In der Medizintechnik ist Titan ein begehrter Werkstoff für Implantate und Instrumente. Mit geeigneten Werkzeugen für die Hochdruckkühlung und Komplettbearbeitung auf einer Maschine werden jetzt die Forderungen nach hoher Präzision und Oberflächengüte, aber auch nach erhöhter Produktivität erfüllt.
Bei rund einem Drittel der etwa 12 000 Operationen, die jährlich in der anerkannten Chirurgie des Bochumer Bergmannsheil an der Ruhruniversität Bochum ausgeführt werden, kommen Implantate aus Titan oder Titanlegierungen zum Einsatz. Professor Dr. Gert Muhr, ärztlicher Direktor der Chirurgie, sieht die Vorteile dieses Werkstoffes vor allem in seiner Oberflächenbeschaffenheit: „Titan ist biokompatibel und bioadhäsiv, das heißt, es wird problemlos vom Körper angenommen und Gewebs- und Knochenzellen können besonders gut am Implantat anwachsen.“ Darüber hinaus sei es im höchsten Maße korrosionsbeständig gegenüber Körperflüssigkeiten und verursache keine allergischen Reaktionen.
Diese Eigenschaften, aber auch das spezifische Gewicht, das mit 4,5 g/cm³ nur etwa halb so groß ist wie das von Stahl, machen Titan zu einem unverzichtbaren Werkstoff in der modernen Medizintechnik. Allerdings macht den Verarbeitern eine Eigenschaft des Werkstoffs Titan zu schaffen: die ausgesprochen schlechte Wärmeleitfähigkeit. Sie ist verantwortlich dafür, dass beim Zerspanen die an der Schneide des Werkzeuges entstehende Wärme nicht in das Werkstück oder in den Span geleitet, sondern voll auf das Werkzeug übertragen wird. Das würde, wenn keine geeigneten Maßnahmen zur Reduzierung der Temperatur ergriffen werden, an der Schneidkante zu so genannten Aufbauschneiden führen. Die Werkzeuge würden schneller verschleißen und die in der Medizintechnik geforderte hohe Oberflächengüte wäre nur schwer zu realisieren.
Das Arbeiten mit reduzierten Schnittgeschwindigkeiten ist eine solche Maßnahme. Allerdings erhöht sie die Stückkosten und senkt die Produktivität. Ein Schritt, der bei Zulieferern der Automobilindustrie wegen des Kostendruckes kaum vorstellbar wäre. Doch in der Medizintechnik lautet die Devise immer noch ‚Qualität vor Stückzeit‘. Aber auch hier setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass mit einer technischen Lösung der Wärmeabfuhr auch die Produktivität und damit die Kostenentwicklung deutlich verbessert werden können.
Ein Schritt in die richtige Richtung ist den Werkzeugherstellern gelungen. „Das Kühlmittel muss mit hohem Druck möglichst nah an die Schneide gebracht werden“, berichtet Kurt Brenner. Aber auch das aufgebrachte Volumen an Kühlmittel spielt für den Leiter Technik & Produktion beim Präzisionswerkzeughersteller Iscar Germany GmbH in Ettlingen eine wesentliche Rolle: „Wir testen zurzeit noch, welchen Einfluss der Druck und welchen Einfluss das Volumen auf das Ergebnis nehmen.“ Bei diesen Untersuchungen soll auch ermittelt werden, welche Durchmesser Kühlkanäle aufweisen müssen, damit bei gleichbleibendem Druck stets die benötigte Menge des Kühlmittels zur Verfügung gestellt werden kann.
