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Den Faden wiedergefunden

Biotechnische Spinnenseide: Potenzieller Ersatz für Fasern aus Kunststoff
Den Faden wiedergefunden

Auch ohne die Zucht von Spinnen lässt sich deren begehrte Seide heute herstellen. Forscher aus Bayreuth und München haben die Grundlage dafür geschaffen. Sie sehen sogar Ansatzpunkte, die natürlichen Materialeigenschaften zu übertreffen.

Massenhaft gezüchtete Spinnen – ein Wunschtraum für jemanden, der gerne Spinnenseide produzieren würde. Aber die Wirklichkeit sieht anders aus: Kein Halter kam so recht mit der Aufzucht der Tiere in großer Zahl voran, weil sich die kannibalisch veranlagten Achtbeiner gegenseitig verspeisen. Und das bisschen Spinnenseide, das man ihnen in Gefangenschaft entlocken konnte, ist „von niedriger Qualität“, wie Prof. Thomas Scheibel von der Universität Bayreuth es beschreibt.

Scheibel muss es wissen, denn er hat sich mit diesem Thema seit Jahren befasst. An der Möglichkeit, Spinnenseide auch biotechnisch herzustellen, ist der Biochemiker maßgeblich beteiligt: Er und seine Mitarbeiter nutzen die genetischen Informationen, die die Basis der Spinnenseide sind, und können die entsprechenden komplexen Eiweiße als Rohstoffe in großen Mengen im Labor erzeugen – der Gentechnik und den gentechnisch veränderten Bakterien sei Dank. Gemeinsam mit Biophysikern der TU München ist es gelungen, aus diesem Rohmaterial etwas entstehen zu lassen, das den natürlichen Spinnenfäden sehr ähnlich ist.
Diese Fäden bestehen jeweils aus einer spezifischen Mischung unterschiedlicher Proteinbausteine, die in einem Kanal zusammengeführt werden. Bisher konnte man den Spinnprozess nur schwer untersuchen, da die mikroskopisch kleinen Vorgänge nicht direkt in den Drüsen der Spinne beobachtbar sind. Der Mangel an Rohmaterial in ausreichender Menge war bis zur Nutzung der Gentechnik ebenfalls ein Problem.
Den natürlichen Herstellungsprozess im Labor nachzubauen, hat der Biophysiker Sebastian Rammensee von der Technischen Universität München (TUM) übernommen. Der Doktorand aus der Arbeitsgruppe von Professor Andreas Bausch hat aus den in seinem Labor-Spinnkanal erzielten Ergebnissen die chemischen und physikalischen Bedingungen bestimmt, unter denen ein stabiler Seidenfaden entsteht.
Das Herzstück seiner Anlage ist eine dünne Plexiglas-Platte mit winzigen Kanälen, jeder etwa 100 µm breit, kaum dicker als ein menschliches Haar. Durch die Kanäle fließen Lösungen mit den Protein-Bausteinen der Spinnenseide und den für den Herstellungsprozess zusätzlich erforderlichen Chemikalien. Dank dieser Lösung aus der Mikrofluidik lassen sich Strömungs-Experimente mit sehr geringen Flüssigkeitsmengen auf kleinstem Raum durchführen.
Um den entscheidenden Einflussfaktoren wie pH-Wert, der richtigen Phosphatkonzentration und der Strömung an der Austrittsstelle des Fadens auf die Spur zu kommen, waren eine Reihe von Experimenten mit vielen Varianten der Mischung von Seiden-Proteinen und des Strömungsverlaufs erforderlich. Dabei untersuchten die Forscher zwei Arten von Seiden-Proteinen, die auch bei natürlichen Fäden der Gartenkreuzspinne in einer Mischung auftreten.
Die wichtigste Erkenntnis: Ein stabiler Faden entsteht nur, wenn die Proteinlösung genau dann destabilisiert wird, wenn ein so genannter Elongationsfluss herrscht, also durch eine Verengung im Kanal der Fluss beschleunigt wird. Diese Veränderung sorgt dafür, dass die bis dahin kugelförmigen Spinnenseidenaggregate miteinander wechselwirken und zu einem Faden gezogen werden. Bemerkenswert ist, dass beide Proteine benötigt werden, um einen Faden entstehen zu lassen. „Wir haben hier versucht, die Natur so gut wie möglich nachzubauen und zu verstehen“, sagt Bausch. „Damit sind wir auf dem Weg zu künstlich hergestellten Biomaterialien einen entscheidenden Schritt weiter gekommen.“
Auch wenn nicht sofort Fäden aus dem Labor-Kanal herauskamen, sind alle Ergebnisse für den zukünftigen Einsatz von Produkten aus Spinnenseide interessant. „Als wir die richtige Phosphatkonzentration kannten, bei der aus der Lösung heraus die Seide entsteht, bekamen wir zwar zunächst nur Kügelchen“, sagt Scheibel. Aber die könne man sehr gut nutzen, zum Beispiel für Systeme, die in den menschlichen Körper eingebracht werden sollen, um an vorgebebener Stelle ein Medikament freizusetzen. Längliche Strukturen sahen die Forscher erst, als sie die Prozesstechnik verfeinerten. „Jetzt sind wir so weit, dass wir das Ganze in größerem Maßstab betreiben wollen“, sagt Scheibel. Immerhin: Zu 95 % seien die Eigenschaften der synthetischen Spinnenseide schon mit denen der natürlich erzeugten vergleichbar.
Der Bayreuther will aber noch weiter gehen, als sich der 100-%-Marke zu nähern. „Wir können mit dieser Technik doch im Grunde alles machen, was mit klassischen Polymeren geht – also nicht nur Fäden oder Kugeln herstellen, sondern auch Schaum, Filme, Hydrogel oder Filzstrukturen.“
Beschichtungen für die Medizintechnik seien ebenso denkbar wie Membranen für die Textilindustrie. „Wenn man will, kann man die Eigenschaften solcher Membranen auch durch Änderungen in der Protein- Struktur beeinflussen“, erläutert der Biochemiker. Sein Ansatzpunkt dafür sind die genetischen Informationen, die er in Bakterien einbringt, die ihm als Produktionshelfer bei der Herstellung der Spinnenseidenproteine zur Hand gehen.
Der Fantasie sind dabei wohl kaum Grenzen gesetzt, und die Gründung eines Spin-Off-Unternehmens ist im Gang. Mit einem Preis von rund 3000 Euro pro kg sei die synthetische Spinnenseide heute allerdings noch kein Massenprodukt, sondern immer noch eine Spezialität. „Wenn wir mit der Produktion in größerem Maßstab beginnen, werden wir die Preise recht bald auf 100 bis 200 Euro pro Kilo senken können – und in einigen Jahren sind wir sicherlich wettbewerbsfähig“, meint Scheibel. Manche Wissenschaftler träumen auch schon von einem Ersatz der heute verwendeten Kunststoff-Fasern durch Spinnenseide, um vom immer teurer werdenden Öl unabhängig zu werden.
Dr. Birgit Oppermann birgit.oppermann@konradin.de

