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Europa muss auf das digitale Gaspedal drücken

Industrie 4.0: Die USA liegen vorne, Deutschland und Schweiz dahinter, aber China holt auf
Europa muss auf das digitale Gaspedal drücken

In Deutschland spricht man von Industrie 4.0, in den USA vom Internet of Things – doch wer hat die Nase vorne im Wettkampf um die Digitalisierung von Fabriken und Services? Eine Studie von Roland Berger zeigt ein uneinheitliches Bild in Europa.

Nur zwei Länder in Westeuropa haben seit Beginn des Jahrtausends nicht an industrieller Wertschöpfung eingebüßt: Deutschland und die Schweiz. In Deutschland hat sich der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung in dieser Zeit von 22 auf 24 % erhöht, in der Schweiz liegt er seitdem stabil bei 19 %. „Dieser hohe Industrialisierungsgrad ist die beste Voraussetzung für die beiden Länder, um beim Thema Industrie 4.0 langfristig die Nase vorne zu haben“, ist Sven Siepen überzeugt, Managing Partner Schweiz bei Roland Berger Strategy Consultants.

Die Unternehmensberatung hat in einer Studie zum Thema Industrie 4.0 vor allem die Rolle der Schweiz bezüglich der vierten industriellen Revolution in Europa untersucht, diese Rolle aber in einen gesamteuropäischen Kontext gestellt. Dabei kommt Siepen zu dem Schluss, dass die Schere zwischen den Industrie-4.0-fitten Ländern und denen, die hinterherhinken, in Europa sehr weit auseinander geht.
Bei der Bewertung hat Roland Berger neben dem Anteil der industriellen Wertschöpfung noch weitere Faktoren herangezogen: Wie offen ist die Volkswirtschaft? Ist es möglich, sich auf konvergierende Branchen einzustellen? Wie gut sind innovative Netzwerke? Wie qualifiziert, flexibel und interdisziplinär sind Mitarbeiter, um Industrie 4.0 in ihren Unternehmen voranzutreiben? Dies alles ist in den Industrie-4.0-Readiness-Index eingeflossen, bei dem Deutschland und die Schweiz ganz oben im Cluster der Spitzenreiter stehen.
„In beiden Ländern ist der Automatisierungsgrad in der Fertigung schon sehr hoch, die Mitarbeiter sind von der Ausbildung her und mental offen für die Digitalisierung – und sie sind in der Lage, nicht nur eine Maschine manuell zu bedienen, sondern auch mit einer speicherprogrammierbaren Steuerung umzugehen“, sagt Siepen. Außerdem stimmen bei diesen Industrie-4.0-Spitzenreitern die Breitbandinfrastruktur, die Forschungslandschaft sowie das Engagement von Wirtschaftsverbänden, die das Thema vorantreiben, indem sie das nötige Bewusstsein schaffen. Insofern seien hier auch die Chancen für Unternehmen aus der Medizintechnik – die in beiden Ländern stark vertreten ist – gut, durch die stärkere Vernetzung der Produktion Effizienzvorteile zu generieren und auch neue digitale Geschäftsmodelle erfolgreich zu machen.
Dies alles gilt – wenn auch mit kleinen Abstrichen – für Österreich, Finnland, Schweden und Irland. Die beiden skandinavischen Staaten fördern das Thema sehr stark. „Sie haben sehr früh verstanden, dass Industrie 4.0 dazu beiträgt, dass ihre Industrie trotz des hohen Lohnniveaus wettbewerbsfähig bleiben kann“, erklärt der Berater.
Irland hingegen sei ein Spezialfall. Mithilfe von steuerlichen Anreizen sei es dort gelungen, ein Cluster einerseits von Pharma- und Medizintechnikherstellern und andererseits von IT-Anbietern anzusiedeln. Siepen: „Die Unternehmen beider Branchen weichen die traditionellen Industriegrenzen auf und sprechen miteinander. Dies ist ein sehr fruchtbarer Boden für die Digitalisierung und damit für die Entwicklung von Industrie 4.0.“
Eine Reihe osteuropäischer Länder – dazu gehören etwa Tschechien und Ungarn – bezeichnet die Roland-Berger-Studie als „Traditionalisten“: Der Anteil der industriellen Wertschöpfung ist hier relativ hoch, in Tschechien liegt er sogar bei 25 %. „Die Unternehmen in diesen Ländern verfügen damit über eine breite Basis an gut ausgebildeten Fachkräften, die den Übergang in das digitale Zeitalter sehr gut meistern können“, ist Siepen überzeugt. Allerdings fehle es den „Traditionalisten“ an Förderinitiativen von Seiten der Regierung oder der Verbände.
Schwerer im Industrie-4.0-Rennen tun sich nach Ansicht von Roland Berger solche Länder, deren Industrialisierungsgrad in den vergangenen 15 Jahren auf Talfahrt war – allen voran die beiden früheren klassischen Industrienationen Großbritannien und Frankreich. „Die industrielle Basis fehlt hier einfach“, stellt Siepen klar. Der Anteil der industriellen Wertschöpfung liegt in beiden Ländern nur noch bei 10 %; 2001 waren es noch jeweils 15 % gewesen. Beide Länder haben sich früh entschieden, den Servicesektor auf Kosten der Industrie zu stärken. Auch fehle auf beiden Seiten des Ärmelkanals ein starker Mittelstand mit entsprechender Förderung als Innovationsmotor.
Ganz weit hinterher hinkt nach der Roland-Berger-Studie eine Gruppe von europäischen Ländern, als „Hesitators“ bezeichnet: Italien, Spanien und Portugal gehören dazu – also Staaten, die weiterhin mit großen wirtschaftlichen Problemen kämpfen. Zukunftsfähige, ökonomische Förderprogramme, die die Digitalisierung vorantreiben könnten, fehlen hier weitgehend.
Siepen warnt allerdings davor, Europa als den Nabel der Welt in Sachen Industrie 4.0 zu sehen. „Dies liegt nahe, da der Begriff in Deutschland geprägt wurde. Doch die USA sind Europa deutlich voraus“, so seine Einschätzung. Zwar liegt der Anteil industrieller Wertschöpfung in den USA mit 12 % noch unter dem europäischen Durchschnittswert von 15 %. „Doch die IT-Branche im Silicon Valley und Forschungseinrichtungen wie das MIT haben das Thema Digitalisierung in den USA schon sehr früh sehr stark forciert“, erklärt der Roland-Berger-Experte.
Und noch ein weiteres Land sieht er auf der Überholspur: „In China steigen die Lohnkosten, deshalb wird man dort künftig stärker die Produktion automatisieren. Dies hat neben den Kosten einen weiteren Vorteil, der vor allem in der Medizintechnik zum Tragen kommt: Die Qualität der Prozesse und damit auch der Produkte steigt, sodass die Export-Chancen für chinesische Hersteller steigen werden. Somit dürfte Industrie 4.0 der Medizintechnikbranche in China einen Schub geben.“
Sabine Koll Journalistin in Böblingen
Ohne Förderung von staatlicher Seite oder von Verbänden geht es nicht

