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Im Zeichen der Patienten

Medtech & Pharma-Platform: Kombinierte Produkte für die medizinische Versorgung
Im Zeichen der Patienten

Immer mehr kombinierte Produkte kommen auf den Markt, um eine möglichst personalisierte, präzise, flexible und kostengünstige medizinische Versorgung sicher zu stellen. Am zweiten von Medical Cluster und SFL Regulatory Affairs & Scientific Communication (SFL) organisierten Kongress “Medtech & Pharma-Platform –Combined Solutions for Patients” im Oktober wurden neue Technologien, unter anderem e- und m-Health-Lösungen, sowie klinische Entwicklungsstrategien vorgestellt, Themen wie Human Factors und Gebrauchstauglichkeit sowie Compliance-Fragen behandelt. Rund 170 Teilnehmer nutzten die neue Plattform für einen regen Best-Practice-, Informations- und Meinungsaustausch.

„Als bedeutende Schlüsselbranchen für den Gesundheitssektor und die Volkswirtschaft haben die Schweizer Pharma und Medizintechnik auch bei der Lancierung neuer Produkte sowie innovativer Verfahren weltweit die Nase vorn. Zur Entwicklung präziser(er) Diagnostik-Methoden und massgeschneiderter Therapien sowie Medikationen mit Hilfe modernster Technologien nähern sich beide Bereiche immer mehr einander an“, erklärte Shayesteh Fürst-Ladani, Vorsitzende des Programmkomitees und CEO des Beratungsunternehmens SFL. Die Bandbreite an Kombinationsmöglichkeiten wird immer größer und diversifizierter: Seien es bereits mit Arzneien vorgefertigte Spritzen, wirkstoffbeschichtete Implantate oder medizintechnisch unterstützte Applikationen für Medikamente. Auch spielt in der personalisierten Medizin die „In Vitro-Diagnostik“ mit Testprodukten, den so genannten Companion Diagnostics, zur Wahl geeigneter Patienten für bestimmte Behandlungen eine immer wichtigere Rolle. Auch Zell-Therapien fallen mit ihren Verabreichungssystemen in die Schnittstelle von Pharma, Biotech und Medtech.

Den Patienten Gehör verschaffen
Nicola Bedlington vom Europäischen Patientenforum (EPF) in Belgien betonte, dass Fortschritte im Innovationsprozess nur dank des Inputs der Patienten, unter anderem zu therapeutischen Bedürfnissen und Ineffizienzen, möglich seien. In der European Medicines Agency (EMA) bringen Patienten und Konsumenten ihre Experten-Meinung und Perspektive zu Risiken von Medizinprodukten ein und nehmen damit Einfluss in den Entscheidungsprozess der Regulatoren. Ziele sind beispielsweise der frühe Zugang zu medizinischen Neuheiten sowie der Dialog zwischen allen Stakeholdern.
Seit 2001 wirken Patienten-Vertreter bei der FDA laut Jill Hartzler als Berater mit, nehmen an den Treffen mit Herstellern teil und äußern sich zur Sicherheit von Medizinprodukten. Im Jahr 2012 schließlich hat die US-Arzneimittelbehörde ein Patientennetzwerk ins Leben gerufen, um die Kommunikation und Aufklärung über behördliche Auflagen zu verstärken. Weiter planen unter anderem EMA und FDA, ein Patienten-Cluster zu etablieren. Auch die Unternehmen selber treten vermehrt auf den Plan: Die dänische Novo Nordisk S/A fordert laut Thomas Kübler beispielsweise spezifischere Gesundheits-Fragebögen für die Patienten bei den klinischen Studien und deren vermehrten Input bei der Label-Proklamierung.
