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Alles klar, Herr Kommissar

Virtuelle Autopsie: Industrieroboter bringt Licht in schwierige Kriminalfälle
Alles klar, Herr Kommissar

Der Stellenmarkt für Industrieroboter wächst. Bei geeigneter Qualifikation bestehen gute Aussichten auf eine Beschäftigung als Assistent in der Gerichtsmedizin – wie bereits in der Schweiz erprobt.

Dürfen Roboter Berufswünsche haben? Falls es eines Tages soweit ist: Ein Knickarmroboter aus der Automobilindustrie ebnet heute schon den Weg in ein bis dato ungewöhnliches Einsatzgebiet. Er ist der erste und einzige auf der Welt, der von sich behaupten kann, in der Forensik als Helfer bei Autopsien mitzuwirken. Sein Name ist Virtobot, und sein Arbeitsplatz ist am Rechtsmedizinischen Institut der Universität Bern.

Was er dort tut, hätte vor ein paar Jahren noch den Stoff für einen Science-fiction- Roman abgegeben. Er sammelt mit Hilfe moderner Medizintechnik vollautomatisch Informationen über eine zu untersuchende Leiche und liefert den Gerichtsmedizinern ein sehr präzises, dreidimensionales Bild des Verstorbenen, von außen wie auch von innen.
Begonnen hat seine Geschichte vor 14 Jahren. Damals stellte es sich für einen speziellen Fall heraus, dass ein präziseres, dreidimensionales Bild einer Wunde für die Ermittlungen wünschenswert gewesen wäre. Das brachte die Wissenschaftler auf die Idee, einen Computertomographen auch für gerichtsmedizinische Zwecke nutzbar zu machen.
Die Entwicklungen, die in der Zwischenzeit bis zum Virtobot geführt haben, faszinieren den Institutsleiter Prof. Dr. med. Michael Thali noch heute, und das ist im Gespräch auch zu spüren. „Es haben sehr viele Ingenieure an unserem Projekt mitgearbeitet, aus ganz verschiedenen Branchen“, berichtet er. Für sie und auch für den Rechtsmediziner selbst sei es eine sehr spannende Sache gewesen, immer wieder eine weitere Technik für den neuen Zweck nutzbar zu machen, „auch wenn wir anfangs belächelt wurden“. Schließlich zeige das heutige Interesse an den Aktivitäten in Bern, dass man den richtigen Weg eingeschlagen habe.
Das Ergebnis, der Virtobot, ist von Haus aus ein Industrieroboter. Für seine Auswahl gab es eine Reihe von Kriterien. Er sollte groß genug sein, um jede Stelle an einem menschlichen Körper erreichen zu können – und wegen dieser Anforderung schieden die meisten für die Chirurgie entwickelten Roboter schon aus, da sie eher klein und für den Einsatz in einer speziellen Körperregion konzipiert waren. Andererseits sollte der Virtobot-Bewerber klein genug sein, um eine Biopsie sehr genau auszuführen. Den einige Kilo schweren Oberflächenscanner musste er aber auch halten können. „So fiel unsere Wahl schließlich auf einen mittelgroßen Industrieroboter, an dem wir vor allem die Software für die Steuerung überarbeitet haben“, erinnert sich Thali. Auch das Konzept, den Roboter auf einer Schiene an der Decke anzubringen, ist den speziellen Belangen der Forensik geschuldet.
Die Automatisierung hat im gerichtsmedizinischen Umfeld beinahe die gleichen Ziele wie in der Industrie. Höhere Effizienz und Zeitersparnis sind auch hier wichtige Faktoren. Allein die Oberfläche einer Leiche zu erfassen und zu dokumentieren, berichtet Thali, kostete die Mitarbeiter bisher einen halben bis einen ganzen Tag, währenddessen sie nichts anderes tun konnten, als eine Kamera auf dem Stativ richtig zu positionieren. „Heute“, sagt Thali, „brauchen wir für einen Fall nur eineinhalb Stunden, und während der Oberflächenuntersuchung können die Mitarbeiter sogar noch andere Dinge tun.“ So ließen sich pro Tag mehrere Fälle bearbeiten.
Der Scanner, der den Bernern die Arbeit erleichtert, hat seine Ursprünge ebenfalls in der Automobilindustrie. Sein Hersteller, die GOM International AG aus dem schweizerischen Widen, hat sich als Partner im Projekt Virtobot engagiert. Die ursprüngliche Version des Scanners machte mit Hilfe von auf die Oberfläche projizierten Lichtstreifen Schwarzweißaufnahmen von Kühlergittern. So konnte deren Passgenauigkeit untersucht oder Verformungen nach längerer Fahrt bei hohen Geschwindigkeiten gemessen werden. Die weiterentwickelte Variante kann nun nicht nur die Struktur, sondern auch die Farbe der Haut eines Verstorbenen erfassen.
Die Konturen des Körpers, die sich dabei abzeichnen, werden mit Hilfe einer digitalen Stereo-Kamera in hoher Auflösung erfasst. „Dann gleichen wir diese Oberflächenbilder mit den dreidimensionalen CT-Daten des ganzen Körpers ab“, erklärt Lars Ebert, der für die Programmierung des Roboters zuständig ist. Die Gerichtsmediziner erhalten so ein hochpräzises, dreidimensionales Bild vom Körper des Verstorbenen.
Thali vergleicht das Vorgehen mit einer „Untersuchungsstraße“, die ein Verstorbener in der Gerichtsmedizin durchläuft. Mit dem Scanner, aber auch mit den bildgebenden Verfahren sind am Ende äußerliche und innerliche Details des Körpers am Bildschirm aus allen Blickrichtungen sichtbar. Neben dem CT wird auch ein Hochauflösender Magnetresonanzscanner (MRI) für die gerichtliche Spurensicherung genutzt. Das gesamte Verfahren nennen die Wissenschaftler virtuelle Autopsie oder kurz Virtopsy.
„Es hat sich gezeigt, dass wir damit die meisten forensisch relevanten Informationen sehr schnell bekommen und es sehr einfach ist, anhand der Daten die Befunde eines Kollegen nachzuvollziehen, sie zu bestätigen oder auch erneut zu diskutieren“, erläutert Thali. In digitaler Form treten diese Informationen dann in die Ewigkeit ein. Ihre Konservierung im Datenspeicher ermöglicht es, auch nach Jahren noch Todesursachen zu ergründen.
Darüber hinaus erlaubt es die Kombination von medizinischer Bildgebung, chirurgischer Navigation und Robotik auch, an einem Verstorbenen eine Angiographie oder eine Biopsie auszuführen. Für die Darstellung der Gefäße wird eine modifizierte Herz-Lungen-Maschine genutzt, die ein Kontrastmittel in das Gefäßsystem einbringt. Die Nadel für die Biopsie platziert wiederum der Virtobot, allerdings nach den Vorgaben eines Rechtsmediziners.
Vor Gericht sind die digitalen Ermittlungsdaten mittlerweile als Beweis zugelassen, allerdings nur, wenn sie durch eine herkömmliche Autopsie validiert sind. Doch aufgrund der Präzision und Effizienz der virtuellen Autopsie ist Michael Thali überzeugt, „dass die Zukunft der Gerichtsmedizin dem Virtobot gehört“. op
Konservierte Daten ermöglichen Ermittlungen noch nach Jahren