Seide – keine Allergie, keine Entzündung
Spinnenseide ist ein fantastisches Material, schwärmt Prof. Thomas Scheibel. Es sei in einer bestimmten Form extrem elastisch und dennoch reißfest. Obwohl die Spinnenseidenfasern nur 3 bis 5 µm dick sind, können manche als Netz eine Last von 5 bis 6 kg halten, ohne zu reißen – weshalb mancher Fischer in Polynesien ein Netz aus diesem Material durchs Wasser zieht und damit Fische fängt.
Mit ihren verschiedenen Drüsen kann die Spinne mehrere Typen Seide herstellen: Eine besonders feste für den Rahmen ihres Netzes, eine besonders elastische für die Maschen, in denen sich fliegende Insekten bei maximaler Geschwindigkeit verfangen, ohne dass die Maschen reißen, eine Sorte für das Einwickeln der Beute und so weiter. Allen gemeinsam ist, dass die Eiweiß-Ketten der Seide zunächst in einem Hohlraum im Körper ungeordnet und gelöst vorliegen. Erst beim Spinnvorgang mit einem bestimmten pH-Wert, einer vorgegebenen Salzkonzentration und unter dem Einfluss der Strömung, die durch das Ziehen der Spinne am Faden verursacht wird, entsteht daraus der Faden. Seine Stabilität verdankt er einer Vielzahl schwacher Bindungen zwischen den Proteinmolekülen.
Aus medizinischer Sicht ist das Material laut Scheibel interessant, weil es keine Allergien und Entzündungen verursacht. Griechen und Römer hätten es schon als Wundauflage genutzt, und moderne Mediziner hoffen heute auf neues Nahtmaterial oder eine Wachstumshilfe für durchtrennte Nervenfasern.
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