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Innovativ trotz Bürokratie

Fertigung und Forschung in der Schweiz: Medizintechnikbranche besinnt sich auf ihre Stärken
Innovativ trotz Bürokratie

Die Wachstumsbranche Medizintechnik kämpft derzeit mit regulatorischen Schwierigkeiten und einem starken Franken. Der Ausweg aus der Situation führt laut Branchenexperten und Politik über Innovation und Rahmenbedingungen.

Mit 52000 Vollzeitstellen, rund 1450 Betrieben, einem Anteil von 2,3 % am BIP und 5,2 % an den gesamten Schweizer Exporten leistet die Medizintechnik „einen wichtigen Beitrag zum Wohlstand der Schweiz“. Das weiß auch Bundesrat Johannes Schneider-Ammann. „Die Unternehmen haben einen großen Anteil am Ruf der Schweiz als High-Tech-Land, als Innovationsweltmeister und als exzellente Forschungs- sowie Wissenschaftsnation. Ich werde alles daran setzen, dass das Land das beste Angebot bleibt, um hier Geschäfte zu machen, zu investieren und Arbeitsplätze zu schaffen“, versicherte der Bundesrat den Teilnehmern am Vorabend des ersten Swiss Medtech Days Mitte Juni in Bern.

Dort führte der Medical Cluster mit Vertretern von Industrie, Hochschulen, Politik und Behörden erstmals alle Interessengruppen der Schweizer Medizintechnik zusammen. Im Mittelpunkt der Tagung standen die aktuelle Marktlage, Innovation, Marktzugang und die Zusammenarbeit mit Global Players. Für den ökonomischen Klimawandel, von dem auch die export-orientierte Schweizer Medtech-Industrie stark betroffen ist, nannte der Schweizer Wirtschaftsminister die Frankenstärke und die europapolitische Unsicherheit als die beiden wesentlichen Gründe. Der Ausweg aus der heutigen Situation führt seiner Meinung nach über die Innovation und Rahmenbedingungen. Bei Ersterem könne der Bund die Branche mit drei Instrumenten unterstützen: über die KTI (Kommission für Technologie und Innovation), die Empa (Eidgen. Materialprüfungs- und Forschungsanstalt) und mit der Schaffung von Innovationsparks, einer schweizerischen Version des Silicon Valley.
Um die politischen Rahmenbedingungen zu verbessern, setzt Schneider-Ammann bei der Bürokratie, den Steuern und Europa an. Ziel der Politik müsse es sein, Regulierungen unternehmerfreundlich zu machen. Dazu seien ein Mentalitätswandel und konkrete Taten gefragt. Bei der Unternehmenssteuerreform gelte es, die Firmen zu entlasten.
Am meisten Sorge bereitet ihm das Verhältnis zu Europa, das mit der Annahme der Zuwanderungsinitiative in Frage gestellt sei. Hier gehe es nicht nur um den Nachzug benötigter Fachkräfte, sondern auch um den Anschluss an das europäische Forschungsprogramm „Horizon 2020“. „Wenn wir bis Ende nächsten Jahres zur Personenfreizügigkeit keine Lösung gefunden haben, wird die Schweiz zum Drittstaat, was verheerende Folgen für den Forschungs- und Arbeitsplatz Schweiz hätte“, betonte er. Laut Rubino Mordasini, Präsident des Medical Cluster, „müssen sich die Medtech-Unternehmen seit rund zehn Jahren auf ein sich ständig änderndes Marktumfeld einstellen – angefangen beim immer stärkeren Schweizer Franken über den Preisdruck bis zu den wachsenden Regulierungen.“ Trotzdem sei in der Schweiz keine Deindustrialisierung feststellbar.