Mehr Autonomie bei Diagnose und Behandlung
Der Bedarf an kombinierten Angeboten wächst: So schätzt Ian Thompson von Ypsomed den Markt für Injektionsspritzen bis 2020 auf 225 Mrd. US-$. Nicht nur verhelfen Insulinpumpen Diabetes-Kranken zu immer größerer Autonomie, es wurden auch bei der patientengesteuerten Analgesie (PCA) mit dosierter Infusion von Schmerzmitteln große Fortschritte gemacht. Solche Plattform-Modelle sind mit einem modularen ‚Drug-Administration-System‘ ausgestattet: Via Smartphone und Bluetooth-Verbindung können die Ärzte ortsunabhängig die Patientendaten am Bildschirm verfolgen und eingreifen“, erklärt Peter R. Egli von Zühlke. Zur Selbstdiagnose bei organischen Darmerkrankungen ist es möglich, mit Hilfe einer neuartigen Kombination von Extraktionsröhrchen, Testkassette und Applikation (ähnlich wie beim Schwangerschaftstest) auch daheim Stuhlproben zu untersuchen. Und zur Behandlung von Nerven-Krankheiten ist man laut Sasa Jezernik von Altran unter anderem daran, die selektive „Deep brain stimulation“-Methode zur Feinabstimmung der Impulse durch Implantate mit geeigneter Medikation zu kombinieren.
Human Factors frühzeitig einbeziehen
Beim Design und bei der Entwicklung von Produkten spielen Human Factor-Studien eine zunehmend wichtige Rolle. Darin werden Neuheiten von Experten und verschiedenen Benutzergruppen auf ihre Leistung, Verständlichkeit (des Labels) und Anwendung hin beurteilt.
Selbst wenn ein Medizinprodukt alle technischen Anforderungen an die Nutzbarkeit erfüllt, können dennoch bei der Marktüberwachung Probleme auftreten. „Über 40 Prozent der Rückrufe sind auf schlechtes Design, ein Drittel der rapportierten Vorfälle auf falsche Anwendung zurückzuführen“, erklärte Bart Penninger vom belgischen Innovations-Center Verhaert. Er riet, die menschlichen Faktoren an der Schnittstelle zwischen Technologie, Anwenderbedürfnissen und Geschäftsinteressen („Sweet Spot of Innovation“) einzubringen. Am Beispiel der vaginalen Atrophie nach der Menopause schilderte er, wie das Produkt-Design und Geschäftsmodell aufgrund von kritischem Patientinnen-Feedback durch wiederholtes Überarbeiten und Validieren laufend vor der Marktlancierung verbessert wurde.
Der Einsatz von Medizinprodukten verschiebt sich immer mehr vom Arzt und Krankenhaus zum Patienten daheim. Gleichzeitig ist die wachsende Vielfalt der Benutzer hinsichtlich Alter, Erziehung und soziokulturellem Umfeld zu berücksichtigen. Muriel Didier von Novartis Pharma rät deshalb, Human Factor-Know-how und -Prozesse frühestmöglich in den Entwicklungs-Zyklus von Produkten zu implementieren, Experten beizuziehen sowie ein vertieftes Verständnis für den Anwender und seine Umgebung (wie Life Style und Werte) aufzubringen. Ihr Tipp an die Hersteller: Rechtzeitig alternative Designs sowie eine große Bandbreite an individuellen Benutzer-Profilen zu erstellen und wiederholt Nutzbarkeits-Studien durchzuführen.
Benutzertests und Real-World-Daten
„Mit Human Factor- und klinischen Studien können bereits viele anwenderbezogene Daten für Medizinprodukte gesammelt werden“, erklärte Lee Wood von Hoffmann-La Roche. Meist reichen nicht-klinische Benutzer-Simulationen, um hier den Validierungs-Anforderungen der FDA zu genügen. In manchen Fällen verlangt die Behörde den Nachweis so genannter „real-life patient handling experience“ anhand von Benutzer-Daten. Dabei kann das FDA-Review wiederum helfen, Verbesserungspotential im Verlauf der Studie zu identifizieren.
Wie Benutzertests und der frühe Einbezug der Behörden zum verbesserten Handling und erweiterten Einsatz eines lebensrettenden kombinierten Produkts beigetragen haben, schilderte Lars Krinelke von Sensile Medical an einem plastischen Beispiel: Zur subkutanen Verabreichung von Furosemid bei Herzinsuffizienz wurde ein neues Gerät entwickelt, das auch von Laien in Stresssituationen schnell, einfach und zuverlässig bedient werden kann. Der erste Prototyp wurde mitsamt Instruktionen in mehreren Studien von Ärzten, Pflegenden und Patienten auf seine Funktionstüchtigkeit hin geprüft. Die FDA selbst regte daraufhin an, das Gerät nicht nur für den Gebrauch beim Notfallarzt in der Klinik, sondern auch für Daheim auszurichten und dazu entsprechende Verbesserungen vorzunehmen.
