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„Kapazitive Messung bietet Chancen für innovative Köpfe“

Neurophysiologie: Gedankensteuerung hilft Patienten, hat aber beim Militär nichts verloren
„Kapazitive Messung bietet Chancen für innovative Köpfe“

„Kapazitive Messung bietet Chancen für innovative Köpfe“
Prof. Gabriel Curio forscht an der Klinik für Neurologie der Berliner Charité (Bild: DGKN)
Mit Hilfe EEG-ähnlicher Messungen können gelähmte Patienten kommunizieren oder Arbeitsplätze verbessert werden. An neuen Lösungen arbeitet Prof. Gabriel Curio. Er warnt jedoch vor militärischen Anwendungen dieser Technik.

Herr Professor Curio, wem nützt die Forschung an Schnittstellen zwischen Gehirn und Technik?

Es gibt eine Reihe von Patienten, deren Beweglichkeit stark eingeschränkt oder sogar völlig ausgeschaltet ist. So eine Situation kann durch eine Querschnittslähmung im oberen Bereich der Wirbelsäule hervorgerufen werden oder durch einen Schlaganfall im Hirnstamm. Auch die Amyotrophe Lateralsklerose, kurz ALS, eine degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems, führt zu weitreichenden Lähmungen. Das Großhirn arbeitet jedoch normal, und die Betroffenen wollen mit ihrer Umgebung kommunizieren. Seit den 90er Jahren ist das über Brain Computer Interfaces, kurz BCI, möglich, wobei die Technik sich stark weiterentwickelt hat und auch verschiedene Richtungen verfolgt.
Was können Patienten mit BCIs erreichen?
Jede Willensbildung geht mit elektrischen Spannungsschwankungen in der oberflächlichen Hirnrinde einher. Das können wir mit verschiedenen Verfahren messen. In der einfachsten Form ergibt sich daraus die Möglichkeit, Buchstaben auszuwählen, so dass der Patient Mitteilungen verfassen kann. Zukünftig wäre sogar eine Rollstuhlsteuerung denkbar.
Woran genau forschen Sie?
In den Anfangsphase der BCIs musste der Patient lernen, mit welchen Gedanken er in einem Gerät den gewünschten Effekt hervorrufen kann. Das kann Trainingsphasen von mehreren Wochen erfordern. Wir haben diesen Ansatz umgekehrt und in Zusammenarbeit zwischen der Charité und der TU Berlin ein System entwickelt, bei dem der Computer lernt, was der Patient mitteilen will. Unser Prinzip ‚let the machines learn‘ führt schneller zu Ergebnissen. Da dauert es mitunter nur 20 Minuten, bis die Kommunikation funktioniert.
Wie erreichen Sie das?
Wir haben einen Trainingsdatensatz zusammengestellt. Der Patient wird mehrfach aufgefordert, daran zu denken, dass er zum Beispiel die linke Hand bewegen will, dann die rechte. Die Potenzialverteilung auf der Hirnrinde, die sich bei diesem Patienten ergibt, lernt ein Klassifikationsalgorithmus zu unterscheiden und aus späteren Signalen herauszufiltern. Das lässt sich dann als Steuersignal verwenden.
Warum muss der Computer etwas lernen?
Jedes Gehirn ist anders. Man kann sagen, dass wir uns im gleichen Maße äußerlich unterscheiden, wie wir das auch im Hinblick auf Lage und Aktivität der Hirnwindungen tun. Grobe Parallelen gibt es, wie die Zuständigkeit der linken Hirnhälfte für die rechte Körperseite oder die relative Anordnung der Zentren, die für die Bewegungssteuerung zuständig sind. Deren genaue Verortung jedoch ist individuell. Und die Forschung hat gezeigt, dass wir auch Veränderungen der Signale im längeren Verlauf einer Krankheit erwarten müssen.
Wie messen Sie die relevanten Signale?
Klassisch und nicht-invasiv, also mit EEG-Hauben, wie sie auch sonst in der Medizin eingesetzt werden. Der Hauptgrund dafür war, dass wir den Patienten ein risikoloses Verfahren anbieten möchten. Eine invasive Messung mit Elektroden auf der Hirnoberfläche würde eine Operation erfordern, deren Risiken nicht jeder in Kauf nehmen möchte. Wenn Untersuchungen an gesunden Personen erforderlich sind, kämen Operation ohnehin nicht in Frage.
Für welchen Einsatz wäre das der Fall?
