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Technik an den Menschen anpassen

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Technik an den Menschen anpassen

Altersmedizin | Neue Sensoren, bessere Diagnose-Tools oder einfacher zu bedienende Medizinprodukte – der demografische Wandel wird in den nächsten Jahren verstärkt technische Lösungen hervorbringen müssen, die den Bedürfnissen des Menschen angepasst sind. Der Markt beschäftigt Mediziner, Forscher und Hersteller.

Die alternde Gesellschaft eröffnet viele neue Chancen und Geschäftsfelder für die Gesundheitswirtschaft. Insbesondere das Zusammenwachsen von Querschnittstechnologien, wie zum Beispiel den Informations- und Kommunikationstechnologien, der Optik oder der Mikrosystemtechnik mit den klassischen Life-Science-Technologien wird dafür genutzt. Kurze Liegezeiten im Krankenhaus, postoperative Überwachung im eigenen häuslichen Umfeld und chronisch kranke Patienten sind nur einige Bereiche, in denen digitale Technologien das Leben einfacher machen werden.
Die Gerontotechnik beschäftigt sich mit der Entwicklung von innovativen Technologien, die altersgerecht an die Bedürfnisse der Senioren angepasst sind und die die Selbstständigkeit älterer Menschen erhalten sollen. Darüber hinaus werden Bausteine für eine alters- und behindertengerechte Hausautomation entwickelt oder Roboter, die bei der Pflege assistieren können. „Die Gerontotechnik ist gegenwärtig ein sehr weites Feld, auf dem es neben zahlreichen seriösen Ansätzen auch überflüssige Life-Style-Produkte gibt“, sagt Dr. Jürgen Bauer, Direktor der Universitätsklinik für Geriatrie und Leiter des Geriatrischen Zentrums Oldenburg (GZO). Die seriösen Ansätze fallen seiner Ansicht nach meist unter den Begriff „Quality of Life Technology“: intelligente Technikentwicklungen, die darauf zielen, die Lebensqualität ihrer Anwender zu verbessern.
Vor diesem Hintergrund ergeben sich als Handlungsfelder für die technischen Entwicklungen die körperliche und mentale Gesundheit des älteren Menschen, seine Mobilität und seine bevorzugten Alltagsbeschäftigungen sowie seine soziale Einbindung. „Nur durch eine starke Fokussierung auf Versorgungsziele, die aus der Sicht des Anwenders relevant sind und seine Lebensqualität sichern oder verbessern, wird sich ein signifikanter Nutzen für den einzelnen und für die Gesellschaft erzielen lassen“, betont Bauer. Dies müsse das gemeinsame Ziel aller Disziplinen sein, die in der Gerontotechnik forschen. „Reine Machbarkeitsstudien zu technikverliebten Produkten tragen langfristig nichts bei“, so der Experte.
Zur Orientierung am Anwender zählt seiner Meinung nach eine regelmäßige Analyse der Akzeptanz während der Entwicklung gerontotechnischer Produkte. So konnte gezeigt werden, dass es bei älteren Menschen eine hohe Akzeptanz für ein elektronisches Monitoring in ihrer häuslichen Umgebung gibt, wenn sie ein hohes Risiko haben, sich in ihrer Mobilität oder anderen Funktionsbereichen zu verschlechtern. Das Monitoring ermöglicht in einem solchen Fall, länger möglichst selbstständig zu Hause leben zu können. Erforscht wird derzeit ein langfristiges Monitoring von Risikopatienten in deren häuslicher Umgebung. Dieses ermöglicht behandelnden Ärzten, einen gefährdeten Patienten frühzeitig zu erkennen und zu behandeln – nicht erst, wenn ein Sturz mit Verletzungsfolgen die eigentliche Erkrankung erst offenbart. „Die Erwartungen an die Gerontotechnik sind groß“, resümiert Geriatrie-Experte Bauer. „Es gilt kritisch zu prüfen, ob sie diese in den nächsten Jahren zumindest teilweise erfüllen kann.“
Die steigende Lebenserwartung der europäischen Bevölkerung hat für die Altersmedizin immer stärkere Auswirkungen. Bis zum Jahr 2030 wird sich in Europa der Anteil der Menschen, die älter als 65 Jahre sind, von derzeit 25,9 % auf 35,9 % erhöhen. Schon heute sind die Pro-Kopf-Ausgaben bei den 66- bis 86-Jährigen infolge vermehrter Krankenhaus-Aufenthalte fast doppelt so hoch wie bei jüngeren Patienten. Die Produkte und technologischen Anforderungen, die der demografische Wandel in den nächsten Jahren mit sich bringt, müssen sich dabei an den Menschen anpassen.
Dass der Bedarf an technischen Unterstützungssystemen für ältere Menschen wächst und dieser Markt bedient werden muss, hat auch die Bundesregierung erkannt. Mit insgesamt 19,5 Mio. Euro unterstützt das BMBF die Innovationscluster Be-Mobil und Kogni-Home.
