Haben Sie vergangene Nacht gut geschlafen und sind ausgeruht und voller Tatendrang am Arbeitsplatz erschienen? Dann herzlichen Glückwunsch, das können nicht alle von sich behaupten. Das schieben wir jetzt aber nicht auf Vollmond, Neumond oder Sonneneruptionen, sondern darauf, dass das Phänomen der „langen Nacht“ um sich greift.
Schauen wir uns an, was man als Durchschnittsschläfer möglicherweise alles verpasst. Die Veteranen des Genres haben diesem vor einiger Zeit zum Durchbruch verholfen: eine lange Nacht der Museen, der Kultur oder vielleicht der Wissenschaft ist ja auch eine nette Idee – allein die Dunkelheit und der Hauch des Außergewöhnlichen verleiten den einen oder anderen dazu, sich an Dinge zu wagen, für die er sich bei Lichte besehen eher weniger interessiert.
Weil das Konzept verlockt, hat es eine Reihe von Ablegern hervorgebracht. Man konnte mit dem Shuttle-Bus zu vorgerückter Stunde zur Miete oder zum Kauf angebotene Wohnungen anfahren und besichtigen. Bei der langen Nacht der Familie hatten Mami oder Papi Gelegenheit – befreit von den zeitlichen Zwängen des Arbeitslebens – mit den Kleinen ins Labor, Lesecafé oder Ziegengehege zu schauen (muss die Ziege dann eigentlich auch länger aufbleiben?).
Denke aber keiner, dass so eine lange Nacht allein der Spielerei und dem Freizeitvergnügen vorbehalten sei. Das Konzept ist so genial, dass es auch für bierernste Themen taugt: Die lange Nacht der Industrie zum Beispiel soll potenzielle zukünftige Mitarbeiter zu einem Blick hinter die Kulissen verführen und ist sogar mit dem Innovationspreis „Ausgewählter Ort 2012“ ausgezeichnet worden.
Mein Favorit ist aber brandaktuell und erst heute früh zu Ende gegangen: Die bundesweite lange Nacht der aufgeschobenen Hausarbeiten. Klingt das nicht klasse? Und wer jetzt an Geschirrspüler, Bügelbrett oder Wischlappen denkt, ist völlig auf dem Holzweg. Nein, jährlich am ersten Donnerstag des Monats März bekommen Studis, die ihre schriftlichen Ausführungen einfach nicht zu Ende formuliert kriegen, professionelle Hilfe. Bei so einem Event trifft der Bummelant in universitären Schreibzentren Gleichgesinnte, damit niemand allein leiden muss, anders Gesinnte, die schon wissen, wie man zum Ende kommt, und Vorturner, die den Geist mit ein bisschen Gymnastik aufmuntern. Und nachts rafft man sich doch selbst dazu auf!
Daher finde ich, man sollte dieses Phänomen beobachten und eine klinische Studie dazu anstoßen. Wenn eine Heilung der Aufschieberitis quasi über Nacht nachweisbar wäre, könnte das die zum Beispiel die Zahnmedizin revolutionieren. Oder würden Sie selbst dann auf den lang fälligen Besuch beim Zahnarzt verzichten, wenn Sie nach den Tagesthemen mit Gleichgesinnten im Shuttle-Bus zur Praxis gebracht und dort zur langen Nacht der lauten Bohrer mit einem Cocktail empfangen würden?
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