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Der Ingenieur und die Wespentaille

Technische Innovation und Mode-Leidenschaft
Der Ingenieur und die Wespentaille

Der Ingenieur und die Wespentaille
Mit Technik zur Wespentaille: Das Buch „figur in form“ von Dr. Josephine Barbe erscheint im Herbst im Haupt Verlag Bern Bild: TU Berlin
38 cm umfasst die Taille von Cathie Jung. Sie steht damit als „lebende Frau mit der schmalsten Taille“ im Guinness-Buch der Rekorde. Ihre Wespentaille erhält die Amerikanerin mit Hilfe eines Korsetts. Und obwohl inzwischen 75 Jahre alt, trägt Cathie Jung immer noch täglich und rund um die Uhr eines ihrer hundert Korsetts. Dies ist bei ihr mittlerweile notwendig, da sich ihr Brustkorb, ihre Rippen und auch ihre Wirbelsäule extrem verformt haben. Doch Cathie Jung ist stolz auf ihre Rekordtaille, auch wenn sie im Alltag die Schnürung auf entspannte 43 cm eingestellt haben soll.

Haben Sie jetzt auch das Bedürfnis, tief durchzuatmen? Tun Sie es. Cathie Jung würde Sie bestimmt dafür beneiden. Ebenso wie die Millionen von Frauen, die sich seit dem 16. Jahrhundert in versteifte Mieder und enge Korsetts gezwängt haben, um der jeweils geltenden Modelinie folgen zu können – und die zu jeder Zeit mit ihrer schmalen Taille die Phantasien der Männer beflügelt haben. Dem Interesse einer technischen Fachzeitschrift entsprechend, reden wir hier selbstverständlich vom Erfindergeist der Ingenieure!
„Die Geschichte des Korsetts ist eine Geschichte technischer Innovationen“, sagt auch Dr. Josephine Barbe, die an der TU Berlin zu diesem Thema promoviert hat. Um herauszufinden, wie diese Innovationen im Wechselspiel mit Mode funktionieren, betrachtete Barbe ein ganzes Jahrhundert Zeitgeschichte und untersuchte anhand der Konstruktion, des Materials und der Tragequalität des Korsetts und deren jeweiligen Veränderungen, wie Moden den Erfindergeist antrieben und umgekehrt, technische Errungenschaften den Kleidungsstil der Frau modellierten.
Die hand- oder maschinell gefertigten Schnürleiber waren Mitte des 19. Jahrhunderts nicht nur gängige Mode, sondern auch begehrte Luxusartikel. Formgebendes Element der europäischen Produkte über drei Jahrhunderte war leichtes, biegsames und nahezu unzerbrechliches Fischbein, das aus den Barten der Wale gewonnen wurde. Doch da es nur begrenzt zur Verfügung stand, konnte es die hohe Nachfrage nach Schnürmiedern und Korsetts ab 1860 nicht mehr abdecken. Wie Dr. Josephine Barbe beschreibt, war die Korsettproduzenten im Zuge der industriellen Herstellung schließlich gezwungen, intensiv nach neuen versteifenden Materialien zu suchen – und fand diese auch zunächst in den Kielen von Straußenfedern, im indischen Büffelhorn und in einer künstlichen Nachahmung des Fischbeins. Doch alle Versuche konnten sich nicht in der Massenproduktion durchsetzen. Und als dann noch die Damenwelt Röcke mit bis zu 8 m Umfang begehrte, waren Ingenieure gefordert.
Sie fanden schließlich die Lösung in kaltgewalzten, leichten und flexiblen Stahlfederbändern. Diese kamen zuerst als käfigartige, leichte Unterkonstruktion in Reifröcken zum Einsatz und bescherten den Trägerinnen eine beinahe beliebig modellierbare Gestaltung ohne funktionelle Einschränkungen. Die Begeisterung der Modewelt kannte keine Grenzen. Die Industrie boomte. In Frankreich produzierte unter anderem Peugeot laminierten, nicht rostenden Reifrock- und Korsettstahl und stellte allein 1852 monatlich rund 24 000 Reifröcke mit einem Gewicht von höchstens 300 g her, erzählt Barbe, die ihre Promotionsergebnisse in ihrem Buch „figur in form“ zusammengefasst hat. Auch das Hohenlimburger Werk Friedrich Boecker und die Stahlfirma C.C. Wälzholz stiegen in das Geschäft mit der Mode ein und stellten erfolgreich die begehrten elastischen und dünnen Stahlbänder her. Mitte 1860 wurde die gesamte Korsettproduktion auf feine, flexible Stahlfederbänder umgestellt. Trotz Warnungen vor körperlichen Deformationen, Schnürleber und Wandernieren erreichte die Korsettindustrie um 1880 eine Hochkonjunktur. Für ihre Leidenschaft für Schönheit und Mode nahmen die stilbewussten Frauen Ohnmachtsanfälle und Verdauungsstörungen in Kauf. „Vor allem für die Oberschicht war die schmale Taille ein Muss“, so Barbe, „und das Korsett ein Kunstgriff, um den Idealkörper zu erreichen.“ Wobei wir wieder bei Cathie Jung wären, die als Kunstfigur und Wespentaillen-Rekordhalterin in die Geschichte eingeht. Trotz aller gesundheitlicher Risiken. Den Ingenieuren sei Dank!
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