Startseite » Digitalisierung » Gesundheitswesen »

Blindes Vertrauen ist nicht angebracht

Big Data: Großes Potenzial sinnvoll nutzen, die Technik aber nicht überschätzen
Blindes Vertrauen ist nicht angebracht

Blindes Vertrauen ist nicht angebracht
Prof. Klaus Mainzer hat den Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Technischen Universität München (TUM) und beschäftigt sich unter anderem mit Big Data und dem Internet der Dinge
Zu wissen, woran Menschen in den kommenden Jahren erkranken, würde manche Entscheidung in der Medtech-Branche erleichtern. Big-Data-Analysen versprechen solche Hinweise. Doch der Münchner Professor Klaus Mainzer betont, dass nicht jeder Algorithmus die richtige Anwort bietet.

Herr Professor Mainzer, wie definieren Sie Big Data?

Der Begriff Big Data an sich zielt auf die großen Datenmengen ab, die inzwischen verarbeitet werden können, und er wird heute ab einem Volumen von 15 Terabyte benutzt. Doch das Volumen allein sagt noch zu wenig, denn es geht um mehr: Um diese Massen zu verarbeiten, verwenden wir spezielle Datenbankstrukturen und können so auch unstrukturierte Daten nutzen. Und es kommunizieren in diesem Umfeld eben nicht nur Menschen miteinander, sondern auch Geräte, in denen Sensoren jede Menge Daten erfassen.
Was ist daran wirklich neu?
Neu ist die unvorstellbare Masse an verarbeiteten Daten, aus denen wir Rückschlüsse bekommen. Ich bin aber sicher, dass wir schon in ein paar Jahren über die Datenmengen lächeln, die wir heute als Big Data definieren, weil wir immer bessere, kleinere und schnellere Rechner an die Hand bekommen. Und neu sind auch die erwähnten Datenbankstrukturen und Algorithmen. Allerdings basiert manches, was im Hintergrund passiert, auf Mathematik aus dem 18. Jahrhundert oder lange etablierten statistischen Methoden.
Welche grundlegend anderen Erkenntnisse lassen sich durch Big Data gewinnen?
Um das zu beantworten, lohnt es sich, kurz die Algorithmen zu betrachten, mit denen wir es zu tun haben. Diese tun im Wesentlichen zweierlei. Sie unterteilen die Masse von Daten in kleine Pakete, und sie vergleichen diese Pakete miteinander. Das wird unter den Schlagworten „map“ und „reduce“ zusammengefasst. Anhand dieses Abgleichs lassen sich Muster, Trends oder auch Profile erkennen, die einem Menschen in der großen Masse nicht aufgefallen wären. Den Rahmen für den Abgleich gibt dabei der Programmierer vor. Anhand der gefundenen Korrelationen schlägt dann der Algorithmus quasi eine Hypothese vor, die der Mensch überprüfen kann – und auch muss, gerade im medizinischen Bereich. Denn ob zum Beispiel ein laut Statistik Erfolg versprechendes Medikament wirklich eine gute und erwünschte Wirkung erzielt, lässt sich erst dann beurteilen, wenn man verstanden hat, was in den Zellen passiert und warum. Die mathematische Korrelation allein reicht für die Bewertung also nicht aus.
Inwieweit müssen eventuell wissenschaftliche Fragen anders formuliert werden?
Wir müssen für Big Data nicht unbedingt die Fragen anders stellen, aber wir müssen beim Bewerten der Ergebnisse unsere eigene Urteilsfähigkeit schärfen. In früheren Jahren war klar, dass Menschen wissenschaftlich erhobene Daten auswerten, dass ihnen dabei Fehler passieren können oder sie auch Dinge übersehen. Das ist trotz aller Vorteile der Datenanalysen im Zeitalter von Big Data nicht anders. Je nachdem, wie der Algorithmus programmiert ist, entdeckt er nur bestimmte Zusammenhänge, während andere durchs Raster fallen. Daher dürfen wir uns nicht blind auf die Maschinen verlassen – wozu Menschen an vielen Stellen neigen. Natürlich bringt Big Data für die Wirtschaft zum Teil erstaunliche Erfolge, und manchmal weiß Google anhand von Datenanalysen schon vor uns, was wir morgen kaufen. Dennoch sollte man sich nicht verführen lassen, einem Algorithmus alles zu glauben.
Was bringen dem Wissenschaftler – oder der Wirtschaft – Korrelationen, die über Big-Data-Analysen gefunden werden?
Für die Medizin bietet sich vor allem die Möglichkeit, personalisierte Therapien zu entwickeln, und für den niedergelassenen Arzt die Gelegenheit, trotz einer riesigen Anzahl von Fachpublikationen den Überblick zu behalten. Das alles setzt natürlich voraus, dass die Analysen an validen Daten ausgeführt werden. Für die vielen kleinen und hochspezialisierten Unternehmen, die gerade die Medizintechnik-Branche prägen, sind natürlich Gesundheitsdaten relevant, wie sie zum Beispiel in Deutschland im Rahmen der Kohortenstudien erhoben werden. Es ist unglaublich nützlich zu wissen, welche Krankheiten sich in den kommenden Jahren entwickeln werden und was dann für die Behandlung gebraucht wird – und je nachdem, welche Frage man an die Datenbank stellt, liefern die gleichen Daten unterschiedliche Antworten, können also mehrfach genutzt werden. Das ist ein wahrer Schatz.
Wieviel Aufwand und Kosten bringt eine Big-Data-Analyse mit sich?
Für ein kleines Unternehmen gibt es mehrere Möglichkeiten, Big Data zu nutzen. Sie können einen Dienstleister mit Analysen beauftragen oder sich selbst einen Big Data Scientist ins Unternehmen holen – dieses neue Berufsbild ist gerade im Entstehen. Oder sie entwickeln aus der zunächst für den eigenen Gebrauch aufgebauten Kompetenz sogar neue Geschäftsmodelle. Aber egal, welches Modell man wählt: Blindes Vertrauen in die Daten ist nie gut, es muss ein gewisses Maß an Fachwissen im Unternehmen vorhanden sein. Denn wie bei allen Anläufen in Richtung Industrie 4.0 gilt auch bei Big Data, dass es keine vorgefertigten Lösungen oder Algorithmen gibt, die ‚für alle‘ passen. Vielmehr ist ein individueller Zuschnitt erforderlich.
Wie gut ist Europa hier aufgestellt?
Auf der Weltbühne wird von Konzernen wie Google geredet, und in dieser Kategorie ist die Besetzung hier eher dünn. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es gerade in Deutschland sehr viele spezialisierte kleine Unternehmen gibt, mit deren IT-Know-how der Mittelstand sehr gut läuft. Die Randbedingungen für diese Spezialisten könnten, was Risikokapital und Steuern betrifft, allerdings besser sein, um für den internationalen Wettbewerb gerüstet zu sein.
Wie schätzen Sie die zukünftige Bedeutung von Big Data für Gesellschaft und Wirtschaft ein?
Wir werden ohne die Analyse großer Datenmengen nicht vorankommen. Ich habe keinen Zweifel daran, dass die technische Entwicklung bei Rechnerkapazität, Geschwindigkeit und Kosten uns alle Möglichkeiten bieten wird, immer größere Datensätze zu untersuchen. Parallel dazu müssen wir aber auch die Qualität der zur Verfügung gestellten Daten verbessern und hier eine Art Qualitätsmanagement einführen, um das Material valider, sicherer und strukturierter zu machen. Und wir müssen den Nutzern vor Augen führen, was selbst Smartphones schon können und wie man diese Möglichkeiten zum Guten nutzt.
Dr. Birgit Oppermann birgit.oppermann@konradin.de
Buch zum Thema: „Die Berechnung der Welt. Von der Weltformel zu Big Data“, Klaus Mainzer, C.H. Beck, München 2014

