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Nur nicht von der Stange

Personalisierte Medizin: Die Medizintechnik treibt die programmatische Neuansage voran
Nur nicht von der Stange

Medizinische Behandlung mit standardisierten Therapien erweist sich in vielen Fällen als unwirksam und teuer. Das neue Credo lautet personalisierte Medizin. Die ersten Schritte dorthin sind gemacht.

Man kennt das von Arztbesuchen: Ein Medikament, das dem Nachbarn so gut geholfen hat, bringt für den eigenen Körper nicht die erhoffte Wirkung. Oder bei Implantaten, die sich in der Praxis längst bewährt haben, tauchen Unverträglichkeiten auf. In der medizinischen Praxis ist seit langem bekannt, dass die gleiche Therapie bei verschiedenen Menschen unterschiedlich anschlagen kann. Die Folge: Der Patient erhält eine unwirksame Therapie – und diese verursacht dem Gesundheitssystem unnötige Kosten.

Die Gründe dafür liegen oft im Individuum des Patienten begründet. So entscheidet beispielsweise die molekulare Struktur des Brustkrebses darüber, ob ein Medikament bei einer Patientin wirkt oder aber nicht. Um Brustkrebspatientinnen die richtige Chemotherapie zuteil werden zu lassen, kann man heute im Vorfeld durch einen Labortest erkennen, ob sie von dem Medikament überhaupt profitieren können.
Medikamente und Tests wie diese gehören zu den Produkten und Anwendungen, die der personalisierten oder individualisierten Medizin zuzurechnen sind. „Die personalisierte Medizin ist eine programmatische Neuansage, die im Sinne der Patienten schnell realisiert werden sollte“, sagt Professor Thomas Schmitz-Rode, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Biomedizinische Technik (DGBMT) im VDE. „Ärzte sind zwar schon immer bemüht, die am besten passende Behandlungsform für ihre Patienten zu finden. Doch die Verzahnung von Diagnostik und Behandlung erhält durch die wissenschaftlichen und technologischen Fortschritte der letzten Jahre eine neue Tiefe“, ergänzt Professor Norbert Graf, Leiter des EU-Großforschungsprojekts p-medicine. Für die beiden Experten ist klar: Medizintechnik und IT gehören zu den Wegbereitern dieser Entwicklung – weg von Behandlungen von der Stange.
Dabei geht es weniger darum, für jeden Patienten eine ganz persönliche, maßgeschneiderte Therapie zu finden. Vielmehr lassen sich Patienten aufgrund neuer Merkmale immer feiner differenzierten Gruppen zuordnen, die ein bestimmtes biologisches Merkmal besitzen.
Wer von personalisierter Medizin spricht, meint in der Regel den pharmakogeno- mischen oder -genetischen Aspekt mit der Entwicklung von Biomarkern und entsprechenden Diagnosen und Therapien, wie sie etwa bei Brustkrebspatientinnen angewandt wird. „Doch wird der Begriff heute schon viel weiter gefasst. Die Palette der Möglichkeiten ist groß und birgt daher für Medizintechnik-Hersteller große Chancen“, so Schmitz-Rode. „Die Technologien dafür sind in der Regel nicht neu, sie werden vielmehr rekombiniert.“ Dies fängt an bei patientenindividuellen Implantaten, die im Rapid-Prototyping-Verfahren entstehen, und führt über telemedizinische Anwendungen für chronisch Kranke wie Diabetiker bis hin zur Großmaschine, die auf verschiedene Patientengruppen abgestimmt wird.
Ein Beispiel für ein solches Gerät, das auf die Anforderungen einzelner Patientengruppen abgestellt ist, entwickelt Schmitz-Rode derzeit mit Partnern im Medizintechnik-Cluster Aachen: Eine Herz-Lungen-Maschine für Säuglinge. „Das Gerät muss bei Säuglingen mit einem Herzfehler grundsätzlich anders aussehen als etwa bei Erwachsenen mit einer chronischen Lungenerkrankungen. Die Gasaustauschfläche muss sich individuell anpassen lassen. Ein Riesengerät von der Stange ist nicht für alle geeignet“, so seine Erklärung.