Am Anlass wurde verschiedentlich aufgezeigt, dass mit sogenannten Real-World-Daten die Durchführung klinischer Studien bedeutend einfacher und kostengünstiger gehalten werden können. Gerold Labek vom deutschen Notified Body TÜV Süd erläuterte, dass dazu weltweit genügend Daten aus (Endoprothetik-)Registern verfügbar sind, die zudem ein Life-Cycle-Monitoring ermöglichen. Er empfiehlt deshalb, für die klinische Evaluation eine kombinierte Beurteilung beziehungsweise Bewertung aller verfügbaren Datenquellen.
Frühe Design- und Entwicklungsstrategien
Die rund 170 Teilnehmer erhielten von den Referenten auch praktische Tipps für die Design- und Entwicklungsstrategie bei kombinierten Produkten: Beispielsweise ist die Beschaffenheit von Kathedern, Spritzen und anderen Medizinprodukten bei Therapien mit hochempfindlichen Zellen entscheidend. „In so komplexen Verfahren tun Hersteller gut daran, von Beginn an eine kundenorientierte Strategie zu verfolgen und dazu spezifische Forschungsarbeit zu betreiben, um bei klinischen Versuchen möglichst (kosten-)effizient die Effektivität sowie Sicherheit der Behandlungen zu belegen“, riet Emmanuel Gremion der Firma Helbling.
Sollen Medikamente und Medtech-Lösungen integriert oder parallel zu einander entwickelt werden? Was davon wird selbst umgesetzt und was ausgelagert? Oliver Shergold von Forteque stellte unter anderem verschiedene Lizenzmodelle beziehungsweise Möglichkeiten von In- und Outsourcing beim Design und der Herstellung kombinierter Produkte vor. Mit der richtigen, auch auf das Produktionsvolumen abgestimmten Strategie könne beispielsweise ein Pharmaunternehmen zusammen mit dem Medtech-Partner gegenüber der traditionellen Vertriebskette Schritte einsparen und damit die Prozesse wesentlich schlanker gestalten.
Mobile Technologien auf dem Vormarsch
Rund 400 Millionen Personen leiden heute unter chronischen, nicht heilenden Wunden, deren Behandlung allein in den USA Kosten von gegen 22 Milliarden Dollar verursachen. Patricia Sigam von digitalMedLab beschrieb, wie mobile Lösungen für das Wund-Management Fachpersonen mit einfacher Datenerfassung und halbautomatischen Messung bei der Beurteilung des Wundverlaufs sowie beim Pflegeablauf unterstützen und auch zeitlich entlasten. Eine weitere auf großen Datenmengen basierende m-Health-Technologie in der Ophtalmologie stellte Lukas Scheibler von Acucela vor: Mit in Linsen eingebauten Sensoren und einem mobilen Bildgebungs- sowie Monitoring-System (inklusive 3D-Software) lassen sich Augenkrankheiten wie die neovaskulare Makuladegeneration besser erfassen, einschätzen und verfolgen, die Dosis der zu verabreichenden Injektionen genauer kalkulieren und damit möglicherweise eine vorzeitige Erblindung abwenden.
Endgebrauch entscheidend bei der Zuteilung
Bei m-health-Lösungen ist der Endgebrauch entscheidend für die Zuteilung: Als Medizinprodukte gelten mobile drahtlose Applikationen und (Stand alone-) Software, wenn sie bei der Interpretation von gesundheitsbezogenen Daten einen medizinischen Zweck (wie Diagnose, Prävention, Monitoring und Behandlung von Krankheiten) erfüllen. „In Europa fallen solche Anwendungen unter die Medical Devices- beziehungsweise In Vitro Diagnostic Medical-Direktiven (MDD und IVDD); in den USA ist seit Februar 2015 eine neue Regulierung der FDA zur Registrierung und Kennzeichnung mobiler medizinischer Applikationen in Kraft“, erklärte Ayse Baker von GE Healthcare.
Keith Williams von Formpipe, hat die Erfahrung gemacht, dass bei vielen m-Health-Projekten Anwender- beziehungsweise Kundengruppen mit unterschiedlichem Wissensbackground, inkonsistenten Terminologien und verschiedenen regulatorischen Anforderungen auf einander stoßen. Zusätzlich erschweren der schnelle Wandel der Technik und die grossen Datenmengen die Compliance-Arbeit. „Erfolgsentscheidend ist, dass Anbieter und Abnehmer gut zusammenarbeiten, beispielsweise gemischte Expertenteams einsetzen, und dass die Prozesse, Wissenschaften, Materialien und Technologien hinter den mobilen Applikationen bekannt sind“, so Williams.