Ihr Stichwort
  • Neue Erkenntnisse aus Big Data
  • Zugangswege für kleine und mittlere Unternehmen
  • Aufbau eigener Kompetenzen
  • Urteilsfähigkeit bewahren
  • Datenqualität verbessern
Unsere Webinar-Empfehlung
Aktuelle Ausgabe
Titelbild medizin technik 1
Ausgabe
1.2024
LESEN
ABO
Newsletter

Jetzt unseren Newsletter abonnieren

Titelthema: PFAS

Medizintechnik ohne PFAS: Suche nach sinnvollem Ersatz

Alle Webinare & Webcasts

Webinare aller unserer Industrieseiten

Aktuelles Webinar

Multiphysik-Simulation

Medizintechnik: Multiphysik-Simulation

Whitepaper

Whitepaper aller unserer Industrieseiten


Industrie.de Infoservice
Vielen Dank für Ihre Bestellung!
Sie erhalten in Kürze eine Bestätigung per E-Mail.
Von Ihnen ausgesucht:
Weitere Informationen gewünscht?
Einfach neue Dokumente auswählen
und zuletzt Adresse eingeben.
Wie funktioniert der Industrie.de Infoservice?
Zur Hilfeseite »
Ihre Adresse:














Die Konradin Verlag Robert Kohlhammer GmbH erhebt, verarbeitet und nutzt die Daten, die der Nutzer bei der Registrierung zum Industrie.de Infoservice freiwillig zur Verfügung stellt, zum Zwecke der Erfüllung dieses Nutzungsverhältnisses. Der Nutzer erhält damit Zugang zu den Dokumenten des Industrie.de Infoservice.
AGB
datenschutz-online@konradin.de