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Langzeit-EKG in der Speiseröhre

Sensoren: Neues diagnostisches Werkzeug für Herzrhythmusstörungen
Langzeit-EKG in der Speiseröhre

Forscher am Institute for Human Centered Engineering der Berner Fachhochschule haben mit Ärzten ein miniaturisiertes Aufnahmegerät für EKG-Signale entwickelt. Es arbeitet im Innern der Speiseröhre und soll mit wesentlich höherer Qualität aufzeichnen als herkömmliche EKG.

Weltweit an die 15 Millionen Menschen sind jedes Jahr Opfer eines Schlaganfalls. Einer der größten Risikofaktoren hierfür ist eine Form der Herzrhythmusstörung, das so genannte Vorhofflimmern. Doch es ist nicht einfach, diesen Vorboten zu erkennen, denn häufig tritt er nur für wenige Sekunden bis Minuten auf. Bloß die Hälfte der Betroffenen bemerkt überhaupt, dass da etwas nicht stimmt, beispielsweise weil das Herz ‚rast‘.

Um solche so genannten paroxysmalen Arrhythmien zu registrieren, braucht der Kardiologe eine effiziente und längerfristige Überwachung der im Herzmuskel entstehenden elektrischen Ströme. Über das herkömmliche 24-Stunden-EKG – auch Holter-EKG genannt – geht das weit hinaus.
Die heutigen Langzeit-EKGs an der Hautoberfläche entsprechen nicht ganz den Bedürfnissen des Arztes: Die P-Wellen, welche die Vorhofaktivität widerspiegeln, werden nicht zuverlässig registriert. Die Elektroden trocknen auch aus, fallen ab und müssen regelmäßig ausgewechselt werden. Zudem können Atem- und Körperbewegungen die Aufzeichnung verzerren. Und die an der Brust aufgeklebten Elektroden verursachen bei 50 % der Patienten Hautirritationen.
Neue Wege gehen daher Wissenschaftler am Institut für Human Centered Engineering (HuCE) der Berner Fachhochschule in Biel. Sie setzen neue Mikrotechnik ein und leiten die EKG-Signale von der Mucosa, der Schleimhaut in der Speiseröhre (Oesophagus), ab. Diese – in anatomischer Nachbarschaft zum Herzen gelegen –ist im Grunde eine optimale bioelektrische Schnittstelle und liefert stabile Daten von wesentlich höherer Qualität als gängige Holter-Geräte.
Soweit die Theorie. Bis zum erfolgreichen Prototypen gab es dennoch einige Probleme zu lösen. Die Bewegungen der Speiseröhre beeinflussten die Messung ebenso wie die Kontraktionen des Herzens und die Atmung. Das kann die Aufnahme-Elektronik in Sättigung mit Signalen überfluten. Auch ein Niederfrequenzrauschen trat auf.
Diese Hürden sind aber mittlerweile überwunden, und der heutige Prototyp liefert brauchbare Messwerte. Nur kleiner sollte er noch werden: Am besten so klein, dass Sonde und Auswerteelektronik miteinander verschmelzen und alles, was zum Auswerten gebraucht wird, im Innenraum der Sonde verschwindet. Diese hat aber nur einen Innendurchmesser von 2 mm.
Der heutige Aufnahmegerät-Prototyp ist davon mit seinen Abmessungen von 1,5 x 1,8 x 5 cm und einem Gewicht von 22 g inklusive der Ösophagussonde noch ein Stück entfernt. Immerhin: Hinter dem Ohr des Patienten lässt er sich gut tragen. Ein weicher Fixierbügel mit Metallkern passt sich patientenspezifisch an Form und Größe des Ohrs an. Ein waschbarer und gepolsterter Bezug schützt das Gerät vor Wasser und sorgt für Hygiene und Komfort.
Das anvisierte Ziel der Miniaturisierung haben die Wissenschaftler laut Dr. Marcel Jacomet, Professor für Mikroelektronik und Leiter des HuCE, aber noch im Blick. Neben den Elektroden muss Raum sein für die Elektronik, die Langzeit-Datenspeicherung und die Energieversorgung.
Bei konventioneller Datenerfassung fallen in den vorgesehenen 30 Aufnahmetagen mehr als 5 Giga-Byte Daten an. Schließlich arbeitet das Gerät mit zwei Kanälen, 16 Bits pro Abtastwert und einer Abtastsequenz von 500 Hz. Vor allem das Abspeichern dieser großen Datenmenge benötigt viel Energie. Die Datenmenge kann zwar durch Kompressionsverfahren reduziert werden – nur verschlingen klassische Kompressionsalgorithmen wiederum Energie.
Deshalb setzen die Wissenschaftler am HuCE zum Beispiel Erkenntnisse aus der Forschung zu nicht-adaptiven Datenkomprimierungs-Verfahren um. Damit gelingt es, Energie zu sparen. Maximale Energieeffizienz versprechen sich die Wissenschaftler von „ultra-low-power“ Chip-Technologien aus der Uhrenindustrie.
Während des ganzen Projekts standen die Forscher in Kontakt mit der Klinik für Kardiologie des Berner Universitätsspitals (Inselspital) und dem Artorg Center for Biomedical Engineering Research. Dieses wurde als Plattform für Innovationen in medizinischer Technologie von der medizinischen Fakultät der Universität Bern und dem Berner Universitätsspital geschaffen, um Technik-Experten und Ärzte an einen Tisch zu bringen.
Am Inselspital Bern erfolgten auch die ersten klinischen Tests mit dem Speiseröhren-EKG-Prototypen. Während einer Versuchsperiode stand das Aufnahmegerät mit einer Abtastfrequenz von 500 Hz und zwei Aufnahmekanälen im Einsatz. „In weniger als 0,25 Prozent der totalen Aufnahmezeit ging das Signal in den Sättigungsbereich“, erklärt Dr. med. Andreas Häberlin, wissenschaftlicher Assistenzarzt für Kardiologie/Rhythmologie am Inselspital Bern. Da das Gerät ansonsten einen Monat lang zuverlässig auswertbare Daten lieferte, war reichlich Zeit, in der auch R- und P-Wellen mit hohen Amplituden im eECG-Signal auftraten. „Diese konnten wir klinisch interpretieren“, sagt Häberlin.
Eine lückenlose Erfassung der Vorhofsaktivität anhand dieser Wellen ist besonders wichtig. „Während der ganzen Versuchsdauer waren die Testpersonen in ihren Aktivitäten – wie Essen, Sprechen, Reisen, Bewegung – nicht eingeschränkt, beklagten sich lediglich über ein geringes Fremdkörpergefühl beim Einführen der Sonde, das aber später nachließ“, kommentiert der Arzt. Positive Bilanz zieht auch Professor Dr. med. Rolf Vogel, Chefarzt Kardiologie am Bügerspital Solothurn und Projektleiter, denn „der Prototyp des neuartigen Mini-Aufnahmegerät kann Langzeit-eECG von hoher Qualität erstellen“. Neben dem klinischen Aspekt sieht er auch ein großes Geschäftspotenzial in diesem Gerät. Die innovative Idee, die Langzeit-Messung in der Speiseröhre vorzunehmen und damit Muskelartefakte auszuschließen, ermögliche erstmals, qualitativ hochstehende eECG-Daten während langer Zeit zuverlässig und patientenfreundlich zu registrieren und so möglicherweise das Risiko für Schlaganfälle zu senken.
Elsbeth Heinzelmann Fachjournalistin in Bern/Schweiz

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