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Ohne Kabel würde vieles einfacher

Kabellose Messung: Fünf Wege, um an Vitaldaten zu kommen
Ohne Kabel würde vieles einfacher

An der RWTH Aachen forschen die Mitarbeiter in der Gruppe von Prof. Steffen Leonhardt an verschiedenen Verfahren, mit denen sich kabellos Vitaldaten messen lassen. Einsatzmöglichkeiten bieten sich im Alltag, in der Pflege und im OP.

„Wir gehen einer Zeit entgegen, in der wir sehr viele gesundheitsrelevante Informationen über sehr viele alte und multimorbide Patienten sammeln müssen“, sagt Prof. Steffen Leonhardt, der mit seiner Gruppe am Aachener Philips-Lehrstuhl für Medizinische Informationstechnik (MedIT) am Helmholtz-Institut für Biomedizinische Technik über kabellose Messtechnik forscht. Die Baby-Boomer Generation gehe in zwanzig Jahren in Rente. „Bis dahin können wir hoffentlich im Bett einer Intensivstation, im Dialyse-Umfeld oder auch im heimischen Bett Sensoren und Kameras anbringen, die uns dabei helfen, den Zustand der Menschen zu erfassen und zu bewerten. Und ohne Kabel dürfte das erheblich einfacher werden.“