Zum Beispiel für die industrielle Neuro-Ergonomie. Beim Autofahren, im Cockpit eines Flugzeuges oder am Leitstand großer Industrieanlagen müssen Menschen über Stunden eintönige Arbeit verrichten, im Einzelfall aber blitzschnell reagieren. In Zukunft könnten wir den Konzentrationszustand messen, Arbeitsplätze anders gestalten – oder bei einer Konzentrationsabnahme eine Warnung auslösen.
Welche technischen Weiterentwicklungen für BCI wünschen Sie sich?
Was Physiologie und Software angeht, sind wir auf einem guten Stand. Aktuell wünschenswert sind Verbesserungen bei den Elektroden. Wir nutzen bisher so genannte nasse Elektroden, die ein Elektrolytgel brauchen, um einen elektrisch leitfähigen Kontakt zur Kopfhaut herzustellen. Das funktioniert, nur muss man sich nach jeder Messung die Haare waschen. Das ist für den Einsatz bei Patienten nicht praktikabel, es würde Angehörige und Pflegepersonal überfordern. Bei trockenen Elektroden wiederum wird der Kontakt zur Kopfhaut durch konstanten Druck gesichert – was auf Dauer unangenehm werden kann. Sehr interessant ist daher die kapazitiv-koppelnde Technik, die aber für das EEG noch kein ausreichend gutes Signal-Rauschverhältnis liefert.
Wie funktioniert diese Art der Messung?
Hierfür wurden in Zusammenarbeit mit der TU Braunschweig Sensoren mit einer Art Metallplättchen entwickelt, die dem Kopf anliegen und quasi als eine Seite eines Kondensators fungieren. Die andere Seite des Kondensators ist der Kopf selbst. Diese Art der Messung hat sich für Untersuchungen am Herzen als viel versprechend erwiesen – ein EKG durch die Kleidung hindurch ist bereits machbar. Allerdings sendet der Herzmuskel deutlich stärkere Signale als die Zellen im Gehirn, die noch dazu durch die Schädeldecke abgeschirmt sind. Daher stoßen bislang alle Forschergruppen, die sich mit kapazitiven Messungen am Gehirn befassen, an Grenzen. Wir müssen lernen, das starke Rauschen elektrotechnisch besser zu verstehen, bevor wir weiterkommen.
Ihnen ist an einer Diskussion über ethische Aspekte der BCI gelegen. Warum?
Mit der beschriebenen Technik können wir Patienten helfen. Durch Weiterentwicklungen könnten auch schnelle Steuersignale entschlüsselt werden – was zum Beispiel für eine Rollstuhlsteuerung nutzbar wäre. In Deutschland werden solche Arbeiten vom Bundesforschungsministerium gefördert. Es gibt aber auch Länder, in denen sich das Verteidigungsministerium an der Förderung beteiligt. Das halten wir für bedenklich und werden an solchen Projekten nicht mitarbeiten.
Welche Gefahren sehen Sie darin?
Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die Fehlertoleranz der Systeme nicht sehr hoch ist. Für einen Patienten, der eine Mitteilung schreibt, ist das kein Problem. Er hat Zeit, Fehler zu korrigieren. Beim militärischen Einsatz geht es mitunter um rasche Entscheidungen, die den Tod zahlreicher Menschen mit sich bringen. Wir sind überzeugt, dass eine Technik, die die Anbahnung einer Willensbildung im Gehirn in Aktionen umsetzt, bevor der Nutzer sich dazu letztverantwortlich entschlossen hat, in diesem Bereich nicht eingesetzt werden darf.
Was wünschen Sie für die Zukunft von BCI?
Wir möchten die Technik im Dienste der Patienten verbessern. In der Gesellschaft müssen parallel dazu ethische Grenzen festgelegt werden, innerhalb derer sie genutzt werden soll. Und was die kapazitive Messung angeht, wären gute Ideen willkommen. Da gibt es Chancen für innovative Köpfe – zumal neue Messverfahren auch für klassische EEGs interessant wären.
Dr. Birgit Oppermann
Weitere Informationen
Über die Arbeiten am Berliner BCI: www.bbci.de
Zum Prinzip des kapazitiv messenden, kontaktlosen EKG-Geräts : www.emg.tu-bs.de/forsch/eeg_ekg/ekg/cekg_de.htm
Vom Lebensgefühl der Patienten mit Schlaganfall im Hirnstamm handelt das Buch „Schmetterling und Taucherglocke“ von Jean-Dominique Bauby, das bereits verfilmt wurde.
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