Dies beweist auch Johnson & Johnson. Die Medizintechnik ist eines von drei Standbeinen des Großkonzerns. J&J beschäftigt hier allein in der Schweiz rund 3500 Mitarbeiter an acht Produktionsstandorten. Einst legten die bahnbrechenden Erfindungen des orthopädischen Chirurgen Maurice E. Müller mit den Grundstein zum Erfolg dieser Industrie (und der damaligen Synthes). Christoph Eigenmann von DePuy Synthes bezeichnete das Land unter anderem mit seinen hochklassigen Universitäten und dem großen Netzwerk „als Nährboden für Innovation“. „Weitere wichtige Voraussetzungen sind der Patentschutz, die Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern, der Aufbau von Innovations-Zentren und vor allem die Förderung von Nachwuchskräften und der freie Zugang zu Talenten aus dem Ausland.“ Hier müsse sich die Schweiz gegenüber Europa mehr öffnen, fordert er.
Auch Claude Clément, CTO des Wyss Center für Bio und Neuro Engineering in Genf, plädiert für den Innovationsstandort Schweiz. Er schilderte anhand von Beispielen die Anfänge und Errungenschaften der Schweizer Medtech-Branche. Vom Hydrocephalus-Ventil bis zum Herzschrittmacher habe sie vielerorts ihre Wurzeln in der Uhrenindustrie. Beispielsweise basiert die Medikamenten-Pumpe auf der Swatch-Technologie. Laut Clément sind Automatisation und Swiss Made neben vielen anderen Gründen zwei Schweizer Prädikate, die für Qualität bürgen und den Standort attraktiv machen. „Die Vergangenheit hat uns gelehrt, dank der Kombination von Technologien und selbst mit kleinen Volumen erfolgreich zu sein. Und in der Schweiz gibt es noch Platz für mehr Success Stories“, erklärte er. Als Summe vieler Nischen-Märkte bietet die Medizintechnik vorwiegend den KMU Entfaltungsraum.
Trotz aller Vorteile sei es in der Schweiz auch schwierig, Geschäfte zu machen. In einem immer komplexeren Umfeld haben die Medizintechnikunternehmen mit wachsender Bürokratie zu kämpfen, welche die Innovationsdynamik immer mehr eindämmt. Karoline Mathys Badertscher, Leiterin Bereich Marktüberwachung beim Schweizer Heilmittelinstitut, Swissmedic, zieht Parallelen zur Pharmaindustrie, wo nationale Zulassungen bereits seit 100 Jahren erfolgen und die mittlerweile eindeutig überreguliert sei. „Zwar wird die Medizintechnik beim Marktzugang erst seit 20 Jahren überwacht, und die Behörden spielen noch eine geringere Rolle“, erklärt sie. Doch wurden hier jetzt die Kontrollen vor allem seit dem PIP-Brustimplantate-Skandal stark beschleunigt.
Und wie können Medtech-Firmen den wachsenden Compliance-Druck zu ihrem Vorteil nutzen? Axel Maltzen, Chief Production Officer Medartis, und Burkhard Zimmermann, Chief Quality Officer von Hocoma, ermuntern dazu, die regulatorischen Anforderungen in die strategische Planung und auch in den Innovationsprozess mit einzubeziehen. Beide empfehlen, die technische Dokumentation und die Daten aus den klinischen Studien auch zu Marketing-Zwecken à jour zu halten beziehungsweise aktiv zu nutzen. Die in der Optik und Optoelektronik tätige Carl Zeiss Meditec lebt das vor. Hier kümmert sich ein rund 60-köpfiges Team um Global Regulatory Affairs (RA). Für den Verantwortlichen, Christian Münster, ist RA „nicht auf seinen Kernbereich zu begrenzen, sondern vielmehr als Business Enabler und Integrator zu betrachten“. RA sei eine Disziplin, die alles zusammenhält: von R&D über Product Management bis zu Marketing & Sales.
Der erste Swiss Medtech Day wurde rege als Austausch-Plattform genutzt und soll nun jährlich stattfinden: „Viele sind sich endgültig bewusst, dass die Industrie in eine neue Entwicklungsphase eingetreten ist und nun neue Herausforderungen anstehen, die wir nur gemeinsam lösen können“, erklärt Peter Biedermann, Geschäftsführer des Medical Cluster, abschließend.
Kathrin Cuomo-Sachsse Fachjournalistin in Muri/Bern, Schweiz
Weitere Informationen Zum Medical Cluster: www.medical-cluster.ch zum Schweizer Heilmittelinstitut: www.swissmedic.ch
Regulierungen und Bürokratie müssen unternehmerfreundlicher werden
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