Die Forscher um Leonhardt befassen sich derzeit mit fünf verschiedenen Verfahren, von denen zwei auch für die Erfassung von Vitaldaten im Automobil in Frage kommen. Die kapazitive EKG-Messtechnik beispielsweise lässt sich im Fahrersitz eines Autos oder in einem Stuhl im Wartezimmer integrieren. „Hier bekommen wir Werte von Sensoren, die in die Rückenlehne integriert sind und haben auch schon ermutigende Ergebnisse“, sagt Leonhardt.
Das zweite Verfahren, mit dem die Aachener arbeiten, ist die Magnetimpedanz. Hier wird das elektromagnetische Prinzip genutzt, Wirbelstrom im Kurzwellenbereich zu induzieren. Ist so ein System zum Beispiel in eine Stuhllehne integriert, können Veränderungen der Leitfähigkeit des Lungen- und Herzgewebes gemessen werden. Die dafür benötigte Strahlung sei geringer als das, was ein Handy abgibt. „Wir messen dann von außen das reinduzierte Feld und sehen damit Frequenz und Volumen des Herzschlages sowie Frequenz und Tiefe der Atmung. Und meines Wissens befasst sich derzeit sonst kaum jemand mit diesem Verfahren“, sagt Leonhardt. Im Rahmen einer Studie habe sich bereits gezeigt, dass sich diese Technik prinzipiell ebenfalls in einen Autositz integrieren lässt.
Als drittes Verfahren testen die Aachener die Potenziale der Ballistokardiographie. Das sei zwar ein sehr altes mechanisches Verfahren, um die Herzfrequenz zu messen und sei von EKG und der Pulsoxymetrie in der Praxis verdrängt worden. Leonhardt findet es dennoch spannend: „Wir verfolgen damit einen interessanten neuen Ansatz. Wenn man in jeden Pfosten eines Bettes eine empfindliche Waage integriert, ist im ruhigen Liegen des Patienten die winzige Welle des Blutflusse, die seinen Körper durchzieht, nachweisbar. Und da die dafür erforderlichen Sensoren sehr billig sind, sehen wir in diesem Verfahren für die Zukunft Potenzial und haben dazu viele Kontakte in die Medizintechnik-Industrie.“
Der vierte Ansatz nutzt Wärmebildkameras, um in einem sehr schwierigen Bereich zu arbeiten: Es geht um die Überwachung von Frühgeborenen, auf deren pergamentartiger empfindlicher Haut keine Sensoren aufgeklebt werden dürfen. „Um die Atmungsfrequenz zu erfassen, nutzen wir in dem konstanten Milieu eines Inkubators eine Wärmebildkamera“, erläutert Leonhardt. „Damit können wir die konvektive Kühlung messen, die durch die Atmung des Neugeborenen hervorgerufen wird.“ Bei jedem Atemzug kühle der Luftstrom nachweisbar nicht nur die Nase, sondern sogar die Matratze, wenn das Kind seitlich liegt. Darüber hinaus sei diese Technik interessant, um die mit einer beginnenden Sepsis einhergehende Temperatursteigerung im Körper eines erwachsenen Patienten zum Beispiel auf der Intensivstation zu erkennen – „und bei der Behandlung einer Blutvergiftung hilft es sehr, wenn man diese frühzeitig entdeckt und behandelt“, so Leonhardt.
Eher als Ausblick erwähnt der Mediziner und Ingenieur dann noch die Pulsplethysmographie, ein Verfahren, bei dem eine Sättigungsbildkamera Auskunft über den Gewebezustand gibt. „Was da genau passiert, ist physiologisch noch gar nicht verstanden“, sagt der Aachener. „Jedoch verspreche ich mir davon in weiterer Zukunft, dass wir auf dieser Basis Schmerz und Stress erkennen können.“
Nach Auskunft von Leonhardt muss die Robustheit der kontaktfreien Verfahren generell noch erhöht werden, eventuell auch, in dem redundant gemessen wird. Auch gelte es noch zu lernen, Artefakte besser zu erkennen. „So schnell werden wir also die Kabel noch nicht ersetzen können“, lautet seine Einschätzung für die nächsten Jahre.
Aber aus Projekten wie Smart OR lerne man immer wieder dazu. „Wir haben schon gesehen, dass man Sensoren in die OP-Liege integrieren kann, auch unter Kunstleder und Schaumstoff. Herzrate und ein grobes EKG, die der Anästhesist braucht, kann man damit gut liefern und von der Liege auf den Monitor funken.“ Probehalber wurde auch die kapazitive EKG-Messung schon in Stühle in der Anästhesie-Ambulanz integriert und erprobt, wo ein EKG nicht zum Standard gehört. Durch die Integration der Sensoren könnte man diese Daten jedoch auf einfachem Weg zur Verfügung zu stellen. „Da war unsere Erfolgsrate noch bei 60 bis 65 Prozent, weil bei besonders dünnen Patienten die Elektroden im Stuhl nicht optimal positioniert waren. Dennoch waren die Ärzte im Pilotversuch von dieser Idee sehr angetan“, sagt Leonhardt.
Die Überlegungen zur Integration von Messtechnik wecken natürlich hohe Erwartungen an eine Rundumüberwachung und rechtzeitige Warnung vor Risiken – die vielleicht gar nicht immer efüllt werden können.
Auch Leonhardt bleibt da realistisch. Als Mediziner reize ihn natürlich der Gedanke, Vorsorge betreiben zu können. Und ein Arzt könne die Informationen, die zum Beispiel im Auto über den Fahrer zusammengetragen werden, sicher gut gebrauchen. Das Vorhofflimmern sei bei sehr vielen Patienten verbreitet und man könnte diese mit blutverdünnenden Medikamenten gut vor den damit verbundenen Risiken für ein Gerinnsel und in der Folge einen Schlag schützen. Bei etwa 80 Prozent der Patienten sei Vorhofflimmern bisher nicht diagnostiziert. Eine Sammlung von EKG-Daten aus den verschiedenen Alltagssituationen würde diese Situation verbessern. „Allerdings habe ich bisher große rechtliche Bedenken, so etwas mit den bekannten Systemen umzusetzen“, sagt Leonhardt. Andererseits sind viele juristische Fragen, wie Datenschutz und Haftungsfragen, völlig offen, und auch die Kundenakzeptanz müsste geprüft werden.
Dr. Birgit Oppermann birgit.oppermann@konradin.de
Weitere Informationen Über den Einsatz kabelloser Messtechnik im Automobil hat medizin&technik bereits berichtet. Wie ein Sessel, der mit Sensorik und IT ausgerüstet ist, als Fitnesstrainer für Senioren eingesetzt werden kann, stellen Forscher auf der Cebit 2013 vor.
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