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Eine knochenharte Angelegenheit

Biokunststoffe: Schrauben aus Kompositmaterialien werden unterschiedlich hergestellt
Eine knochenharte Angelegenheit

Bei der Fixation von Sehnen kommen immer häufiger Interferenzschrauben aus Biopolymeren zum Zug. Sie bauen sich im Laufe der Zeit ohne Nebenwirkungen ab. Herstellen lassen sie sich in einem Schmiedeprozess oder im Spritzgussverfahren.

Bei Kreuzband-Operationen verwendete Schrauben sind oft aus Titan. Häufig müssen Ärzte diese Metallteile nach einer Weile entfernen oder durch neue ersetzen. Biokunststoffe können diesen Schritt vermeiden: Sie fördern den Aufbau von Knochen und sind zugleich abbaubar.

Zum Einsatz kommt für diesen Zweck seit einiger Zeit der Biokunststoff Poylactid (PLA). Er besitzt ähnliche Eigenschaften wie ein Kunststoff auf Erdölbasis und wird meist durch die Polymerisation von Lactid hergestellt. Der Ausgangsstoff dafür ist Milchsäure, die durch Fermentation von Zucker gewonnen wird. Der Vorteil: Die Schrauben können vom menschlichen Körper resorbiert werden. Daher waren sie lange Jahre die meist genutzten Implantate im Rahmen von Rekonstruktionen der vorderen und hinteren Kreuzbänder. Allerdings zeigen sich in der Praxis vermehrt Probleme. Beim Abbauprozess der PLA-Schrauben entsteht Milchsäure, die zu entzündlichen Reaktionen der umgebenden Knochen und folglich zur Abkapselung des Implantats führen kann.
„Mechanische Stabilität und die Fähigkeit der physiologischen Resorption können nur durch Kompositmaterialien aus verschiedenen Werkstoffen erreicht werden“, stellt Dirk Göthel klar, Produktmanager Sportmedizin bei der Richard Wolf GmbH, Knittlingen. Daher mischt der Medizintechnikersteller PLA mit Hydroxylapatit (HA). Dieses Mineral ist in Knochen zu einem Anteil von etwa 40 % enthalten, so dass es beispielsweise schon als Knochenersatz oder als bioaktive Beschichtung von Titanimplantanten zur Verbesserung des Knocheneinbaus zum Einsatz kommt. Das HA puffert den sauren pH-Wert der beim PLA-Abbau entstehenden Milchsäure. So werden entzündliche Reaktionen des umgebenden Gewebes sowie eine Abkapselung des Implantats vermieden. Außerdem wird die Oberfläche der Schrauben direkt in den Knochenstoffwechel einbezogen, und der umgebende Knochen wächst bioaktiv in die Oberfläche der Schraube ein. So ist ein durchgängiges Knochenwachstum gewährleistet.
Mit Bioactif Osteotrans hat Richard Wolf seit einem Jahr bioaktive und bioresorbierbare Interferenzschrauben aus einer solchen Materialkombination auf dem Markt. Die HA-Partikel haben dabei eine durchschnittliche Größe von 5 µm. Entscheidenden Einfluss auf die mechanischen Eigenschaften des Materials und das Resorptionsverhalten hat laut Göthel das Herstellungsverfahren. Bioactif Osteotrans wird in einem speziellen Schmiedeprozess mit anschließender spanender Bearbeitung hergestellt. Dieses Verfahren gewährleistet die gleichmäßige Verteilung der HA-Partikel in der PLA-Matrix und eine Verfestigung des Materials. Damit erreichen die Interferenzschrauben die mechanischen Eigenschaften des menschlichen Knochens, so Göthel. Bisher setzt der Hersteller den Werkstoff für Schrauben und Plattensysteme für Frakturfixationen und Bandrekonstrukionen ein – und zwar in der Orthopädie sowie in der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie.
Einen anderen Weg schlägt das Fraunhofer Institut für Fertigungstechnik und Angewandte Materialforschung IFAM in Bremen ein. Die Forscher haben ein spritzgießfähiges Komposit aus PLA und HA entwickelt, das man mit herkömmlichen Spritzgussverfahren präzise verarbeiten kann. So entfällt die bisher notwendige Nachbearbeitung, wie etwa das Fräsen.
„Wir können die komplexe Geometrie direkt abformen“, erklärt Philipp Imgrund, Leiter der Abteilung Biomaterial-Technologie am IFAM. Das Pulverspritzgießen vereint eine endkonturnahe Herstellung der Komponenten mit einer Reihe von Freiheiten hinsichtlich Werkstoffauswahl und Oberflächeneigenschaften.
Das Pulverspritzgießen stellt eine Symbiose zwischen dem Spritzgießverfahren und dem Sintern dar. Ersteres ermöglicht eine freie Bauteilgestaltung, letzteres bietet vielseitige metallurgische Möglichkeiten. Der Verfahrensablauf besteht aus der spritzgießtechnischen Herstellung eines Grünlings, dessen Entbindung und der anschließenden Sinterung.
Das Ergebnis ist eine robuste Schraube. Die Eigenschaften dieses Prototypen sind laut Fraunhofer IFAM sehr nah an der des Knochens: mehr als 130 N/mm2 entspricht deren Druckfestigkeit. Zum Vergleich: Ein echter Knochen hält zwischen 130 bis 180 N/mm2 aus.
Das Spritzgussverfahren hat zudem einen positiven Nebeneffekt. Normalerweise muss das Pulverspritzgussbauteil nach dem Abformen bei sehr hohen Temperaturen von bis zu 1400 °C verdichtet werden. „Wir benötigen für unsere Kompositmaterialien aber nur 140 °C“, freut sich Imgrund.
Sabine Koll Fachjournalistin in Böblingen

Hart, aber kompostierbar
Biopolymere sind den technischen Polymeren heute im Hinblick auf die thermische Stabilität und die Verarbeitbarkeit unterlegen. Abhilfe schaffen können chemische Modifizierungen oder die Vermischung mit geeigneten Polymeren oder Füllstoffen. Ein Beispiel ist die Herstellung höherfester beziehungsweise harter Biopolymere für Skalpellklingen oder Nägel. Am Fraunhofer IFAM werden dafür die Polysaccharide Chitosan und Celluloseacetat mit Hilfe von Zink und Kupfer gehärtet. In einem biomimetischen Ansatz werden nach dem Vorbild der Kieferklauen von Vogelspinnen Metallionen in die Polymermatrix eingelagert. Dies führt zu einer Härteerhöhung bis in den Bereich von reinem Aluminium. Außerdem ist das Material biologisch abbaubar. So sind die mittels Spritzgussverfahren hergestellten Skalpellklingen nach Verwendung kompostierbar.

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