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In zehn Jahren geht nichts mehr ohne

Generative Fertigung: Mehr Funktionen ins Werkzeug – von Entlüftung bis Temperierung
In zehn Jahren geht nichts mehr ohne

In zehn Jahren geht nichts mehr ohne
Dr. Bernhard Müller leitet die Gruppe Generative Fertigungsverfahren am Fraunhofer IWU in Dresden und war unter anderem als Entwicklungsleiter in einem Unternehmen mit eigenem Formenbau tätig
Noch ist die generative Fertigung im Werkzeug- und Formenbau eher der Exot. Aber sie bietet so viele Möglichkeiten, dass nach Ansicht von Dr. Bernhard Müller vom Fraunhofer IWU in ein paar Jahren kein Werkzeug mehr ohne sie auskommt.

Herr Dr. Müller, die generative Fertigung ermöglicht Spritzgießwerkzeuge mit Funktionen wie der konturnahen Kühlung. Wie häufig werden diese Möglichkeiten Ihren Erfahrungen nach schon genutzt?

Obwohl die Idee schon vor Jahren vorgestellt wurde und es viele erfolgreiche Einsatzbeispiele gibt, hat sich die generative Fertigung im Werkzeugbau noch nicht flächendeckend durchgesetzt. Das hat vor allem zwei Ursachen. Zum einen sind die Kosten für generativ gefertigte Werkzeuge immer noch höher als die für konventionell gefräste. Zum anderen gab es in der Praxis einige Rückschläge wie die Leckage von Kühlmittel in die Kavität oder zu niedrige Abformzahlen in der Serie, was immer noch abschreckend wirkt. Solche Effekte traten aber entweder relativ früh auf, als die Lernkurve noch nicht weit fortgeschritten war – oder in jüngerer Zeit, wenn ein Unternehmen den Einstieg in diese Technik nicht sorgfältig vorbereitet hat und daher nicht zum optimalen Ergebnis kommt. Mit den heute vorliegenden Erfahrungen erreicht man aber mit generativ gefertigten Werkzeugen sehr gute Resultate.
Welche Vorteile bieten sich dadurch?
Im Spritzguss ist der wichtigste Vorteil, dass zum Beispiel mit der konturnahen Kühlung die Wärme so gleichmäßig und schnell abgeführt werden kann, dass die Zykluszeiten deutlich sinken: Ich weiß von Anwendungen, in denen die Gesamtzykluszeit um 20 bis 30 Prozent sank. Das macht sich finanziell natürlich bemerkbar. Mit der konturnahen Kühlung lässt sich auch die Qualität der gefertigten Teile verbessern, da im konstant und reproduzierbar geführten Prozess weniger Deformationen und Maßabweichungen auftreten. Aber auch im Umform- und Schmiedebereich senken generativ gefertigte Werkzeuge die Zykluszeiten und lassen sich sogar beim Herstellen hochfester, crashrelevanter Teile für den Automobilbau einsetzen.
Für welche Art von Bauteilen sind Zusatzfunktionen, die die generative Fertigung ermöglicht, besonders interessant?
Wo ein Spritzgießer oder Formenbauer mit den konventionellen Fertigungsverfahren an seine Grenzen kommt, lohnt es sich, über die generative Fertigung nachzudenken. Häufig geht es dabei um Teile mit lokalen Masseanhäufungen oder um komplexe Bauteile, bei denen man auch mit Tieflochbohrungen die Kühlkanäle nicht an die entscheidenden Stellen heranführen kann. Generativ geht da viel mehr: Wir können die Kanäle beliebig führen und der Kontur der Kavität mit wenigen Millimetern Abstand folgen. Der englische Begriff des ‚conformal cooling‘ bringt das sehr gut zum Ausdruck. Wir können die Kanäle auch im Durchmesser variieren, bis hinunter auf 1,5 Millimeter, was für spezielle Anwendungen mit Luftkühlung in Frage kommt. Aber Kühlung ist eben nur ein Aspekt. Die generative Fertigung ermöglicht auch, viele andere Funktionen in ein Werkzeug zu integrieren.
Welche Möglichkeiten bieten sich noch?