Gerontotechnik muss sich am Anwender orientieren
Umfragen haben ergeben, dass mehr als drei Viertel der 65- bis 85-Jährigen möglichst lange in ihrem eigenen Haus oder in ihrer eigenen Wohnung bleiben wollen. Technische Unterstützungssysteme können ihnen dabei helfen. Das Projekt Kogni-Home beispielsweise erforscht, wie mit neuen Technologien der Wohnalltag erleichtert werden kann: Der Garderobenschlüssel erinnert an den Schlüssel, der Herd warnt, bevor die Milch überkocht und der Avatar Billie unterstützt als digitaler Ansprechpartner Senioren mit kognitiven Beeinträchtigungen bei alltäglichen Aufgaben. Er erinnert an Termine und die Medikamenteneinnahme, hilft bei der Tagesplanung oder lädt zur Videotelefonie mit Freunden oder Verwandten ein. Koordiniert wird der Innovationscluster Kogni-Home vom Exzellenzcluster Kognitive Interaktionstechnologie (CITEC) der Universität Bielefeld, beteiligte Unternehmen sind Miele, Hettich, Hella und DMW Schwarze.
Die Forscher von Be-Mobil entwickelten einen technischen Physiotherapeuten, der den Menschen rund um die Uhr begleiten und in der Bewegungstherapie unterstützen kann. So soll eine neue Orthese motorisch eingeschränkten Menschen künftig dabei helfen, die eigenständige Bewegungsfähigkeit und Alltagsmobilität wiederzuerlangen. Die Orthese erfasst die Bewegungen des Patienten und erkennt nachteilige Verhaltensmuster, die zu Stürzen oder Folgeerkrankungen führen können. Der Patient erhält dann gezielt Rückmeldungen und Hilfestellungen. Zum Innovationscluster Be-Mobil gehören neben wissenschaftlichen Partner wie TU Berlin und der Charité – Universitätsmedizin Berlin und die Humboldt-Universität auch Industriepartner wie Ottobock, Medilogic und Hasomed.
Um Gesundheit und Fitness zu steigern, setzen auch immer mehr Menschen auf Wearable Technologies. Die nützlichen Helfer für die Gerontologie werden am Körper getragen und messen beispielsweise körperliche Aktivität. Eine trainingsunterstützende Kontrolle von Bewegungsabläufen könnten Sensoren in funktionellen Kleidungsstücken leisten. Das Fraunhofer ISC aus Würzburg hat dafür ein transparentes Material für Sensoren entwickelt, das sich einfach auf Textilien drucken lässt und Bewegung misst. Zusammen mit dem Fraunhofer ISIT, Izehoe, wird an einem ersten Shirt mit der entsprechenden Sensor-Technologie gearbeitet. Dabei werden die Wissenschaftler durch Vertreter aus der Industrie beraten. Das sogenannte „Moni“-Shirt soll verschiedene Funktionen erfüllen und ist für die Überwachung von Bewegungsabläufen gedacht.
Sensoren unterstützen bei der Pflege oder im Alltag
Im ersten Schritt hat das Fraunhofer ISC neuartige piezoelektrische polymere Druckpasten ohne toxische Lösungsmittel für die Sensorik entwickelt, das Fraunhofer ISIT erarbeitete die dazugehörige Auswertungselektronik. Die verwendeten Sensoren erzeugen ihren Strom selbst, sind flexibel, transparent und könnten für verschiedene Zwecke genutzt werden: Sie registrieren Druck und Verformung und können so als Touch- oder Bewegungssensoren eingesetzt werden. Die zusätzliche Temperatursensitivität ermöglicht darüber hinaus auch eine Überwachung der Körpertemperatur. Da die Sensoren um ein vielfaches dünner als ein Haar sind und sehr fein in beliebiger Form aufgetragen werden können, sind sie für den Träger des Kleidungsstücks kaum spürbar.
Textilien mit entsprechender Sensorik könnten sich nach Angaben der Forscher in der Pflege oder für ältere Menschen im Alltag für das Monitoring von Bewegungsabläufen hilfreich sein. In Krankenhäusern könnten die Textilien mit Sensorik neben Bewegungsüberwachung auch die Kontrolle der Körpertemperatur und der Atmung beispielsweise für bettlägerige Patienten übernehmen. Denkbar wäre in Zukunft auch die Überwachung des Herzschlags, so die Forscher.
Gerontotechnik ist aber auch bei der Weiterentwicklung klassischer Medizinprodukten wie beispielsweise den Implantaten gefragt. Während am Anfang das Knie nur bei manchen Bewegungen schmerzt, wird später jeder Schritt zur Qual: Die Kniearthrose ist der degenerative, also altersbedingte Verschleiß des Gelenkknorpels, bei dem das Gelenk seine Gleiteigenschaften verliert. Statt durch eine intakte Knorpelschicht abgepuffert, reibt sich dann Knochen auf Knochen. Dies verursacht nicht nur die typischen Arthroseschmerzen, sondern führt auch nach und nach zu krankhaften Veränderungen am Knochen. Häufig hilft dann nur noch eine Knie-OP; und inzwischen gehört die Implantation einer Knieendoprothese zu den häufigsten Eingriffen in der Orthopädie.