Wie groß der Druck sein muss, um möglichst gezielt in den Schnittspalt zu gelangen, hängt von einem Phänomen ab, das nach seinem Entdecker Leidenfrost-Effekt genannt wird. Durch Verdampfen des Kühlmittels bildet sich vorne an der Schneide eine Gasblase, die eine Wärmeübertragung verhindert. Bei Drücken über 70 bar konnte diese Gasblase überwunden werden und das Kühlmittel direkt an die Schnittstelle gelangen. Diese Erkenntnis hat zunächst bei den Drehwerkzeugen eine Reihe interessanter konstruktiver Maßnahmen ausgelöst, die alle ein Ziel haben: der Kühlmittelstrahl soll aus nächster Nähe genau auf die Schnittstelle treffen. Der so zu erzielende Kühleffekt erlaubt es, die Schnittgeschwindigkeiten zu erhöhen und so die Produktivität zu steigern (s. Kasten auf Seite 67). Den für das Kühlmittel benötigten Druck müssen die Maschinenbauer zur Verfügung stellen.
Der Einsatz von Hochdruckwerkzeugen bringt, davon ist Sabine Hopf überzeugt, bei der Bearbeitung von Titan eine Reihe entscheidender Vorteile. Wegen der hohen Anforderungen an die Qualität der Bauteile und die Oberflächengüte seien die Spantiefen speziell beim Drehen nicht so groß, weiß die Industriespezialistin für Medizintechnik bei Iscar. „Dabei kann es passieren, dass die langen Späne einerseits um das Werkzeug wirbeln, andererseits aber auch um das Werkstück, wo sie die Oberfläche beschädigen können.“ Hier spiele die Druckkühlung ihre Vorteile voll aus. „Zum einen, weil die Späne aus der Zerspanzone entfernt werden und so die Oberfläche schadensfrei bleibt. Zum anderen, weil durch die optimierte Kühlung das Werkzeug weniger verschleißt und so die geforderte Oberflächengüte über einen längeren Zeitraum erreicht wird“, weiß die Fachfrau. Das sei ein wesentlicher Vorteil, denn „die Qualität, die im Medizinbereich gefordert wird, ist schon sehr hoch“, bekennt sie.
Das wissen auch die Entwickler und Anwendungsingenieure der Citizen Machinery Europe GmbH in Esslingen. Ihre ausgereiften und kompakten CNC-Langdrehautomaten basieren auf einer mehr als zwanzigjährigen Erfahrung in der Fertigung medizintechnischer Bauteile. Mit der M-Serie der Cincom Langdrehautomaten präsentieren die Spezialisten eine wirtschaftliche Lösung für die präzise Bearbeitung aufwendiger und komplexer Teile von der Stange bis zu Durchmessern von 32 mm. „Stangendurchmesser unter drei Millimeter setzen wir nur in Ausnahmefällen ein, gehen aber nicht unter zwei Millimeter“, erklärt Vertriebs- und Marketingleiter Joachim M. Müller. Dann könnten nämlich Probleme beim Handling im Magazin und bei der Beschickung auftreten.
Der große Vorteil dieser Langdrehautomaten liegt darin, dass die Werkstücke von der Stange in einer Aufspannung komplett fertig bearbeitet werden. Alle Abläufe sind automatisiert. Das steigert die Qualität und reduziert die Durchlaufzeiten und die Stückkosten. „Wegen der Komplexität der Werkstücke – das sind Implantate ebenso wie hochpräzise medizinische Werkzeugkomponenten – nimmt das Einrichten der Maschinen doch seine Zeit in Anspruch“, räumt Markus Reissig ein. Deshalb liege der wirtschaftliche Einsatz der Langdreher, so der Leiter Service und Technik bei Citizen, bei mittleren bis größeren Serien.
Als Kühlmittel setzen die Langdrehspezialisten ausschließlich Öl ein, wobei der Standarddruck 130 bar bei einem Durchlaufvolumen von 20 l/min beträgt. „Der hohe Druck wird benötigt, um die langen Späne umzulenken, damit keine Beeinträchtigung der oft eng bestückten Werkzeuge eintritt“, erklärt Reissig. In der Hauptsache diene er aber auch dazu, beim Bohren Späne aus dem Bohrloch auszuspülen. So werden durch einmaliges Eintauchen des Bohrers Beschädigungen der Oberfläche vermieden, die bei mehrmaligem Eintauchen auftreten könnten.