Die Technologien zur Herstellung und Nutzung individuell angefertigter Prothesen und Implantate sind in der industriellen Fertigung schon etabliert. „Die Herausforderung besteht darin, die Rapid-Prototyping-Verfahren an den medizinischen Einsatz anzupassen“, sagen die Autoren des Reports „Individualiserte Medizin und Gesundheitssystem“ des Büros für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB), der 2008 erschienen ist, aber noch nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat. Eine zentrale Rolle spielen hier bildgebende Verfahren, die über geeignete Software an die dreidimensionale Produktion, zum Beispiel mit 3D-Druckern, gekoppelt werden. Als eine weitere Herausforderung identifiziert der Report die Verfügbarkeit geeigneter Materialien für biomedizinische Anwendungen. In der Entwicklung sind schon Nanopartikel, -fasern und -verbundmaterialien, auch mit bestimmten Zusatzfunktionen wie Sauerstoffversorgung. Erste Anwendungen des Rapid Prototyping werden für keramische Implantate als Knochenersatz bis 2018 erwartet.
Als ein weiteres Hemmnis für individuelle Implantate sehen die Autoren hohe Kosten und hohe Anforderungen an Ausstattung und Personal. „Die Technik muss generell bezahlbar und beherrschbar sein, das ist eine Grundforderung des Gesundheitssystems“, so Schmitz-Rode.
Dies trifft genauso auf die individualisierte Medizin zu, die auf Biomarkern basiert. Ziel der molekularen Diagnostik ist es, krankheitsspezifische Biomarker mittels maßgeschneiderter Sonden nachzuweisen –– entweder über bildgebende Verfahren im Körper des Patienten oder indirekt aus entnommenen Proben. Während mit konventionellen Methoden häufig Veränderungen beziehungsweise Symptome erfasst werden können, die relativ spät im Krankheitsverlauf auftreten, liegen die Chancen molekularer Methoden in der Früherkennung von Krankheiten.
Die Technik ist auch hier der Wegbereiter. So setzen sich mittlerweile Microarray- und Hochleistungssequenzierverfahren durch, die eine hocheffiziente Analyse der Struktur und der Sequenz menschlicher DNA und so zum Beispiel das Erstellen eines detaillierten genetischen Profils eines Tumors ermöglichen. Automatisierung, Miniaturisierung und Parallelisierung in Sequenzierautomaten tragen dazu bei.
Bildgebende Verfahren und Molekulares Imaging etwa mittels Positronen-Emissions-Tomographie (PET) sind notwendig, um krankhafte Vorgänge im Körper auf Zellebene sehr früh sichtbar zu machen und auffällige Bereiche millimetergenau zu lokalisieren. Sowohl Philips als auch Siemens haben für diese Anwendung erstmals kombinierte PET/MRT-Ganzkörperscanner entwickelt.
Deren Investitions- und Betriebskosten sind zwar relativ hoch, was einerseits die Verbreitung der Personalisierten Medizin behindern könnte. Doch die Autoren des TAB-Reports sehen darin auch eine Chance: Betreiber würden sich durch das Vorhandensein solch diagnostischer (Groß-)Geräte darum bemühen, diese aus Gründen der Profitabilität möglichst gut auszulasten.
Vor allem bei den bildgebenden Verfahren verfolgen Medizintechnikhersteller heute die Strategie, entsprechende Diagnose- und Analyseverfahren auf allen Stufen der medizinischen Leistungserbringung anzubieten. Darüber hinaus ist es vielfach ihr Ziel, sich als integrierter Diagnostikanbieter mit Labor- und bildgebender Diagnostik aus einer Hand, vernetzt durch maßgeschneiderte IT-Lösungen, zu positionieren. Siemens etwa hat aus diesem Grund in den vergangenen Jahren DPC und Bayer Diagnostics übernommen.
