Enabler“- Rolle wie die Elektronik in der Automobilindustrie: Zahllose intelligente Funktionen in Therapie und Diagnose sind ohne den Einsatz der MST nicht denkbar.

Weil die Mikrosystemtechnik – im Unterschied zur Mikroelektronik – auch mit mechanischen, thermischen, optischen, chemischen und fluidischen Größen arbeitet, hat sie als Querschnittstechnologie einen besonders ausgeprägten interdisziplinären Charakter. Im amerikanischen Sprachraum wird sie unter Micro-Electro-Mechanical Systems etwas enger gefasst: MEMS meint die Integration mechanischer Komponenten mit Sensoren, Aktuatoren und Elektronik auf einem Siliziumsubstrat.
Durch einfaches Herunterskalieren lassen sich die MST-Produktionstechniken aber nicht aus konventionellen Fertigungsverfahren ableiten: Stoff- und Wärmetransporte erfolgen in Mikrostrukturen um zwei Größenordnungen schneller als in konventionellen Systemen.
Weil so vieles so anders ist, rechnet sich Mikrosystemtechnik nur für potente Märkte: Eine großserientaugliche MST-Fertigung erfordert Stückzahlen im Millionenbereich, um wirtschaftlich zu sein. Hinzu kommen Investitionskosten in zwei- bis dreistelliger Millionenhöhe. Das schafft ein Amortisationsproblem, das häufig nur MST-Großanbieter lösen können. Kleineren Anbietern von Nischenprodukten bleibt die Möglichkeit, sich in Clustern zusammenschließen, um etwa Fertigungseinrichtungen als gemeinsame Factory zu nutzen, während Entwicklung, Marketing und Vertrieb jeder Partner selbst vornimmt.
Da sich das Produktspektrum der MST in fast allen Branchen und in ganz unterschiedlichen Fertigungstiefen ständig erweitert und sich noch keine fest umrissene Marktstatistik etabliert hat, sind exakte Zahlen kaum verfügbar. So wird das Marktvolumen für mikrotechnische Anwendungen in der Biomedizin für das Jahr 2005 mit 18,5 Mrd. US-Dollar beziffert. Bei den Stückzahlen für MST-Komponenten kolportiert man jährliche Wachstumsraten bis 2007 von 26 %. Andere sehen auch hier das Moore’sche Gesetz: Stückzahlverdopplung bei Preishalbierung in jedem Jahr. Der Medizinsektor spielt dabei eine zentrale Rolle: 38 % der vom Dortmunder IVAM e. V. Fachverband für Mikrotechnik befragten 500 deutschen Mikrosystemanbieter nannten 2005 die Medizintechnik als ihren wichtigsten Zielmarkt.
Allen Produkten gemeinsam ist, dass sich die Herstellung in zwei Stufen gliedert: Mikrostrukturierung und Replikation. Neben den geometrieerzeugenden Verfahren stellen Handhabung und Montage der Mikrobauteile sowie nicht zuletzt die Qualitätskontrolle hohe Anforderungen.
Die Serienproduktion beginnt mit dem Anfertigen einer dreidimensionalen Mikrostruktur über lithografische Verfahren mit UV oder Röntgenstrahlung. Strahlungsempfindliche Kunststoffe erlauben dabei Strukturhöhen von einigen Millimetern bis herunter zu Mikrometer-Bruchteilen mit einer Auflösung von bis zu 200 nm. Alternativ werden bei weniger hohen Genauigkeitsansprüchen auch materialabtragende Verfahren wie Fräsen, Bohren, Drehen und Ätzen eingesetzt.
Die dreidimensionale Laserablation erzeugt bei Metallen, Polymeren und Keramiken heute Oberflächen mit optischer Qualität. So entstehen distale Faserlinsen für medizinische Anwendungen oder die optische Messtechnik, Nanoporenarrays mit kombiniertem optischen und elektrophysiologischen Zugang, asphärische Mikrooptiken oder diffraktive Optiken.
Neben den abtragenden sind auch generierende Verfahren im Einsatz wie das plasmaunterstützte CVD-Verfahren (Chemical Vapor Deposition), das beispielsweise komplexe Schneidengeometrien mit sehr kleinen Eckenradien mit einer Auflösung im Nanobereich erzeugt.
In der Mikrogalvanik werden die lithografisch oder abformtechnisch erzeugten Kunststoffstrukturen anschließend in metallische Strukturen umkopiert. Dabei entstehen metallische Endprodukte oder Abformwerkzeuge für Kunststoff-Mikrostrukturen aus Thermoplasten, Epoxy-Phenolharz, Fluorpolymeren oder hochwärmestabilen Polymeren. Alternative Verfahren sind das Mikrospritzgießen und Heißprägen, mit dem sich Metall- oder Kunststoffmikrostrukturen auf schonende Weise direkt mit einer elektronischen Schaltung quasi-monolithisch integrieren lassen. Bereits Anfang der achtziger Jahre wurde im Forschungszentrum Karlsruhe das LIGA-Verfahren entwickelt, wobei LIGA für die Prozessschritte Röntgentiefenlithografie, Galvanik und Kunststoff-Abformtechnik steht. Das LIGA-Verfahren erlaubt eine kostengünstige Serienproduktion von Mikrokomponenten verschiedenster Materialien mit Strukturhöhen über 1 mm, kleinsten Abmessungen bis 200 nm und einer Oberflächenrauigkeit von 30 nm.