Standardmäßig haben die Kühlmitteltanks an den Langdrehautomaten ein Volumen von 120 bis 150 l. Bei der Hochdruckbearbeitung erwärmt sich das Öl auf bis zu 60°. Ein Kühler, der hier einzusetzen wäre, verursacht aber Zusatzkosten. Citizen hat aus dieser Entwicklung die Konsequenz gezogen und stellt jetzt mit dem von Partner Müller Hydraulik in Villingendorf hergestellten Combistream eine Hochdruckeinheit zur Verfügung, die Kühlmitteltank und Pumpe, Filtereinheit und Späneförderer beinhaltet. Bei einem Tankvolumen von 400 bis 450 l nimmt das Schneidöl deutlich weniger Wärme auf. Diese Einheit kann jetzt in jeden Cincom-Langdrehautomaten integriert, aber auch an älteren Maschinen nachgerüstet werden. So lassen sich auch diese für den Einsatz von Hochdruckwerkzeugen speziell zur Titanbearbeitung aufrüsten. Die große Nachfrage erstaunt selbst Marketingleiter Müller.
Wie präzise auch bei kleinsten Abmessungen auf Langdrehern gefertigt werden kann, demonstriert Hans-Georg Zink, der Gruppenleiter Anwendungstechnik. 48 mm lang und 0,26 mm im Durchmesser – das ist knapp dreimal die Dicke des menschlichen Haares – sind die beindruckenden Abmessungen des aus einer Titanstange zerspanten Werkstücks. Dieser mit einem winzigen Kopf ausgestattete ‚Draht‘ soll in der Augenmedizin Verwendung finden. „Zur Bearbeitung muss das Werkstück lediglich in der Gegenspindel in einem Rohr geführt werden, sonst würde es schlagen“, erklärt Zink.
Bei größeren Komponenten wie Knie- und Hüftgelenken oder Knochenimplantaten fallen in erster Linie Fräs- und Bohrarbeiten mit hohen Spanvolumina an. Die meist sequentielle Fertigung auf verschiedenen Maschinen und mit häufigerem Umspannen wirkt sich negativ auf Präzision und Durchlaufzeiten aus. Auch die Synthes Tuttlingen GmbH, ein führendes Unternehmen in der Medizintechnik mit großem Know-how in der Präzisionsfertigung von Instrumenten und Implantaten, hatte 18 Varianten ihrer Trialimplantate in mehreren Aufspannlagen auf zwei Fräszentren bearbeitet. „Angesichts der stetig steigenden Nachfrage und der auch künftig zunehmenden Zahl von Varianten haben wir uns intensiv nach alternativen Fertigungsmöglichkeiten umgesehen“, blickt Geschäftsführer Ulrich Jäggle zurück.
In dem multifunktionalen Flexiblen Fertigungszentrum FZ 12K S high speed für die 6-Seiten-Komplettbearbeitung haben die Medizintechniker die optimale Lösung für ihre Aufgaben gefunden. Die Turn-Key-Spezialisten der Chiron-Werke in Tuttlingen, quasi Nachbarn von Synthes, haben dieses Fertigungszentrum mit dem Technologiepaket ‚Drehbearbeitung von der Stange‘ ausgestattet. Darin enthalten sind ein NC-Schwenkkopf, eine CNC-Drehspindel mit einem Stangendurchlass von bis zu 65 mm, ein NC-Schlitten für den Stangenvorschub sowie ein NC-Wender mit hydraulisch betätigtem Spannstock. „Die Verfahrenskombination und der Wegfall mehrerer Umspannvorgänge haben die Werkstückqualität weiter verbessert, vor allem aber auch die Auftragsdurchlauf- und die Bearbeitungszeiten sowie die innerbetriebliche Logistikkette deutlich reduziert“, resümiert Jäggle.