Neben der Kühlung lassen sich Werkzeuge auch erwärmen, was für die Verarbeitung faserverstärkter Kunststoffe interessant ist. Wir können poröse Bereiche im Werkzeug herstellen, in die keine Kunststoffschmelze eindringt, durch die aber die Luft beim Füllen der Kavität entweichen kann. Wir können auch Schmierstoffe zuführen. Und es lassen sich Sensoren und Aktoren ins Werkzeug integrieren, mit denen sich der gesamte Prozess intelligenter gestalten lässt: Statt eine festgelegte Zykluszeit vorzugeben, kann sich das Werkzeug dann öffnen, sobald eine vorgegebene Temperatur im Inneren erreicht ist.
Das klingt, als ob die generative Fertigung das Zeug zum Allheilmittel hätte.
Sie bietet im Werkzeugbau tatsächlich sehr viele neue Möglichkeiten, die wir noch nicht ausschöpfen. Man sollte aber vorsichtig sein und in der generativen Fertigung keine Lösung für den Notfall sehen. Wer unter Zeitdruck versucht, damit ein Problem aus der Welt zu schaffen, wird wahrscheinlich nicht zum bestmöglichen Resultat kommen und enttäuscht sein.
Wo liegen heute die Grenzen?
Eine echte Grenze gibt es bei der Größe des Werkzeugs und den Kosten. Maße von 250 mal 250 mal 280 Millimeter sind derzeit das Maximum. Die Mehrkosten lassen sich aber mit hybrider Fertigung, also der Kombination konventioneller mit generativen Verfahren, erheblich reduzieren.
Welches Vorgehen empfehlen Sie den Unternehmen für den Einstieg in die Technik?
Man muss das Thema meiner Erfahrung nach strategisch anpacken. Ideal ist sicher, wenn man schaut, für welche Bauteile im Protfolio neue Funktionen im Werkzeug interessant sind. Um die erhofften Verbesserungen dann in der Praxis zu erreichen, empfiehlt es sich, bei der Auslegung Simulationsmethoden zu nutzen und das jeweils aktuelle Werkzeug weiter zu optimieren. Das kann mit Hilfe eines erfahrenen Dienstleisters erfolgen, der vielleicht sogar das neu entwickelte Werkzeug herstellt. Eine eigene Anlage für die generative Fertigung lohnt sich sicher nicht für jedes Unternehmen. Denn damit Anschaffung und der Aufbau des Know-hows sich rechnen, muss eine gewisse Auslastung gegeben sein. Umgekehrt bietet die generative Fertigung so viele Möglichkeiten, dass ich jeden ermutigen möchte, sich damit zu befassen und aus ersten Fehlern zu lernen. Leider kommt es nicht selten vor, dass ein Projekt gleich wieder gestoppt wird, weil die ersten Ergebnisse nicht den hohen Erwartungen entsprechen.
Ist denn diese Art der Werkzeugherstellung so schwierig zu handhaben?
Im Grunde ähnelt vieles den konventionellen Verfahren. Wir verwenden zwar nicht den klassischen kohlenstoffhaltigen Werkzeugstahl, sondern einen kohlenstofffreien martensitisch härtenden Stahl. Aber die erreichbaren Härten sind vergleichbar, und er verhält sich auch beim Zerspanen ähnlich. Die Gefügedichte ist so hoch, dass die Werkzeugoberflächen nach dem Fräsen praktisch porenfrei sind und durch Handpolieren Hochglanzoberflächen erzielt werden können. Es empfiehlt es sich aber dennoch, das neue Verfahren mit Unterstützung von Erfahrungsträgern zu starten.
Welche Bedeutung wird die generative Fertigung im Werkzeugbau zukünftig haben?
Wegen der vielen Vorteile wird es in zehn Jahren sicher kaum noch ein Werkzeug geben, das ohne generativ gefertigte Elemente auskommt.
Dr. Birgit Oppermann birgit.oppermann@konradin.de
Weitere Informationen Am Fraunhofer IWU werden generative Verfahren genutzt, um Werkzeuge für Spritzguss, Umformen und Schmieden herzustellen. http://bit.ly/1FQBzs0 Darüber hinaus laufen Projekte zur generativen Fertigung von Medizinprodukten sowie zur Weiterentwicklung der generativen Fertigungsverfahren.

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