Komplexer mit mehr Komponenten
Wie allein m-Health-Lösungen zeigen, werden kombinierte Produkte technisch immer ausgeklügelter, können aus bis zu 30 Komponenten bestehen und sind deshalb komplexer als Arzneien und Medizinprodukte für sich betrachtet. Dies stellt Unternehmen beider Branchen auch regulatorisch vor zusätzliche Herausforderungen, die den gesamten Life-Cycle betreffen: Allein vor der Markteinführung müssen mit präklinischen und klinischen Versuchen die Qualität, Wirksamkeit und Sicherheit eines Arzneimittels beziehungsweise mit technischen Tests und klinischen Bewertungen die Sicherheit und Leistung/Wirksamkeit des Medizinprodukts gemäss den jeweiligen Richtlinien evaluiert werden.
Für die Klassifikation eines Kombinations-produkts und die anwendbaren Richtlinien sind der beabsichtigte medizinische Zweck sowie die Natur des Wirkungsmechanismus entscheidend. Demnach fallen Medizinprodukte die auch Arzneimittelsubstanzen enthalten (wie beispielsweise beschichtete Stents), aber den Zweck primär durch technische oder physikalische Wirkung erreichen, in den Medtech-Bereich. Hingegen zählen Arzneimittel mit einem Verabreichungsgerät zur Pharma, wenn dabei das Medizinprodukt nur eine „Trägerfunktion“ hat und der Zweck hauptsächlich durch die pharmakologische, chemische, metabolische beziehungsweise immunologische Wirkung der Substanz erzielt wird. „Zusätzlich erschwert der Einsatz von Smartphones und Software, von Nanotechnologien, neuer Plattformen zur Wirkstoffverabreichung und anderen Innovationen die Klassifizierung kombinierter Produkte“, erklärte Xavier Luria von SFL und empfiehlt eine Fall-zu-Fall-Betrachtung sowie den frühen Einbezug der Regulatoren.
Verstärkte Regulierungen
Zu berücksichtigen ist auch, dass voraussichtlich im 2. Quartal 2016 eine striktere EU-Neuregulierung für Medizinprodukte (Medical Device Regulation) verabschiedet wird. Im Fall von Companion Diagnostics (CDx) wird dann die In Vitro Diagnostics Directive (IVDD) durch die IVD Regulation abgelöst. Dies bedeutet, dass frühestens ab 2019 (spätestens 2021) neue und rückwirkend bestehende CDx für die CE-Markierung ebenfalls klinische Studien durchlaufen müssen und zusätzlich zu den Benannten Stellen (Notified Bodies) höchstwahrscheinlich auch die Einbindung einer Arzneimittelbehörde verlangt wird. Anna Hallersten von EuropaBio mahnte, eine Duplikation des regulatorischen Aufwands durch beide Seiten zu vermeiden.
Die FDA unterhält seit 2002 ein Office of Combination Products (OCP), das Regulierungen und Leitlinien erarbeitet. Hier werden eingehende Produkte innerhalb von 60 Tagen wissenschaftlich beurteilt, definiert und entweder den entsprechenden Kategorien wie Arzneimittel oder Medizinprodukte zugeteilt. Allein 2014 hat das OCP laut Jill Hartzler 310 Eingaben und 650 Anfragen zur Hilfestellung beim Pre-Market-Review bearbeitet. Dabei handelte es sich vor allem um Abgabe- und elektronische Monitoring-Systeme für Medikamente sowie mobile Applikationen für den Einsatz von Medikamenten. Swati Bhat von der englischen Aufsichtsbehörde MHRA (Medicines & Healthcare Products Regulatory Agency), zeigte die Komplexität des Review-Prozesses – von der klinischen bis zur Postmarkt-Phase – für kombinierte Produkte: „Trotz der wachsenden Herausforderungen, die mit der Harmonisierung der vielen Regularien verbunden sind, gilt es diese voranzutreiben, um die Bedürfnisse der Patienten zu erfüllen“, betonte sie auf der Veranstaltung.
Kathrin Cuomo-Sachsse Fasmed, Muri b. Bern
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