Roboter für die Medizin
In der Schweiz nutzt der Nationale Forschungsschwerpunkt „CO-ME – Computergestützte und bildgeführte medizinische Eingriffe“ die Informationstechnologien, um medizinische Eingriffe zu verbessern. Die Forscher konzentrieren sich auf die Entwicklung, Integration und Validierung von Technologien für computergestützte, bildgeführte Systeme. Die Entwicklung des Virtobot- Systems ist in diesem Forschungsumfeld angesiedelt. http://co-me.ch

Aus Expertensicht
Herr Professor Thali, wo sind die Grenzen des Wissens, das Virtobot liefern kann?
Die Schwachstellen eines automatisierten Systems, wie wir es hier nutzen, sind sicherlich die Toxikologie und die Mikroskopie. Der Roboter kann zwar die Proben dafür punktgenau entnehmen, aber untersuchen kann er sie natürlich nicht. Und die Diagnose zu erstellen oder ein Gutachten abzugeben, bleibt trotz eines automatisch arbeitenden Helfers die Aufgabe eines erfahrenen Rechtsmediziners.
Worin unterscheidet sich Virtobot von Medizin-Robotern, die beispielsweise in der Chirurgie eingesetzt werden?
Chirurgie-Roboter, wie sie bisher entwickelt wurden, waren höchst spezialisiert auf einzelne Körperregionen wie den Rücken, die Brust, die Hüfte oder ein Kniegelenk. Virtobot muss hingegen ein Generalist sein und sehr unterschiedliche Aufgaben am ganzen Körper übernehmen.
Ist der Virtobot ein Medizinprodukt?
Wir haben die Tests für die Zulassung nicht gemacht, und der Virtobot würde sie wohl auch nicht bestehen. Das größte Problem sehe ich darin, dass wir einen Industrieroboter nutzen, der in der Produktion durch Zäune oder Lichtschranken von Menschen abge- trennt arbeiten müsste. Für einen Einsatz im Operationssaal fehlen ihm die Sicherheitsvorkehrungen.
Welcher Teil der Entwicklungsarbeit hat Sie besonders beeindruckt?
Mich fasziniert es, dass wir Technik aus einem völlig fremden Bereich wie der Automobilindustrie für unsere forensischen Zwecke nutzen können. Damit das möglich wurde, haben Ingenieure über viele Jahre zusammengearbeitet und die Technik weiterentwickelt. Von daher hat mich der Weg bis zum Virtobot viel mehr beeindruckt als das fertige System heute.
Wieviele Virtobots gibt es derzeit?
Der Virtobot ist in dieser Form weltweit einzigartig. Es gibt eine Reihe von Instituten, die mittlerweile auch CT für die Untersuchung Verstorbener verwenden. Aber niemand außer uns verfolgt den Ansatz, eine Art Untersuchungsstraße mit vielen verschiedenen Schritten und technischen Modalitäten aufzubauen.
Ist die Virtopsie ein eigener Markt?
Im Augenblick nicht. Aber ich gehe davon aus, dass Virtopsie-Systeme in den nächsten fünf Jahren an einer Reihe von Instituten aufgebaut werden.

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