Neben den Herz-Kreislauf- und Gefäßerkrankungen gehört die Arthrose zu den häufigsten Krankheitsdiagnosen im Alter. Rund 150 000 künstliche Kniegelenke werden jährlich eingesetzt. Tendenz steigend. 80 % der Ersteingriffe an der Hüfte und rund 96 % am Knie gehen auf meist altersbedingten Gelenkverschleiß zurück, so der Bundesverband BVMed. Zweithäufigster Grund der Hüft-Operationen sind in 12,5 % der Fälle Oberschenkelhals-brüche, also ebenfalls altersabhängige Vorfälle. Demzufolge sind rund 40 % der Patienten bei einem Ersteingriff zwischen 70 und 79 Jahre alt.
Auf den Wachstumsmarkt Gelenkersatz setzen Hersteller wie die Ohst Medizintechnik AG aus Rathenow: Rund 180 000 Teile für Gelenkimplantate und chirurgische Systeme stellt das eigentümergeführte Unternehmen jährlich her. 1937 als Handwerksbetrieb für die optische Industrie gegründet, konzentriert sich das Unternehmen mehr und mehr auf Fertigung von Gelenkimplantaten wie das Zen-Knie-System. Der künstliche Gelenkersatz besteht aus vier Komponenten, die in mehreren Varianten und Größenabstufungen zur Verfügung stehen: eine Femur-Komponente, ein Insert, eine Tibia- und eine Patella-Komponente. Das Implantatsystem wurde nach dem neuesten Stand der Technik entwickelt und getestet und ist, so Stephan Dunke, im Ohst-Vorstand zuständig für den Verkauf und die Produktentwicklung, für eine möglichst knochenschonende OP-Technik ausgelegt.
Mit gerontotechnischen Lösungen und Therapien, die zum Menschen passen, beschäftigen sich aber nicht nur die Hersteller von Medizinprodukten, sondern auch Geriatrie-Experten, wie die Berliner Forschungsallianz Dynage. Hier forschen Wissenschaftler der Freien Universität gemeinsam mit medizinischen Experten der Charité – Universitätsmedizin Berlin, des gemeinsamen medizinischen Fachbereichs der Freien Universität und der Humboldt-Universität. Beim Thema Alterserkrankungen und ihren Auswirkungen auf die Gesellschaft sind die Wissenschaftler zudem auf moderne Medizintechnik angewiesen: Es besteht ein großer Bedarf an innovativen diagnostischen Methoden, individualisierten Therapien sowie telemedizinischen und E-Health-Anwendungen.
Querschnittstechnologien eröffnen neue Geschäftsfelder
Eines der Dynage-Projekte, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird, zielt darauf ab, den Gelenkverschleiß im Knie zu stoppen. 240 Männer und Frauen zwischen 40 und 80 Jahren mit beginnender Gonarthrose absolvieren dafür ein Muskeltraining mit dem Vibrationsgerät Galileo. Das Gerät wurde in der so genannten Bedrest-Studie bekannt: Wissenschaftler des Zentrums für Muskel- und Knochenforschung (ZMK) der Charité testeten dabei, ob mit der Galileo-Rüttelplatte Muskeln gezielt aufgebaut werden können, um Osteoporose vorzubeugen. Um herausfinden, welche Signale zur Degeneration und welche zur Regeneration des Knorpels führen, werden dabei die Interaktionen zwischen Knorpel und Knochen untersucht.
„Mit den heutigen bildgebenden Verfahren können wir aber bislang nicht differenzieren, ob Veränderungen degenerativer oder entzündlicher Natur vorliegen oder ob sie krankhaft verändert sind“, erläutert ZMK-Leiter Prof. Dieter Felsenberg im Rahmen einer Initiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Kernspin sei schon ganz gut, aber es brauche eine bessere Differenzierung in der Diagnostik, um pathophysiologische Prozesse genauer feststellen zu können. Mit hochauflösenden Ultraschall-Prototypen analysieren die Wissenschaftler, wie der Gelenkknorpel zusammengesetzt ist. Eine weiterführende Diagnostik könnte den Medizinern die Beobachtung, wie sich der Knorpel unter einer mechanischen oder pharmakologischen Therapie verändert, erleichtern. Aus der Kombination von bildgebenden Verfahren mit speziellen IT-Programmen ließen sich zudem bessere Analyse- und Differenzierungsmöglichkeiten ergeben. „Hier sind Medizintechnik-Firmen gefordert, sich Gedanken zu machen.“
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