Europas Staaten im Industrie-4.0-Check

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Aus Expertensicht

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Herr Siepen, in einzelnen europäischen Ländern sehen Sie sehr gute Voraussetzungen für das digitale Industrie-4.0-Zeitalter. Warum mahnen Sie dennoch in Ihrer Studie an, dass die Europäische Union das Thema vorantreibt? Europa steht am Scheideweg. Die Lücken zwischen einzelnen Ländern in Europa in Bezug auf die nächste industrielle Revolution sind sehr groß. Diese gilt es zu schließen, um einerseits Chancengleichheit herzustellen, andererseits um auch die Schlagkraft Europas bei Industrie 4.0 zu erhöhen. Es macht keinen Sinn, dass jedes Land, jedes Unternehmen, jede Universität oder jeder Wirtschaftsverband für sich allein an der Digitalisierung arbeitet.
Was schlagen Sie konkret vor? Wir fordern die Europäische Union auf, alle an einen Tisch zu holen und das Thema gemeinsam voranzutreiben – etwa durch die Bildung von Clustern auf europäischer Ebene. Das können Branchen-Cluster sein oder auch Hochschul-Cluster. Letztere könnten sich als Pendant zum MIT entwickeln. Mit EU-Digitalkommissar Günther Oettinger haben wir in Europa sehr gute Voraussetzungen, um die einzelnen Initiativen, die notwendig sind, europaweit zu koordinieren – also die Cluster-Bildung oder auch Ausbildungsprogramme.
Gibt es aktuell denn noch keine Zusammenarbeit auf internationaler Ebene beim Thema Industrie 4.0? Leider sehe ich sehr wenig. Im Gegenteil: Zum Teil versuchen in einem Land mehrere Industrieverbände parallel das Thema zu treiben. Diese Kräfte könnten meiner Ansicht nach viel besser gebündelt werden.
Müsste auch investiert werden? Um eine führende Rolle bei Industrie 4.0 einzunehmen, muss Europa über die nächsten 15 Jahre jeweils 90 Milliarden Euro investieren – in Summe also 1,35 Billionen Euro. Die traditionelle Industriepolitik reicht dafür nicht aus.

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