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Drucker statt Werkzeuge

Generative Fertigung: Neue Chancen für Hersteller in der Medizintechnik
Drucker statt Werkzeuge

Heute Prototypen, morgen Serienprodukte: Die generative Fertigung steht auch in der Medizintechnik vor ihrem endgültigen Durchbruch. Die Preise für die Werkstoffe sinken, doch die Prozesstechnik bleibt eine Herausforderung.

Der Kalifornier C.J. Howard wollte auch nach der Diagnose eines Osteosarkoms und der anschließenden Amputation seines linken Beins weiter aktiv sein. Er lernte klettern. Zunächst mit seiner Standardfußprothese, über die er einen Kletterschuh zog. Doch der Spezialschuh passte nicht zur generischen Form der Prothese und verschliss sehr schnell. Deshalb entwickelte er gemeinsam mit einer Kletterfreundin, einer Luft- und Raumfahrtingenieurin, einen optimierten Prothesenfuß. Als Fertigungstechnologie kam für die Ingenieurin nur das Metall-Laser-Schmelzen infrage, da bei herkömmlichen Fertigungstechniken Nähte am Fuß, hervorstehende Schrauben oder Muttern notwendig gewesen wären. Sie wandte sich an den 3D-Druck-Dienstleister Morris Technologies. Dort war man bereit, dem behinderten Sportler zu helfen.

