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Lieber flechten als lasern

Geflochtene Implantate: Stents aus Formgedächtnismaterial günstiger herstellen
Lieber flechten als lasern

Wenn Gefäßimplantate kleiner und günstiger werden sollen, könnte man sie aus Draht flechten. Bochumer und Aachener Forscher haben erste Ergebnisse vorzuweisen, und es sieht schon gut aus. Feinarbeit steht aber noch an.

Gefäßimplantate aus Formgedächtnislegierungen „erinnern“ sich an ihre Ursprungsform und nehmen diese nach Verformungen immer wieder ein. Damit reagieren sie wie ein elastisches Blutgefäß. Für den Einsatz am Menschen mussten Stents schon immer haltbar und verträglich sein. Jetzt geht es darum, zugleich die Kosten für ihre Herstellung zu senken.

Dr.-Ing. Matthias Frotscher von der Ruhr-Uni Bochum und sein neunköpfiges Team aus Ingenieuren, Medizinern und Naturwissenschaftler setzen daher auf eine Alternative zum Laserschneidprozess. Mit dem Laser werden die filigranen Strukturen bisher aus teuren Halbzeugen hergestellt: nämlich aus festen Röhrchen aus Formgedächtnismetall. Der Laserprozess setzt auch die Untergrenze für die Dimensionierung der Stents, denn beliebig klein können sie so nicht werden.
Die Bochumer Medizintechnikspezialisten entwickeln daher ein Rundflechtverfahren zur Stentproduktion. Hierbei können sie Drähte verwenden. Das ist das günstigste und einfachste auf dem Markt erhältliche Halbzeug aus Titan-Nickel-Formgedächtnislegierungen. Durch das preiswertere Ausgangsmaterial sinken die Herstellungskosten deutlich.
Das erforderliche Flechttechnik-Wissen liefert das von Prof. Thomas Gries geleitete Institut für Textiltechnik der RWTH Aachen. Forscher der RUB untersuchen dann die Eigenschaften der Geflechte im Detail. Dazu gehören Analysen der mechanischen Eigenschaften, der Struktur und der Oberfläche.
„Noch ist die Produktionsgeschwindigkeit der Stents beim Flechten relativ langsam. Damit das neue Verfahren sich etablieren kann, sollte es schneller werden“, meint Frotscher.
Die geflochtenen Stents sind flexibel, sodass nahezu beliebige Strukturen, Längen bis 300 mm und kleinere Durchmesser möglich sind. Durch die Querschnittsverringerung der Metallimplantate können kleinere Gefäße behandelt werden. Auf diese Weise ist es prinzipiell möglich, Gefäße zum Beispiel in der Transplantationsmedizin durch die geflochtenen Stents miteinander zu verbinden. Damit können Mediziner noch kleinere Blutgefäße behandeln und neue Einsatzmöglichkeiten erschließen. Eine weitere Möglichkeit ist das Einflechten von Drähten aus Edelmetallen, was die Röntgensichtbarkeit verbessert.
Den „gedächtnisbildenden“ Schritt durchlaufen die Stents erst nach dem Flechten. In einem Wärmebehandlungsofen werden die geflochtenen Nickel-Titan-Implantate bei einer Temperatur von mehreren hundert Grad behandelt und in Wasser abgeschreckt. Der nickelreiche Werkstoff merkt sich dadurch seine Form ( man spricht auch von Shape Setting) und weist fortan den pseudoelastischen Formgedächtniseffekt auf. Im Falle der Stents passt sich das Metallimplantat den Bewegungen des Blutgefäßes an. Geflechte aus NiTi werden bereits erfolgreich für bestimmte Gefäßbehandlungen, insbesondere im neurovaskulären Bereich, eingesetzt.
Damit keine Nickel-Ionen aus den Implantaten kommen, was zu einer allergischen Reaktion führen könnte, werden die bisher nach dem Laserprozess hergestellten Stents elektropoliert, was Rauigkeiten der Oberfläche und Fertigungsdefekte wie zum Beispiel Grate entfernt. Es entsteht eine blanke und glänzende Metalloberfläche, die nur von einer wenige Nanometer dicken Titandioxidschicht bedeckt wird. Diese schützt den Organismus vor allergischen Reaktionen, da sich nun keine freien Nickel-Ionen mehr an der Oberfläche befinden.
Zurzeit elektropoliert die Gruppe um Frotscher auch die geflochtenen Stents. Das ist schwierig, da der Elektrolyt nicht an die Kontaktstellen der Drähte gelangt. Daher haben die Medizintechniker eine Vorrichtung entwickelt, mit der das Geflecht beim Elektropolieren sowohl gestaucht als auch gestreckt werden kann. Dieses ermöglicht umfassende Behandlungen. Bislang war dies im industriellen Maßstab noch nicht möglich.
Die Wissenschaftler arbeiten an einer systematischen Studie über diesen Prozess, mit viel versprechenden Zwischenergebnissen, aber auch Optimierungspotential. Eine neue Elektropolierapparatur für geflochtene Stents soll konstruiert werden. „Wir wollen den Herstellungsprozess des Flechtens weltweit zum Stand der Technik machen“, sagt Frotscher.
Für den lebensrettenden Einsatz im Menschen müssen die Implantate noch gründlich getestet werden, und das möglichst nahe an den physiologischen Bedingungen im Körper. So versuchen die Ingenieure, Mediziner und Naturwissenschaftler, die Lastannahmen im menschlichen Körper zu simulieren. „Wir untersuchen die mechanischen Belastungen im Zeitraffer mit einer höheren Frequenz unter möglichst realitätsnahen Bedingungen“, erklärt Frotscher. Zum Untersuchungsspektrum gehört die Röntgendiffraktometrie ebenso wie die Elektronenmikroskopie, mit denen mögliche Schäden bei der Herstellung und durch die zyklische Belastung nachgewiesen werden Können.
Dr. Thomas Isenburg Fachjournalist in Bochum

Ihr Stichwort
  • Formgedächtnislegierung
  • Stents aus Draht fertigen
  • Know-how aus der Textilbranche
  • Elektropolieren
  • Tests zur mechanischen Beanspruchung

  • Stent im Stress
    Die Gefäße unseres Organismus verändern sich mit zunehmendem Lebensalter. Wenn sie sich krankheitsbedingt verschließen, drohen im schlimmsten Fall Schlaganfall oder Herzinfarkt. Um das zu verhindern, schieben Mediziner mit einem Kathetersystem ein flexibles Röhrchen, einen Stent, von der Leiste aus durch die Blutgefäße bis an die verengte Stelle.
    Die Gefäßimplantate unterliegen hohen Beanspruchungen durch dynamische Belastungen. Mit jedem Herzschlag ziehen sich die Blutgefäße zusammen, und das Implantat wird radial komprimiert. Das geht am Material nicht spurlos vorbei: Derzeit sehen Zulassungsverfahren eine Lebensdauer von zehn Jahren vor. In diesem Zeitraum schlägt unser Herz 315 bis 400 Millionen Mal.
    Diesen Anforderungen können Stents aus Nickel-Titan-Formgedächtnislegierungen besser standhalten als gängige Werkstoffe, weil sie nach einer Verformung bei Entlastung scheinbar elastisch in ihre anfängliche Form zurückkehren. Gefäßimplantate aus der Formgedächtnislegierung lassen sich elastisch und reversibel bis zu 6 % dehnen. Das ist nach Angaben der Forscher eine Größenordnung mehr als bei konventionellen metallischen Stentwerkstoffen.
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