Dr. Dirk Prust, Geschäftsführer bei den Chiron-Werken, umreißt die FZ 12K S als eine Maschine, die auf die wirtschaftliche Bearbeitung komplexer Bauteile mit hohem Fräsanteil und geringer Stückzahl bei hoher Varianz zugeschnitten ist. Reduzierte Schnittgeschwindigkeiten bei der Bearbeitung von Titan bedingen lange Bearbeitungszeiten. Hier macht die Vollautomatisierung bei der 6-Seiten-Bearbeitung von der Stange für einen hohen Nutzungsgrad absolut Sinn. Hohe Drücke für die Kühlschmiermittel kommen für Dr. Prust in erster Linie da zum Einsatz, wo ein Ausspülen von Spänen aus dem Spanraum der Werkzeuge erforderlich ist. Sonst spielt eher die Menge des Kühlmittels zum Spülen und Schmieren eine Rolle.
Einen Aspekt der eingangs angesprochenen Kühlung mit hohen Drücken stellt Iscar-Fachmann Kurt Brenner noch zur Diskussion: Die energieeffiziente Fertigung. „Die Steigerung des Kühlmitteldruckes, mit dessen Hilfe bei der Bearbeitung von Titan die Wärme aus dem Schneidspalt abgeleitet wird, erhöht auch den Energieverbrauch der Pumpe“, mahnt er. Der sei enorm und könne bei einer Abschätzung der Gesamtkosten durchaus eine Rolle spielen. Da gelte es, nicht ein Maximum, sondern ein Optimum anzustreben.
Dr. Rolf Langbein Fachjournalist in Rottenburg
Weitere Informationen Im Internet und auf der Messe AMB www.iscar.de (Halle 1, Stand E31) www.citizen.de (Halle 3, Stand D14) www.chiron.de (Halle 5, Stand C12) www.synthes-tuttlingen.de
Gezielte Kühlung erlaubt erhöhte Schnittgeschwindigkeiten
Komplettbearbeitung steigert die Qualität und reduziert die Durchlaufzeit
Ihr Stichwort
- Wärmeleitfähigkeit von Titan
- Hochdruckkühlung
- Schnittgeschwindigkeiten
- Komplettbearbeitung von der Stange
- Kostensenkung
Aus Expertensicht
Herr Brenner, führen Sie Werkzeuge für die Hochdruckbearbeitung schon im Standardprogramm?
Nein. Diese Werkzeuge werden speziell für die jeweilige Anwendung gefertigt. Dabei stellen wir die Austrittsbohrungen so ein, dass der Kühlmittelstrahl optimal die Schnittstelle trifft. Das ist entscheidend.
Ist diese individuelle Fertigung nicht sehr teuer?
Der Werkzeugkostenanteil für ein Bauteil liegt heute bei etwa drei Prozent. Mit dieser Art der Kühlmittelzufuhr unter hohem Druck können wir aber bei gleicher Standzeit der Werkzeuge die Schnittgeschwindigkeit deutlich erhöhen. Wir raten daher unseren Kunden, nicht am Rädchen Standzeit zu drehen. Denn wenn sie die Standzeit um 50 Prozent steigern, sparen sie bei den Kosten lediglich ein Prozent ein. Erhöhen sie dagegen die Schnittgeschwindigkeit um 20 Prozent bei gleicher Standzeit der Werkzeuge, haben sie eine Kostensenkung von 13,5 bis 15 Prozent.
Haben die Kunden diesen Vorteil noch nicht erkannt?
Vielen Anwendern sind diese Vorteile nicht bewusst. Gerade in der Werkstatt lautet die Devise immer noch Standzeit, Standzeit, Standzeit. Hier sollte aus wirtschaftlichen Gründen ein Umdenken stattfinden. Denn die Kostenvorteile durch die Hochdruckkühlung liegen auf der Hand.
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