Die digitalen CAD-Daten des Prothesenfußes wurden in die Software eingelesen und anschließend in einzelne Schichtinformationen zerlegt. Diese hat dann ein Metall-Laser-Schmelz-System von EOS, Krailing, nacheinander aus Titan (Ti64) wieder aufgebaut. Der Vorteil der generativen Fertigung: Die Prothese lässt sich an die Anatomie des Patienten anpassen. Falls sie nicht auf Anhieb sitzt, kann einfach die CAD-Datei optimiert werden.
Das Beispiel zeigt: Die generative Fertigung ist in der Medizintechnik angekommen. Die Marktexperten von Wohlers Associates und Roland Berger gehen davon aus, dass 16 % des Umsatzes mit generativ gefertigten Bauteilen auf die Medizintechnik entfallen – und diese damit zu den Top-Anwenderbranchen gehört. Dies entspricht einem Volumen von 280 Mio. Euro. Roland Berger prognostiziert, dass der Gesamtmarkt – Maschinen, Material und Services – für alle Branchen in den nächsten zehn Jahren explodieren wird. Bis 2023 soll er sich vervierfachen und dann 7,7 Mrd. Euro betragen. Dazu trägt nicht nur der Hype um die 3D-Drucker im Consumer-Bereich bei. Die generative Fertigung entkommt vielmehr dem Prototypen-Stadium und macht sich fit für die Serienfertigung. Laut Wohlers sind mittlerweile 28 % aller additiv gefertigten Bauteile der Serienfertigung zuzuordnen, Tendenz steigend.
„Dabei handelt es sich mehrheitlich um Kleinserien, bei denen die Kosten etwa für Spritzgießwerkzeuge zu hoch wären“, sagt Ralf Schumacher, Wissenschaftler am Institut für Medizinal- und Analysetechnologien IMA der Hochschule für Life Sciences – Fachhochschule Nordwestschweiz. „Gerade im Medizinbereich hat man aber auch einen hohen Anteil an kundenindividuellen Lösungen, also etwa Hörgeräte, die sich dem Gehörgang anpassen, oder Schablonen für das Setzen von Knieprothesen.“
Das größte Stück des Kuchens aber macht die Dentaltechnik aus – nach Einschätzung von Roland Berger der Bereich in der gesamten Industrie, der bisher als einziger eine Fertigungsreife erreicht hat, die der klassischer Herstellungsmethoden in Bezug auf Schnelligkeit und Qualität ebenbürtig ist. Laut Maschinenhersteller EOS lassen sich mit einem System innerhalb von 24 Stunden 450 kundenindividuelle Kronen oder Brücken auf Basis digitaler Daten fertigen. Zum Vergleich: Ein Zahntechniker kommt auf durchschnittlich 40 Kronen oder Brücken am Tag. 70 solcher Maschinen von EOS sind bereits weltweit im Einsatz; 6,8 Millionen Zahnersatzprodukte entstehen damit pro Jahr. „In der Dentaltechnik funktioniert die Serienfertigung mit generativen Verfahren sehr gut, weil die Geometrien der Produkte sich stark ähneln und man dafür ein stabiles Prozesswissen aufgebaut hat. In allen anderen Bereichen mangelt es genau daran“, betont Schumacher.
„Die generative Fertigung besteht aus einer sehr anspruchsvollen Prozesskette. Sie zu beherrschen, ist der Schlüssel zum Erfolg“, bestätigt Christoph Erhardt, Director Additive Manufacturing & Quality Management beim 3D-Druck-Dienstleister Alphaform Claho in Eschenlohe. „In der Industrie funktioniert es eben nicht so einfach, wie im Consumer-Umfeld oftmals suggeriert wird: Den Drucker mit CAD-Daten füttern, auf den Knopf drücken und schon kommt ein funktionierendes Bauteil heraus.“ Beim Metall-Laser-Sintern müssen beispielsweise die optimale Intensität und die Geschwindigkeit des Lasers herausgefunden werden. Bis zu 180 verschiedene Parameter lassen sich laut Roland Berger allein an einem industriellen 3D-Drucker einstellen. Nach dem Druck folgen Nachbearbeitungsprozesse wie Wärmebehandlung oder Polieren.
Ein wesentlicher Parameter, der zur Komplexität beiträgt, sind auch die Werkstoffe: Pulvergröße und -reinheit unterscheiden sich. „Selbst wenn man Werkstoffe nutzt, die aus konventionellen Herstellverfahren bekannt sind, muss in jedem Fall eine Material-Qualifizierung stattfinden“, so Erhardt. „Denn die Dichte und die mechanischen Eigenschaften ändern sich beim 3D-Druck.“ Viele Maschinen erfordern zudem proprietäre Werkstoffe, die von den Systemherstellern verkauft oder zumindest lizenziert werden – um die Prozesssicherheit beim 3D-Druck zu erhöhen.
Spritzgießmaschinenbauer Arburg, Loßburg, bringt dieses Jahr mit dem Freeformer den ersten 3D-Drucker auf den Markt, auf dem sich Standard-Kunststoffgranulate wie ABS, PC, PA sowie elastische Materialien wie TPE verarbeiten lassen. Doch selbst hier lassen sich beim Bauteil nur bedingt Parallelen zwischen konventioneller Herstellung – also Spritzgießen – und 3D-Druck ziehen, warnt Dr. Oliver Keßling, Abteilungsleiter Kunststoff-Freiformen bei Arburg: „Viele wünschen ein Bauteil, das additiv gefertigt 1:1 die gleichen Eigenschaften hat wie das entsprechende Spritzteil. Also praktisch Spritzgießen in Kleinserie ohne Werkzeug. Das geht natürlich nicht. So muss man bei der additiven Fertigung verfahrensbedingt mit Einschränkungen hinsichtlich Oberflächenqualität und Zugfestigkeit rechnen. Auch lassen sich nicht alle Geometrien und Materialien uneingeschränkt realisieren.“
Keßling und Erhardt weisen auf ein weiteres Manko hin, das den Durchbruch der generativen Fertigung noch erschwert: Die Vorstellung der Anwender, einen – preisgünstigen oder schnelleren – Ersatz für traditionelle Verfahren wie etwa Spritzgießen oder Metallguss mit anschließendem Fräsen zur Hand zu haben. „Die generative Fertigung ist keine Substitution für die etablierten Prozesse“, stellt Schumacher klar. „Sie wird auch in Zukunft nur Nischen bedienen. Zum einen, wenn es um Einzelteile oder Kleinserien geht. Zum anderen bei Bauteilen mit komplexen Geometrien oder Strukturen, die sich konventionell gar nicht herstellen lassen. Doch hier fehlen noch Erfahrung und Vorstellungskraft.“ Im Grunde müssten die Lehrbücher neu geschrieben werden, damit angehende Ingenieure die Chancen und Grenzen der generativen Fertigung einschätzen lernen.
„So wie für ein Spritzteil beispielsweise die richtige Auslegung der Anspritzpunkte zu berücksichtigen ist, sollte man auch bei der additiven Fertigung auf verfahrensspezifische Besonderheiten achten. Ideal ist, wenn bei der Entwicklung bereits daran gedacht wird, wie sich das Bauteil später aus 3D-CAD-Daten möglichst stützstrukturlos von unten nach oben aufbauen lässt“, bestätigt Arburg-Experte Keßling. Außerdem bedürfe es neuer Simulationstools, so Schumacher. Aus vielen bestehenden CAD-Systemen können zwar die von 3D-Druckern geforderten STL-Dateien exportiert werden. Doch für die Modellierung dieser Dateien sind bislang die wenigsten vorbereitet.
Anwender wie Alphaform wünschen sich aber vor allem zwei Verbesserungen: „Die Maschinen müssen schneller, die Materialien kostengünstiger werden, wenn wir den 3D-Druck in der Serienfertigung anbieten wollen“, so Erhardt. Die Chancen stehen gut: Laut Roland Berger ist in den nächsten vier Jahren mit einer Vervierfachung der Geschwindigkeit von metallverarbeitenden 3D-Druckern zu rechnen – auf 40 cm3/Stunde. Maschinenhersteller Concept Laser will beispielsweise 1000- statt 400-Watt-Laser einsetzen. Oder aber mehrere Laserquellen nutzen.
Auch die Werkstoffpreise werden kontinuierlich sinken, nach Prognosen von Roland Berger um 50 % bis 2018. Dies ist laut Wohlers Associates im Wesentlichen auf zwei Faktoren zurückzuführen: Zum einen wird der Konkurrenzkampf mit dem Auslaufen vieler Patente größer. Zum anderen stehen 3D-Drucker in den Startlöchern, die Standard-Granulate verwenden. Diese kosten typischerweise zwischen 1,40 und 2,80 Euro, während man für spezifische Kunststoffpulver für 3D-Drucker zwischen 70 und 220 Euro auf den Tisch legen muss. Arburgs Freeformer wird mit der Markteinführung in diesem Jahr das erste Gerät dieser Art sein, das keine Spezialmaterialien braucht. Ein weiteres ist in den USA in der Entwicklung bei Cincinnati Inc. und dem Oak Ridge National Lab.
Sabine Koll Journalistin in Böblingen
180 verschiedene Parameter müssen an einem 3D-Drucker eingestellt werden
Weitere Informationen Zur Studie „Additive Manufacturing“ von Roland Berger: www.rolandberger.de Zu den Maschinenherstellern 3D Systems, Arburg, Concept Laser und EOS: www.3dsystems.com www.arburg.com www.concept-laser.de www.eos.info Zum 3D-Druck-Dienstleister Alphaform: www.alphaform.de Zur Fachhochschule Nordwestschweiz: www.fhnw.ch/hls Auf der Messe Medtec Europe werden im Juni Experten in Sachen 3D-Druck am Stand von medizin&technik zu Gast sein (s. Beitrag Seite 30).

