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Labor und CT werden mobil

Telemedizin: Was ein rollendes Krankenhaus bei Schlaganfall bringt
Labor und CT werden mobil

Eine CT-Aufnahme vom Kopf eines Schlaganfallpatienten lässt sich vor dessen Haustür anfertigen, damit die Behandlung früher beginnt. Dem Kranken hilft das, wenn das telemedizinische Umfeld stimmt. Ob sich solche Spezialfahrzeuge rechnen, ist noch nicht erwiesen.

Wenn das Funkgerät von Martin Ebinger piept, saust der Neurologe von der Berliner Charité aus dem zweiten Stock an einer Eisenstange auf schnellstem Weg hinab ins Erdgeschoss. Dort steht in der Garage der Feuerwehrrettungsstelle in Berlin-Wilmersdorf ein orangefarbener Rettungswagen. Das Fahrzeug, mit dem Ebinger zum Einsatzort eilt, ist die weltweit erste rollende Miniklinik für Schlaganfallpatienten, kurz: Stemo – abgeleitet von Stroke-Einsatz-Mobil.

Denn bei der Versorgung nach einem Hirninfarkt zählt jede Minute. Die Zeit bis zur Behandlung entscheidet mitunter über „Pflegeheim oder Rückkehr an den Arbeitsplatz“, sagt Ebinger. Pro Minute sterben im Gehirn nach dem Schlaganfall 1,9 Millionen Nervenzellen. Mit blutverdünnenden Medikamenten, der so genannten Thrombolyse, kann das manchmal verhindert werden. Aber nur, wenn der Betroffene binnen 4,5 Stunden im Krankenhaus eintrifft. Danach hilft die Arznei nicht mehr oder schadet sogar.
Doch weltweit bekommen überhaupt nur 2 bis 4 % der Schlaganfallpatienten dieses Medikament. Die allermeisten kommen zu spät in die Klinik. Allein vom Notruf bis zur ersten Versorgung im Krankenhaus vergehen meist über 90 Minuten. „Viel zu langsam“, urteilt Prof. Heinrich Audebert, Leiter des Stemo-Projekts an der Berliner Charité.
„Wir müssen mit der Behandlung zum Patienten kommen“, leitet er daraus ab – mit dem Schlaganfallrettungswagen, der seit Anfang 2011 in Berlin unterwegs ist. An Bord: ein Labor, in dem Blutwerte des Patienten bestimmt werden, und das Herzstück, ein handelsüblicher Computertomograph, der noch vor der Haustür des Patienten ein Röntgenbild des Kopfes macht.
Auf den Schwarz-Weiß-Aufnahmen können Ärzte sofort sehen, woher der Schlaganfall rührt: von einem verstopften Gefäß im Gehirn – wie meist üblich – oder von einer Blutung im Gehirn. Das ist eine Schlüsselinformation, weil nur bei einer Verstopfung blutverdünnende Medikamente helfen und die Blutversorgung wieder herstellen. Dem gegenüber dürfen bei einer Blutung keinesfalls blutverdünnende Medikamente gegeben werden. „Das könnte den Patienten umbringen“, betont Ebinger.
Gut zwei Jahre nach der Jungfernfahrt des Schlaganfallrettungswagens zieht die Charité eine positive Bilanz. Mit dem neuen Wagen bekamen etwa zweihundert Kranke die Therapie 25 Minuten früher als sonst. Verglichen mit Phasen, in denen das Spezialfahrzeug nicht fuhr, erhielten auch 50 % mehr Patienten die blutverdünnenden Medikamente, unter anderem weil die kritischen 4,5 Stunden noch nicht verstrichen waren.
Als Audebert diese Ergebnisse Ende Mai auf der Europäischen Schlaganfallkonferenz in London publik machte, setzte ein Rennen auf den dort ausgestellten Rettungswagen ein, berichteten mehrere Beobachter übereinstimmend. Weit über hundert Adressen potenzieller Käufer vor allem aus den USA, Kanada, Australien, Russland und China hat die brandenburgische Meytec GmbH Informationssysteme, Werneuchen, eigenen Angaben zufolge aus London mitgebracht. Das Medizintechnik-Unternehmen hat die Technik des Stemo mit dem Partnerunternehmen Thermo Fisher Scientific Clinical Diagnostics Brahms GmbH aus Hennigsdorf entwickelt.
Meytec arbeitet nun an sechs bis acht verschiedenen Ausführungen des Schlaganfallrettungswagens. Denn je nach Land benötigen die Rettungskräfte eine andere Ausstattung. Dabei geht es auch darum, das Fahrzeug preiswerter zu machen, denn das Berliner Unikat kostet über 1 Mio. Euro.
Es ist jedoch beispielsweise speziell gegen Unfälle gerüstet. Eine dicke Stahlplatte und eine speziell entwickelte Halterung verhindern, dass das fast eine halbe Tonne schwere Röntgengerät beim Aufprall herausgerissen wird. Während der Fahrt arretieren außerdem drei pneumatische Bolzen die verschiebbare Röntgeneinheit im Stand-by-Modus. Am Einsatzort ist sie indes sofort einsatzbereit.
„Einige Interessenten benötigen diese technischen Besonderheiten nicht“, berichtet Gerhard Meyer, Geschäftsführer von Meytec. Andere wollen das Fahrzeug lediglich für die Röntgenaufnahme, aber nicht zum Transport des Patienten nutzen. „Dann kann es kleiner und einfacher gebaut werden“, so Meyer.
Sobald der Patient im Wagen in den CT geschoben wird, blinkt am Berliner Fahrzeug in roter LED-Schrift „Vorsicht Röntgen“. Eine Auflage, die durch die hiesige Röntgenverordnung bedingt ist. Damit Passanten keiner Strahlung ausgesetzt sind, ist der gesamte Wagen mit Bleitapeten abgeschirmt. „Wir haben aber Anfragen aus dünn besiedelten Gebieten. Dort ist die Röntgenstrahlung kein Problem. Da kann man womöglich auf die Bleitapeten verzichten“, schildert Meyer.