Naturgemäß ist die Suche nach Materialien, die sich für diese Fertigungsschritte eignen, ein Schwerpunkt der Entwicklung. Besondere Beachtung finden hier Pulverspritzgießprozesse: CIM (Ceramic Injection Molding) für keramische und MIM (Metal Injection Molding) für metallische Mikrostrukturen. Der Feedstock, also das Gemisch aus Binder und Pulver, und die Formgebung sind dabei die wesentlichen Parameter der Prozesstechnologie. Die Dünnschicht-Oberflächenveredelung mit Funktions-, Hilfs- und Schutzschichten, die über das Physical Vapor Deposition (PVD)-Verfahren aufgebracht werden, erzeugt komplexe Formen mit hochfrequenztauglichen weichmagnetischen Eigenschaften für die Mikroelektronik.
Ein Anwendungsbeispiel für Techniken dieser Art sind die so genannten Biochips. Sie integrieren MST mit elektronischer Auswertelektronik und werden für medizinische Analysen auf kleinstem Raum und mit minimalem Probenbedarf maßgeschneidert. Mit Nanopartikeln können sehr viele spezifische Molekül-Bindestellen auf einer kleinen Oberfläche positioniert werden (Lab-on-a-Chip). Mikrochips lassen sich auch implantieren und ermöglichen so eine diagnostische Dauerüberwachung eines Patienten. Ein Beispiel ist der Augeninnendrucksensor aus dem Duisburger Fraunhofer-Institut für Mikroelektronische Schaltungen und Systeme IMS.
Das Berliner Fraunhofer-Institut für Zuverlässigkeit und Mikrointegration IZM entwickelt einen Biochip, der bis zu 100 humane Antikörper gleichzeitig erkennt. Das Diagnosesystem besteht aus einem Assayprozessor, der die Testdaten auswertet, und einem Fluoreszenz-Reader. Die scheckkartengroße Biochip-Kartusche ist ein Einwegartikel. Sie ist als Mikrofluidiksystem mit integriertem Chipfeld konzipiert, das die serologisch relevanten Antigen-Dots enthält. Die Ergebnisse liegen nach maximal zwei Stunden vor.
Mit MST lassen sich auch elektronische Nasen realisieren: Das sind gasanalytische Sensorsysteme für die integrale, also nicht nur nach Einzelkomponenten suchende Bestimmung von Gasgemischen und Gerüchen. Sie arbeiten auf der Basis von Surface-Acoustic-Wave-(SAW)-und Metalloxid-(MOX)-Sensoren. Die „Karlsruher Mikronase“ Kamina ist die weltweit kleinste und empfindlichste elektronische Nase mit einem segmentierten MOX-Sensor-Mikroarray, das für jedes Gas charakteristische Leitfähigkeitsmuster liefert. Innerhalb von Sekunden kann die elektronische Nase organische oder anorganische Gaskomponenten bis zu Sub-ppm-Konzentrationen quantitativ nachweisen. Das Multigas-Analyse-System Sagas erfasst Frequenzänderungen hochfrequenter Oberflächenwellen mit Hilfe von SAW-Elementen und kann so Dämpfe organischer Lösungsmittel erkennen.
Mikrofluidik nutzt Kanäle von nur 10 µm Breite
Mikrofluidische Analysensysteme nutzen kapillare Strukturen mit Durchmessern zwischen typischerweise 10 und 100 µm. Die hier verwendeten Mikropumpen, Mikroventile, Kanalsysteme und Mikromischer werden in der Bioanalytik, insbesondere in der Proteinanalytik, benötigt. Zusammen mit Mikroelektronik und einer Biosensorik – wie beispielsweise der FTIR-Spektroskopie, SAW-Sensoren oder Elektrochemische Arrays – ergeben sie Analyse-Instrumente, mit denen sich neue Therapeutika schnell entwickeln lassen. Diese Technik beschleunigt des weiteren die Entwicklung der medizinischen Diagnostik, der Gesundheitsvorsorge und Therapie sowie der Funktionsprüfung von Bio-Reaktoren oder künstlichen Organen.
Angesichts solcher Fortschritte wird klar: Medizinische Mikrosysteme sind längst keine Science-Fiction-Utopien, sondern Meilensteine auf dem Weg zu einem bezahlbaren und patientenfreundlicheren Gesundheitssystem.
Roland Dreyer Fachjournalist in Stuttgart
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