Selber drucken oder drucken lassen?

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Selber drucken oder drucken lassen? Diese Frage stellen sich aktuell viele Unternehmen. Der 3D-Druck-Dienstleister Alphaform ist der Meinung:
  • Serienfertigung mit 3D-Druck lohnt auch künftig nur in speziellen Fällen – wird also bis auf Weiteres ein Exot unter den Produktionsmethoden bleiben.
  • Spezielle Designs sind oft die Basis dafür, dass sich 3D-Druck lohnt – der Dienstleister kann schon bei der Produktentwicklung einbezogen werden und ein 3D-gerechtes Design ermöglichen.
  • Hohe Maschinenkosten und lange Durchlaufzeiten sind die Regel, auch die Prozessstabilität ist oft noch ein Problem – der 3D-Druck-Dienstleister kann seine Maschinen besser auslasten, hat spezialisierte Ingenieure und Techniker sowie Ausweichmaschinen.
Dennoch werden künftig viele Unternehmen dazu tendieren, die generative Fertigung inhouse durchzuführen. Das Know-how dafür kann dann auch durch Firmenübernahmen erfolgen. So geschehen im Fall von GE Aviation: Der Aerospace-Spezialist hat Ende 2012 den Dienstleister Morris Technologies gekauft, um die Einspritzdüsen für seine neue Triebwerks-Generation selbst produzieren zu können.

Neue Perspektiven

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Generativ hergestellte Bauteile punkten mit einer Reihe von Vorteilen:
  • Komplexität: Gießen, Fräsen, Schmieden und so weiter haben teilweise hohe Beschränkungen in der Form der Werkstücke. Mit 3D-Druck können fast alle Formen hergestellt werden.
  • Individualität: 3D-Drucke werden direkt aus der Datei erstellt. Mit Daten, die zum Beispiel von Scannern, Kameras, CETs stammen. Oder aus dem CAD-System des Entwicklungsingenieurs.
  • Leichtbau: Da jede Form hergestellt werden kann, sind auch komplexe bionische Strukturen und Hohlräume möglich. Das bedeutet maximale Stabilität bei minimalem Gewicht.
  • Einfachheit: Was bisher aus vielen Einzelteilen zusammengesetzt wird, kann künftig in einem Stück gebaut werden. Das spart Maschinen, Arbeitsgänge und Kontrollen.

  • Online weiterlesen
    Mehr über die Qualitätssicherung beim 3D-Druck, künftige technische Entwicklungen sowie ein Interview mit Arburg-Experten Dr. Oliver Keßling finden Sie in unserem Online-Magazin unter www.medizin-und-technik.de/onlineweiterlesen. Verfügbar bis 18. August 2014 – also bis die nächste Ausgabe mit neuem Titelthema erscheint.

    Ihr Stichwort
    • 3D-Druck
    • Protoypen
    • Serienfertigung
    • Sinkende Materialpreise
    • Schnellere Drucker
    • Stabilere Produktionsprozesse
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