Im Hinblick auf die klinische Anwendung sind laut TAB-Zukunftsreport die zeitlich frühesten Anwendungen der entsprechenden DNA-basierten Technologien für die genetische Diagnostik von Erbkrankheiten zu erwarten. Für komplexe Krankheiten wird der klinische Nutzen in den kommenden Jahren als noch gering eingeschätzt. Denn bedingt durch das frühe Entwicklungsstadium ist bisher nur eine geringe Zahl neuer Tests so ausreichend erforscht, dass sie die klinische Entscheidungsfindung verbessern und einen Mehrwert gegenüber dem jeweiligen etablierten Goldstandard bieten können.
„Es wird noch zehn bis 15 Jahre dauern, bis alle relevanten Technologien für die personalisierte Medizin vorhanden sind und auch die notwendige klinische Validierung sowie der Nachweis eines deutlichen Nutzens für klinisch relevante Entscheidungsfindungen vorliegen“, sagt Schmitz-Rode.
Um bereits vorhandene Ansätze für eine molekulare Bildgebung mit Relevanz für die biomarkerbasierte individualisierte Medizin krankheitsbezogen weiter zu entwickeln und für die klinische Anwendung zu erschließen, fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unter dem Namen „Molekulare Bildgebung in der Medizin – MoBiMed“ verschiedene interdisziplinäre Forschungsverbünde. Darüber hinaus befassen sich drei der zehn vom BMBF geförderten Spitzencluster in Deutschland mit der Medizintechnik für die personalisierte Medizin: Dazu gehört das Münchner Biotech Cluster m4. Hier geht es um bildgebende Verfahren, aber auch um die IT, etwa in Form der elektronischen Patientenakte, in der genetische Informationen ebenso abgespeichert werden sollen wie Röntgen- oder Mammographiebilder in digitaler Form.
Im Spitzencluster Medical Valley Europä- ische Metropolregion Nürnberg werden zum Beispiel personalisierte effektgesteuerte Pharmakonapplikationen für die Augenheilkunde entwickelt oder ein Infusionssystem, das eine personalisierte Arzneimittel-Verabreichung auch außerhalb der Krankenhausumgebung erlaubt.
Zu dem Produkten des BioRN-Clusters in Heidelberg gehören diagnostische Testsysteme und Technologieplattformen für die Krebsbehandlung wie etwa ein Laserdruckverfahren von Pepperprint für die kostengünstige Herstellung von Peptidchips. Diese sind in der Lage, spezifische Proteinmuster des Patienten zu identifizieren und mit Krankheitsverläufen zu korrelieren.
Außerdem fördert die EU seit Februar das Projekt p-medicine mit Schwerpunkt auf der Verbesserung individueller Therapie für Krebspatienten durch IT. „Denn die Masse an erhobenen Daten nützt nichts ohne eine sinnvolle Zusammenführung“, sagt Professor Graf. Dafür soll eine Datenmanagementplattform patientenbezogene klinische Daten, bildgebende Daten aus der Radiologie sowie Labor- und molekulargenetische Daten eines Patienten unter Berücksichtigung des Datenschutzes zusammenführen.
Sabine Koll Journalistin in Böblingen
Molekulare Bildgebung ist einer der Wegbereiter der individualisierten Medizin
Weitere Informationen Zum Bericht des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB): www.tab-beim-bundestag.de Zu den gesellschaftlichen und ethischen Implikationen einer personalisierten Medizin: Report „Personalised Healthcare“ des Nuffield Council on Bioethics: www.nuffieldbioethics.org/personalised-healthcare-0 Zur Deutschen Gesellschaft für Bio- medizinische Technik (DGBMT) im VDE: www.dgbmt.de Zum Münchner Biotech Cluster m4: www.m4.de Zum Cluster Medical Valley Europä- ische Metropolregion Nürnberg: www.medical-valley-emn.de Zum BioRN Cluster in Heidelberg: www.biorn.org Zum Projekt p-medicine: www.p-medicine.eu Zum Medizintechnik-Cluster Aachen: www.akm-aachen.de
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