Für ihn ist allerdings schon jetzt klar, dass nicht alle Anfragen zu einem Verkauf führen können. Denn damit der Wagen wirklich Menschenleben rettet, müssen weitere Voraussetzungen erfüllt sein. In Berlin werden die Röntgenbilder in Echtzeit über den Mobilfunkstandard LTE zu einem Radiologen im Klinikum übertragen. Aufgrund gesetzlicher Bestimmungen darf hierzulande nur ein Radiologe den Befund anhand des Röntgenbildes erstellen. Um eine verlässliche Übertragung zu gewährleisten, nutzt der Betreiber mehrere Mobilfunkkanäle von Vodafone und Telekom gleichzeitig. „Aber nicht alle Länder verfügen über ein so gut ausgebautes Mobilfunknetz“, wendet Meyer ein.
Ein anderes Moment dürfte sich als noch kritischer erweisen. In Berlin hat die Charité ein ausgeklügeltes Filtersystem für Rettungsrufe entwickelt, damit das Stemo nur bei Verdacht auf einen Schlaganfall ausrückt. Denn obwohl sich jedes Jahr 12 000 Schlaganfälle in der Hauptstadt ereignen, ist das weniger als einer unter hundert Notrufen. An bestimmten Schlüsselworten erkennt der Mitarbeiter in der Leitstelle diese Telefonate. Über 60 % aller Fahrten führen so tatsächlich zu einem Patienten mit Hirninfarkt. „Würde das Fahrzeug nach dem Zufallsprinzip eingesetzt, würde es keinen Behandlungserfolg bringen und wäre nicht sinnvoll“, stellt Audebert klar.
Es ist also nicht nur die Technik, die in Berlin Leben rettet. Sechs Neurologen ließen sich zu Notärzten ausbilden, damit sie auf der Straße arbeiten dürfen. Weitere sechs Röntgenassistenten absolvierten eine Ausbildung zum Rettungssanitäter, damit sie nicht nur den CT bedienen, sondern auch die Patienten mit versorgen dürfen. Und schließlich steuern drei Rettungsassistenten das Stemo. Diese fünfzehnköpfige Mannschaft sorgt seither für den Betrieb des Spezialfahrzeugs.
In Anbetracht dieses Aufwands gibt Gerd Glaeske, Gesundheitsökonom an der Universität Bremen, zu bedenken, dass ein Spezialrettungswagen vor allem in Regionen sinnvoll wäre, in denen es wenige Stroke Units gäbe, etwa in Baden-Württemberg, weil es dort länger dauert, bis der Patient in der richtigen Einrichtung sei. „Auf jeden Fall müssen die Schlaganfälle pro Region, deren Folgen für die Patienten und die Todesfälle analysiert werden, um den Bedarf besser abschätzen zu können“, sagt Glaeske.
Immerhin bestätigen Ergebnisse aus dem Saarland, dass die fahrende Schlaganfallklinik die Zeit bis zur Therapie verkürzt. Klaus Faßbender, Klinikdirektor der Neurologie am Universitätsklinikum des Saarlandes in Homburg, testet dort seit 2010 ein mobiles Röntgengerät. 41 Minuten früher konnten die Patienten damit behandelt werden, berichtet er 2012 im Fachjournal Lancet.
Wie viel Leid ersparen diese Minuten und wie viel Aufwand ist dafür nötig? „Das müssen Gesundheitsökonomen nüchtern ausrechnen“, räumt Ebinger ein. Die gesetzlichen Krankenkassen stellen genau diese Frage, um zu entscheiden, ob sie diese Form der Notfallversorgung erstatten. Die Antwort steht jedoch noch aus. Derweil laufen Verhandlungen mit dem Berliner Senat, ob dieser den Betrieb des Fahrzeugs bis zur Klärung finanziert.
Andere denken unterdessen bereits über die kommenden Jahre hinaus. „Ganz neue frühzeitige Therapien“ ermögliche der Schlaganfallrettungswagen, sagt der Direktor der Neurologischen Abteilung der Charité, Prof. Dr. med. Matthias Endres. Und Meyer ist sich sicher: „Das ist erst der Anfang der fahrenden Kliniken.“ Denn es gibt viele Krankheiten vom Herzinfarkt bis zum Tinnitus, die besser gleich als später behandelt werden sollten.
Susanne Donner Fachjournalistin in Berlin
Weitere Informationen Zum Schlaganfall-Forschungsprojekt: www.schlaganfallforschung.de/
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Über die Partner
Im Projekt Stemo haben eine Reihe von Partnern zusammengearbeitet. Die Charité war mit ihrem Centrum für Schlaganfallforschung (CSB) sowie dem Telemedizincentrum Charité (TMCC) beteiligt. Die Berliner Feuerwehr hat das Fahrzeug beschafft und in Dienst gestellt sowie die Erkennung eines Schlaganfalls schon bei der Notrufabfrage verbessert. Dafür wurde ein Dispatcher Triage Instrument eingeführt. Meytec kümmerte sich um Einbau und sichere Halterung des Computertomographen im Stemo-Fahrzeug und war für den Einbau und die Vernetzung der gesamten telemedizinischen Einrichtung verantwortlich. Da verschiedene Systeme integriert werden mussten, gab es eine Reihe von Herausforderungen. Auch mussten die Daten sicher übertragen werden. Brahms hat im Rahmen des Stemo-Projektes innovative Biomarker erfoscht und für den Einsatz in der Notfallmedizin klinisch validiert.

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